Hella Mohr

Briefe von Marie Kurz an Marie Caspart



Auszüge aus

Band I hier ...

Band II

2. Januar 1876

Meine liebe theure Marie!

Ich hätte Dir längst wieder geschrieben, aber ich komme seit Edgar zurück ist an gar nichts mehr, weil er mich immer bei sich haben will, außerden war ich auch so viel mit Zahnweh geplagt, daß ich unfähig zu allem war. Wir haben die Weihnachtsfeiertage auch traurig und gedrückt zugebracht, denn wenn jedes von uns auch nicht so einsam in der Welt steht wie Du, weil wir uns gegen- seitig noch haben, so ist eben doch die belebende Seele unseres Kreises geschieden.

Ich bin innerlich sehr ungeduldig darüber, daß sich Dein so jahrelang ersehnter Besuch so sehr verzögert. Noch ist niemand bei uns, aber allerdings kann Martha Bareis alle Tage von Lindau aus bei uns eintreffen. Ihre Mutter schrieb mir sie wolle nur einen milderen Reisetag abwarten. Ich hätte Dich so gerne je bälder je lieber bei uns gehabt. Doch glaube ich nicht, daß Martha über 8 Tage bei uns bleiben will, da sie zu Maiers nach Stuttgart geht.

Zu wem sollst Du denn nach Landau? Das Reisen ist Dir jedenfalls gut, denn wenn wir noch so traurig, noch so abgestorben für alles sind, unwillkürlich empfängt unser Auge die ungewohnten Eindrücke und sie wirken erfrischend auf den Geist.
Ich habe das auch auf dem Bodensee empfunden, so sehr ich mich vorher dagegen sträubte. Die Nachricht die du mir über Hemsen gegeben, daß er bei Heyse darauf dringen wolle, daß endlich etwas von Deinem Onkel im "Novellenschatz" kommt, war mir sehr erfreulich. Hopf ist das auch Hermanns Andenken schuldig. Nur möge Hemsen sich eilen bevor die ganze Geschichte aufhört. Heyse hat mir nämlich Heyse hat mir nämlich schon vor einigen Wochen geschrieben, daß es mit dem "Novellenschatz" schlecht stehe, der Verleger habe für 5 000 Thaler Krebse, und er werde wahrscheinlich mit dem Jahr 1875 die Sache beschliessen. Die Nachricht war in doppelter Beziehung für uns erschreckend, denn unsere Existenz hängt doppelt von dem Unternehmen ab, in dem ausländischen konnte Isolde ihre Übersetzungen anbringen und der inländische machte mein Einkommen aus, denn Heyse ließ mir den ganzen Gewinn, d.h. auch seinen Theil zukommen. Es ist mir sehr drückend nun auch noch auf andere Weise dem Freund zur Last zu fallen. Ich lege Dir hier einen Brief Heyses bei, der Dich vielleicht interessiert und der vielleicht auch für Hemsen Anhaltspunkte gewährt. Hebe mir ihn gut auf, denn da er an Hermann geschrieben ist ist er mir von größtem Werthe.

Ich habe gegenwärthig auch wieder etwas Trauriges zu durchleben. "Edgars früherer Lehrer, dem er vielen Dank schuldig ist, Prof. Luschka, auch ein treuer Freund und begeisterter Verehrer Her- manns, liegt seit 8 Tagen im Sterben an der Brightschen Krankheit."
[Rest (eine halbe Seite fehlt auf der festplatte]

Frühjahr 1876

Meine liebe Marie!

Du wirst nun lange wieder von St. zurück sein. Hoffentlich hast Du ein bisschen mehr Ruhe mitgebracht, Du armes Herz! Deine Sorgen gehen auch nie aus. Wir traurig ists für uns beide, daß wir den Rest unserer Tage nicht verknüpfen konnten, es hätte jedes leichter an seiner Last getragen! Was ist denn eigentlich mit Deinem Bruder Eduard? (A.) Du hast doch mehrere Brüder und doch auch keine Stütze! Es ist traurig, dass der Lebensabend des Menschen fast immer so trübe ist, wenn aber dieses Verlassensein, diese Freud- losigkeit schon in Deinem Alter als chronisches Übel sich festgesetzt hat, so ist es doppelt traurig.

Mit Deiner Tante steht Dir natürlich auch nur Trauriges bevor und so wenig ihr harmoniert, so wird ihr Tod Dich doch einmal schmerzen. Ich war fast den ganzen Winter leidend, was mir aber schwerer war, das war Baldes beängstigter Zustand. Jetzt ists wieder besser. Seit April ist Erwin in München, wo es ihm sehr gut geht. Er logiert bei Brinz, ist bei Bareiß in der Kost und isst an den Sonntagen bei Heyse. Wo ich das Geld hernehme für seine Studien weiß ich noch nicht. Der treue Freund Hopf, der selbst nichts mehr hat, will mich nicht im Stich lassen und es mir borgen. Vielleicht schlag ich aber doch noch bei Kröner Geld für Hermanns Werke heraus? In ein paar Tagen geht Isolde nach München um Erwin zu besuchen, da ich mich nicht von Balde zu entfernen getraue. Ich gehe dann mit ihm nach Calw, damit er sich von der sibirischen Kälte dort erholt im Frühling.

Josephine ist auch noch nicht ganz wieder hergestellt worden und Alfred hat sich ein schweres Magenleiden, eine Magenerweiterung zugezogen, die ihm viel zu schaffen macht. Du siehst die Sorgen sind uns viel gemeinsam. Zu allem hab ich auch immer noch die Frau Heinrich hier im Krankenhaus, die ich unterhalten und erheitern soll. Seit 4 Wochen will Heyse täglich mit seiner Frau kommen, kann aber schließlich nicht wegen dem schlechten Wetter.- Weißt Du zur Entschädigung eines Wisches, sende ich Dir zwei Briefe Deines Onkels, die ich nachträglich noch gefunden. Sage mir dafür was von Hermann, wenn Du etwas weißt. Weißt Du nich, in welche von Justinus Kerners Töchtern Hermann einmal verliebt war? (siehe Isoldes Notiz) Das war freilich lang vor deiner Zeit, aber gehört hast Du doch vielleicht davon? - Ich habe so heftigen Cartharr, daß mir das Schreiben nicht länger möglich ist. Nimm unsere besten Grüße und laß bald von Dir etwas Besseres hören und sei herzlich geküßt von
Deiner Marie
Dienstag

Mittwoch. Noch bevor ich meinen gestern geschriebenen Wisch abgeschickt hatte kam Deine Kiste liebe Marie. Mit tiefer Wehmuth packte ich Kleider aus, sie machten mir Deinen Onkel wieder so gegenwärthig, wie wenn er vor mir stünde. Es war mir fast wie eine Entweihung als die Kinder danach so freudig griffen. Aber warum gibst Du mir denn so viel? Gebrauchen können sie freilich alles. Und ich habe zum ersten mal diesen Sommer ein paar baumwollene Strümpfe an, von denen ich bis diesen Morgen nicht ein einziges Paar besaß! Ich sage Dir also meinen besten Dank, liebes Herz für Dein Geschenk und die Mühe, die Du Dir mit dem Packen und Versenden gemacht hast. Wohin soll ich die Kiste schicken? Wer wohnt denn im Sachsenheimer Schloß?

Von Calw will ich Dir noch mehr schreiben, man ist keine Mensch mit einem solchen Schnupfen. Leb wohl und tausend Dank
Deine Marie
(Anm.: Eduard Caspart, Pfarrer geb. 7. 5.1827)

18. 2. 1876

Tübingen
Meine liebe Marie!

Verzeih mein langes Stillschweigen, aber es war mir nicht möglich zu schreiben. Ich war inzwischen eine Zeitlang sehr leidend. (großer Blutverlust wohl der Beginn der Naturveränderung) Dann kam meine Reise nach Calw, wo ich mehrere Tage bei meinem sehr leidenden Freund Hopf zubrachte, den ich mit großer Sorge verließ, Hierauf kam Anna Dulk auf 8 Tage zu uns. Als sie ging reiste ich mit ihr nach Stuttgart, wo ich ein paar Tage krank darniederlag und im ganzen 8 Tage blieb, um die Zukunft Erwins mit den Freunden zu besprechen. Haußmann scheint mir geneigt so viel Geld vorzustrecken, daß ich ihn nach München runterbingen kann, doch ist alles noch in der Schwebe. Ich muß ihm jetzt jedenfalls einmal eine Aussteuer richten, da ich ihn nicht wie einen Handwerksburschen mit zwei Hemden abziehen lassen kann. Daß das in meinen Verhältnissen nicht leicht ist, kannst Du Dir denken, auch nimmt es meine Zeit sehr in Anspruch, da ich viel selber nähe.

Isolde ist nun mit ihrer anstrengenden Arbeit zu Ende, ist aber so elend und mager darüber geworden, daß sie nun sehr gepflegt und geschont werden muß. Ich war in Stgt. bei Hemsen, der mir immer besser gefällt, besonders seit ich weiß, daß er kein Verherrlicher des Preußenthums ist, und ich ihn mit tiefem Schmerz über die drohenden Kriege reden hörte. Er ist ein durchaus humaner Mensch. Von der Absicht Auerbachs wußte er nichts. Was die Notizen betrifft, so meine ich, Du solltest alles was Du weißt niederschreiben, eine Art Biographie von der ersten Zeit Deiner Erinnerung an, so daß Keller daraus das ihm Passende schöpfen kann. Auch die verschiedenen Epochen von der Entstehung der Novellen, Gedichte und Dramen würde ich anführen, ebenso seine philosophische Richtung, auch die politischen Sympathien und Antipathien, damit der ganze Mann daraus hervorgeht. Ich weiß das ist nicht leicht, aber es ist eine trös- tende und zerstreuende Aufgabe in Deiner Einsamkeit. Ich habe Kellers nichts über Deine Stimmung gesagt, nur von Deinem körper- lichen Unwohlsein gesprochen. Ich dachte mir es aber längst, daß die Verpflanzung in diese Kaufmannswelt und Geldprotzenthum Dir nicht behaglich sein könne. Wie wäre es so gut für uns beide ge- wesen, wenn wir die Ruinen unseres Lebens hätten zusammen tragen können. Ich weiß freilich nicht wie lange ich hier werde bleiben können und wohin mich der Sturm des Lebens verschlägt. Bei Tafels war ich nur zweimal und jedesmal nur ein halbes Stündchen. Helene ist sehr viel unwohl, es heißt sogar sie leide auf der Lunge. Die junge Helene Flattich hat mich ganz entzückt. Ich finde sie ebenso reizend wie liebenswürdig. Sonst traf ich nicht viel Erfreuliches. Pfau ist ein recht alter Mann geworden, schweigt noch mehr als früher. Vollmer lag schwer mit Gicht darnieder, und Freiligrath ist hoffnungslos. Er hat eine Herzverfettung mit Wassersucht. Welchem Leiden und welch trostlosem Zustand ist Hermann doch durch seinen schnellen Tod entgangen."

Isolde will in 14 Tagen wieder nach München, um wieder andere Menschen zu sehen und sich vielleicht auch einmal wieder erinnern, daß sie noch jung ist. Daß ihr eine so große Freude zerstört und ihr durch den Tod ihres Freundes St., der so freundlich und zuvor- kommend gegen sie war ein großer Schmerz bereitet wurde, hast Du vielleicht erfahren. Nun ist ihr Leben doch fast gar zu ernst und einförmig geworden, das Reiten war ihr eine wahre Wonne."

Ich sehe mit heißen Schmerzen meinen Erwin scheiden und suche noch jede Stunde zu genießen und sie gleichsam festzuhalten, die er unter meinem Dache zubringt. Was kann ihm in München nicht alles passieren und wie wird er das mörderische Klima dort vertragen? Hast Du Bekannte dort? Ich weiß, daß ich keine ruhige Stunde mehr habe wenn er in München ist. Geh nicht mit mir ins Gericht ob mei- nem langen Schweigen und schreibe Du mir wieder über alles was Du treibst und denkst und liesest, es interessiert mich alles. Ich bin immer noch am Eckermann (Anm.) und lese darin wie der fromme Christ in seiner Bibel.

Leb wohl liebes Herz, ich wünsche Dir gute Zeiten, vielleicht wirds besser wenn der Frühling kommt, der meistens so schön am See ist.

Behalte mich lieb
Deine Marie
(Anm.: Eckermann, Johann Peter, 1792-1854. Marie meint vielleicht sein Buch: "Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren s. Lebens" 3 Bände 1836 bis 1848)

Anm.: Es handelt sich sicher um die einstige, von Herrn Gruber erbaute Lustvilla "Linderhof" im Ortsteil Schachen, wo heute ein Friedensmuseum untergebracht ist. Es ist ein schöner alter Palast mit großem Park und alten Bäumen.

8. März 1876

Meine liebe Marie!

Du wirst Dir selbst gedacht haben, daß mein langes Schweigen seine Gründe hat. So ist es denn leider auch. Josephine war so sehr kank, daß ich alle Hoffnung auf Genesung bei ihem hohen Alter verloren hatte. Sie erholte sich aber doch wieder, und ich lebe in fortwährender Todesangst, daß sie sich aufs Neue verdirbt und nicht genug schont, denn sie gehört zu den wenigen Menschen, die die Aufopferung bis zum Fanatismus treiben. ... [Eine halbe Seite fehlt auf Festplatte] Ich war in Stgt. bei Hemsen, der mir immer besser 35 gefällt, besonders seit ich weiß, daß er kein Verherrlicher des Preußenthums ist, und ich ihn mit tiefem Schmerz über die dro- henden Kriege reden hörte. Er ist ein durchaus humaner Mensch. Von der Absicht Auerbachs wußte er nichts. ...

Mit Isoldes Gesundheit geht es gerade nicht gut, sie wird täglich magerer und leidet so sehr am Magen. Sie geht jetzt in der nächsten Zeit nach St., das ist aber eben keine Erholung, sondern eine An- stengung. Ich kann Dir gar nicht sagen, wieviel Genuß und selbst oft Trost mir der Eckermann gebracht. Besonders der dritte Band war mir ein wahrer Fund. Wie wahrhaft frei erscheint Göthe darin, besonders auch in politischer Beziehung, mit welcher vernichtenden Kritik. Spricht er sein Verdammungsurtheil über den zivilisierten Massen- mord aus, und wie hat es mich so herzlich gefreut wie er erklärt, daß er nicht nur keinen Haß gegen die Franzosen habe, daß er sie im Gegentheil liebe. Das war freilich ein Staatsminister wie ihn erst einmal wieder die Zukunft in 100 oder 300 Jahren bringen wird. Daß ich für mein sehnsüchtiges nach Unsterblichkeit lechzendes Herz natürlich noch manchen geheinen Trost darin gefunden, versteht sich von selbst. Jetzt lese ich verschiedene kleinere Arbeiten von Kant zum Beispiel "Zum ewigen Frieden" etc. Etwas was mich auch sehr angesprochen hat und was mir Hemsen zugeschickt, sind "Die Memoiren einer Idealistin" . Das Werrk ist ganz neu und eben bei Auerbach erschienen. - Vielleicht muß ich mit Erwin nach München, wenn es die Umstände zu Hause erlauben. - Schreibe mir auch näheres über das vielerlei Unrecht, das Deinem Onkel zugefügt wurde, es interssiert mich ja alles so innig, denn er gehört ja zu Hermann. Ich kann Dir leider nicht einmal schreiben, denn meine Nerven geben es nicht zu ich leide schrecklich - aber es sind ja nur körperliche Leiden. Fahre doch nicht mehr mit diesen bösen Pferden aus. Das war ja entsetzlich. Sei auch nicht waghalsig mit dem See, ich habe immer Angst um Dich, geh doch nie in einen Kahn.

Leb wohl, liebes theurees Herz und behalte lieb
Deine Marie
In Zahnschmerz geschrieben. (an M.C. Lindenhof bei Lindau)

11. August 1876

285
Meine liebe Marie! Wie eine Schuld liegt mein langes Stillschweigen auf meinem Gewissen. Ich reiste mit dem festen Vorsatz ab, Dir von Calw aus zu schreiben. Der Grund, weßhalb ich nicht dazu kam, war für mich ein so aufregender, quälender, daß Du es nicht verstehen wirst, wenn ich Dir nicht alles geschrieben habe. Zu gleicher Zeit reiste Isolde nach München ab, um ihren Bruder zu besuchen und 14 Tage bei Bareiß zu bleiben. Schon in ihrem ersten Brief schrieb sie mir, daß ... (18 Zeilen Fehlen) fernzuhalten gab ich meine Zustimmung, aber auch diese kleinere Entfernung die zwischen uns treten soll, wirkt so zerstörend auf mich ein, daß ich abgestumpft für alles andere dahin lebe. Es hat sich bis jetzt die passende Logis noch nicht für Isolde gefunden. Das ist für mich noch eine Henkersfrist. Was aus mir wird, wenn wirklich der Plan zur Ausführung kommt, kann ich noch gar nicht erfassen.- Seit 14 Tagen habe ich nun auch noch meinen Erwin in der Vakanz, komme aber vor lauter Bangen nicht zum Vollgenuß der Freude. - Was ich Dir da von Isoldes Plänen geschrieben, soll vorerst Geheinniß sein, da es ja auch an Schwierigkeiten scheitern könnte. Um den Unstern in allem Glanze leuchten zu lassen, kommt noch das ganz unerwartete Ereigniß, daß Edgar, der bei der Musterung am 1. März als völlig untüchtig erklärt wurde, nun schließlich bei der Generalmusterung doch nicht freigelassen wurde, sondern zur Reserve kam. Im Falle eines Krieges muß er als Krankenwärter mit in das Feld. Außer dieser schlimmen Aussicht ist ihm diese Kette, die er da mit sich schleppt, auch bei einer zukünftigen Stelle hinderlich. Wenn Du einen Blick in meine Verhältnisse und in meine Stimmung gethan, so wirst Du Dir es zurechtlegen können, daß ich in diesem inneren Sturm und Kampf Dir nicht geschrie- ben habe, obgleich ich weiß, daß Du zu den wenig befreundeten Seelen gehörst, die ich noch mein nenne. Außer diesen Kalaminitäten habe ich auch noch die Sorge, daß Alfred bereits vier Monate sehr magenleidend ist und sehr, sehr elend war, jetzt gehts ein wenig besser. Dazu die ewige Sorge um Balde. Es ist oft eine unerträgliche Last dieses Leben!

Der wackere Hopf hat mir nun für 3 Jahre einen Zuschuß von je 200 fl für Erwin erlangt. Er selbst hat ja soviel wie nichts, lebt bei seinen Kindern, er beredete aber einen Neffen der Oberamtsarzt ist und dieses Geld unverzinslich auf unbestimmte Zeit hergeben will. Was ich Dir da geschrieben ist bloß für Dich und Deine Ein- samkeit. Ich will das zweifelhafte Mitleid der einstigen Freunde nicht, denn wirkliche Theilnahme haben wenige. Isolde würde, wenn etwas daraus wird auf 1. October oder letzten September abreisen. Ich muß dann alle übrigen Zimmer vermiethen, um mir etwas Geld zu verschaffen. Und nun genug von mir. Auch Du bist nicht auf Rosen gebettet, und wenn wir unser Schicksal vergleichen, so will viel- leicht keines mit dem andern tauschen. Wärst Du mir nur erreich- barer! - Edgar steht sich jetzt gut, es wird mir aber doch nicht leicht, ihm die zwei jüngeren Brüder aufhalsen zu müssen.- Was machst Du? Der See wird Dir ein tröstender Freund sein, wenn Du abgeschafft von unerquicklichem Tagewerk, bei ihm Ruhe suchst.- Von der Welt und den Menschen weiß ich nichts, kann Dir also auch nichts erzählen.

Lebe wohl und zürne mir nicht; unglückliche Menschen sind egois- tisch in ihrem Schmerz und pessimistisch. Dennoch denke ich Deiner mit treuer und inniger Liebe
Deine Marie
Die Hemden und Strümpfe Deines Onkels sind ein wahrer Segen für uns, denn jetzt kann ich gar nichts mehr kaufen.

Samstag, 28. October 1876

288 ... Zeilen fehlen
Und ein Jahr hat ers getragen,
trägts nicht länger mehr.
Liebste Marie!

Die Nachricht, die Du mir in Deinem heutigen Briefe mitgetheilt hat mich sehr gefreut. ... glücklich, daß Du frei bist. Du mußt Dich jedenfalls mehrere Tage bei mir auf der Durchreise aufhalten, denn es könnte wohl das letzte mal sein, daß wir zusammen sind. Die Ursachen meines langen Schweigens waren stets traurige. Balde war wieder sehr krank, immer die alte Geschichte in neuen bedenk- licheren Erscheinungen. Fina... eigentlich wie eine Mutter. Und nun der Abschied von Isolde! Erwin, die seit Ende Juli in der Vakanz bei mir war, ver- ließ mich ein paar Tage früher, dann ging Isolde. Bareiß nahm sie ... Für mich ist diese Trennung schrecklich. Bis jetzt lebten wir doch noch als ein Ganzes zusammen, und wenn ich im Kreise meiner Kinder mich befand, fühlte ich förmlich Hermann unter uns. Er war mir nicht todt. Durch diese Trennung, die nun im Hause alles gelockert hat, ist mir Hermann eigentlich noch einmal gestor- ben. Oft meine ich, ich mache diese Trennung wirklich nicht länger durch, der Boden sei mir unter den Füßen weggezogen. Ich habe freilich die Hoffnung sie bis Weihnachten wieder zu sehen, aber ob sie sich auch erfüllt? Ihre vereinsamten Zimmerchen, ihre leeren Bet- ten! Dieser Anblick wühlt in meinem Herzen! Sie möchte, ich solle mit Sack und Pack ihr nachziehen. Aber ich ginge so ungern von Tübingen fort, möchte mich von Edgar nicht trennen und wünschte daher, daß sie auch ganz wiederkehre, nachdem sie sich mit Arbeit versorgt. Auch die Trennung von Edgar steht mir bis zum Frühling noch nicht, was sein Loos sein wird, jedenfalls aber muß ich von jetzt an immer von einem Theil meiner Kinder geschieden sein. Sie hofft - aber wenns eben nicht geht? Was dann werden soll, weiß ich nicht. An meinem Schwager habe ich gar nichts, so wenig wie an den Stuttgarter alten Freunden. Kröner zahlt mir von den verspro- ... Ich hätte nun mein blaues Zimmer vermiethen sollen, da ich aber Josephine keine neue Last aufhalsen mochte, unterließ ich es. Erzähle mir doch von Großsachsenheim. Wer wohnt den dort? Könnten wir nicht denn am Ende unsere Armuth zusammen tragen, wenigstens so lange bis es sich bei Isolde entschieden hat? Diesen Winter wird sie jedenfalls in München bleiben wollen aber Weihnachten kommt sie, nur auf 8 - 14 Tage. Da ich mein Zimmer dieses Semester nicht vermiethe, also nichts daraus löse, könnte ichs Dir wohl abgeben. Holz brauchst Du nicht. Wir wären zusammen in einem Zimmer. Auch habe ich ein Petroleumherdchen, das ich Dir geben könnte. So hättest Du Wohnung und Heitzung hier wie in Sachsenheim umsonst. Mit dem Essen würden wirs
289
genau ausrechnen was weiter gekocht werden muß, das würdest Du drauf legen. Die Schuhe würde Dir mein Laufmädchen putzen, da sie ja jetzt für Isolde und Erwin keine zu putzen hat und so würde die Bedienung ohne mich zu schädigen auch noch dazu kommen. Vielleicht könnten wir zusammen auch irgend etwas beginnen, um uns Geld zu verdienen? Überdenke die Sache einmal. Sind wir nicht beide zwei arme verlassene Wesen? Aber sind wir nicht reicher, wenn wir in treuer Freundschaft und in geistiger Gemeinschaft mit unseren ge- liebten Todten zusammen lebem, wenigstens so lange es geht.- Jedenfalls mußt Du auf der Durchreise 8 Tage bei mir bleiben, wenn Du auch nicht meinen Vorschlag annehmen willst. Du mußt nicht meinen das mache mir etwas aus. Wo sechs Personen essen, ißt auch die 7te mit, ohne daß für diese kurze Zeit das fühlbar wäre. Bertha Wilhemi war 14 Tage bei mir, ich habs nicht gespürt weil ich mich nicht zu genieren brauchte. Also jedenfalls auf baldiges längeres Wiedersehen. Schreibe bald wieder.
Deine Marie

Karte o.D. (1876 ?)

an Marie Caspart bei Paul Caspart, Notar in Schwenningen

L.M.
So soll es doch endlich noch werden! Komme ja, mein Herz lechzt nach Dir! Ich habe viel des Jammers durchgemacht und bin nun mit Alfred und Balde ganz allein. Edgar ist in Venedig und wird wohl heute von dort nach Florenz abreisen, wo er sich niederzulassen gedenkt. Diese Trennung war schwer! Balde liegt noch immer im Bett, seit Dezember unausgesetzt, er darf zwar jetzt ein paar Stunden aufs Sopha, auch geht es ordentlich, er hatte aber zum zweiten mal eine Rippfellentzündung. Welche Wohlthat Dein Besuch für einen Einsamen und Unglücklichen sein würde, kannst Du gar nicht messen. Montag früh
Deine Marie

Karte vom 29. 11. 1876

nach Lindau
Liebe Marie!

Seit Empfang Deines letzten Briefes war ich bis vor zwei Tagen fortwährend krank und verbrachte die meiste Zeit mit Schmerzen im Bett. Ob es Gliederweh oder etwas anderes war, weiß ich nicht. Mit mir lag auch Balde, der überhaupt einen bösen Winter hat. Dies war die Ursache meines Schweigens, und da wir übermorgen schon Dezember haben, ich Dich also bald zu sehen hoffe, sende ich Dir nur diesen flüchtigen Gruß. Komm doch gewiß und bald. Am 18ten kommen meine Kinder, ich möchte Dich vorher in aller Ruhe bei mir haben. Bei Isolde geht es über alles Erwarten günstig, leider aber ist ihre Gesundheit sehr angegriffen, daß es mir bang ist wie ich sie finden werde? Laß mich bald wissen, bis wann ich Dich von der Eisenbahn abholen darf.
Deine Marie

Karte vom 8.Dezember 1876

Meine theure Marie. Den wärmsten Dank für den schönen Kranz, der mich tief gerührt. Ich bin wohl wieder gesund, aber mein armer ...Balde ... nun steh ich eine namenlose Angst aus. Das werden schöne Weihnachten für uns werden. Am 20. kommen die Kinder, und ich bin nun unfähig mich auf sie zu freuen. Wenn das Übel vorübergegangen ist, schreib ich Dir wieder. Hab tausend Dank für Deine Liebe und Treue, sie thut mir wohl. Auf Wiedersehen.
Deine arme Marie K.
Freitag

o.D. Februar 1876

"Liebste Marie!

Edgar richtet die dringende Bitte an Dich ihm schleunigst eine Frage zu beantworten, wenn Du imstande bist dies zu thun. Könnte ihn ein Arzt als Spezialist (Frauenarzt in Lindau) oder einer andern Bodenseestadt fortbringen? Es ist natürlich bloßer Zufall, wenn Du dies beantworten kannst. Du kannst Dich aber vielleicht erkundigen und solltest Du die Frage bejahen können, so bitte ich Dich dies telegraphisch zu thun. Die geringste Aussicht in Lindau, Friedrichshafen oder Rorschach würde Edgar vor dem gräulichen Schicksal erlösen, sich in den nächsten Tagen um eine Stelle im Hohenlohischen in Kirchberg an der Jagst bewerben zu müssen, denn seine Zeit ist hier um.- Ich habe inzwischen hier fuchtbar durchgemacht. Mein armes Kind, Balde hat schrecklich gelitten, die Herzentzündung wurde aber geheilt. Doch als ich ihn der Genesung entgegen reifen glaubte, bekam er auf einmal eine Rippfellentzündung und ich lebe aufs Neue in Todesängsten und muß all dies ohne Isolde durchmachen; denn da ihre ganze Existenz auf dem Spiele steht, so darf ich sie nicht zurückrufen und kann ihr nicht einmal die Gefahr schreiben in der ihr Bruder schwebt. Und nun muß ich im Frühling auch noch Edgar verlieren! Ich war inzwischen oft auf dem Punkt, vor Jammer und Ängsten und Verzweiflung toll zu werden. Wie sehnlichst auch habe ich an Dich gedacht, wenn ich mir vor Todesängsten nicht mehr zu helfen wußte!- Schreib aber nichts von Baldes Gefahr. Er will alle Briefe lesen, ahnt seinen Zustand und ist deshalb schrecklich mißtrauisch. Isolde quält sich in München furchtbar ab. Sie gibt Stunden und übersetzt oft ganze Nächte durch. Verzeih, mein armes Herz, daß ich Dich mit dieser Bitte plage, aber Edgar geht so arg ungern in diese Wildniß, wo aller Verkehr mit gebildeten Menschen aufhört, daß er sich an ein Strohhälmchen klammert. Wenn also irgend eine Hoffnung da ist so telegraphiere mirs umgehend, und lege die Kosten einstweilen für mich aus.
Es grüßt Dich
Deine arme geqälte Marie"
Montag (mit Bleistift hingsudelt)

Karte vom Freitag

(letzte Karte aus Tübingen)
o.D. (Stempel schwer lesbar: 17.8.1877 oder 17.9.?)

Liebe Marie!

Es langt zu keinem Brief mehr. Ich weiß nicht wo mir der Kopf steht und sollte 4 statt 2 Hände haben, denn Isolde kann mir nicht helfen. Sie muß die ganzen Nächte hindurch übersetzen. Es ist noch nichts gepackt, weil ich für die Tübinger flicken und stricken muß und schließlich mir noch aus einer Fahne ein Kleid machen sollte. Und doch wollen wir noch in diesem Monat abreisen. Isolde geht mit, da ich noch nicht weiß wo wir wohnen werden, d. h. noch keine Wohnung haben. So kann ich auch Dir noch keine Adresse schicken. Nach Stuttgart kann ich nicht mehr kommen, nicht nur wegen Mangel an Zeit, sondern aus noch triftigerem Grund. Ich bitte Dich bringe Tafels mein Lebe wohl, ich kann unmöglich mehr schreiben. Alfred geht mit Erwin in den letzten Tagen des September nach München um dort vollends auszustudieren.- Schartenmeier war bei uns zu Besuch, galt aber nicht mir, sondern der Muse! - Deiner Tante guten Fortgang ihrer Besserung wünschend, und Dir, liebstes Herz alles Gute: vor allem eine friedliche Ruhe, die Dir so nöthig ist. Deine Spitzenkunst wird nicht jetzt, sondern in Florenz getra- gen. Von dort schreibe ich Dir ordentliche Briefe, sobald ich bei Besinnung bin. Es ist ein schrecklicher Kampf für mich, mich von Erwin und Alfred loszureißen, oft meine ich, es übersteigt meine Kräfte. Ob ich sie je wieder sehe? Ich werde nie zur Ruhe kommen, denn Sehnsucht oder Angst werden meine steten Begleiter sein. Bedaure mich. In treuer Liebe
Deine Marie
Zu erfragen sind wir in der Via della Scala 50

23. September o.J. (1877)

(erster Brief aus Florenz)
299
Brief an M.C. Stgt. bei Frl. Kausler, Gutenbergstr. 10 P. Stgt.

Liebes Waldfegerlein!

Du wirst längst laut über mich schimpfen, über mein Stillschweigen, aber Karten willst Du nicht und zum Briefe schreiben gabs keine Zeit, was Du selbst einsehen wirst, wenn Du den Verlauf unseres hiesigen Aufenthaltes kennen wirst. Die Reise ging glück- lich vorrüber, aber gleich am ersten Tag hier wurde Isolde krank. Am 3.Tag, nachdem ich kaum aus dem Bett kriechen konnte bekam Josephine die Brechruhr, die sie 14 Tage lang hatte und sehr elend machte, dabei keine Häuslichkeit. Wir wohnen in "chambres

....

Umgebung von Florenz befinden. Nun aber bekam ich ein quälendes Nervenzahnweh, nachher einen tüchtigen Kartharr und schließlich Isolde gestern ebenfalls die Brechruhr. Es geht ihr aber heute schon wieder besser. Für die mir noch nach Tübingen geschickten Effekte (Anm.) tausend Dank. Dein Schemel thut mir vortreffliche Dienste und ein liebendes Gedenken an Dich habe ich mit dem Kleid. Dieser Wisch ist nur ein Vorläufer bis ich zu mir selbst komme. Isolde muß Tag und Nacht arbeiten. Der Kampf, den wir hier ums Dasein aufgenommen ist theuer. Bei Balde aber stehts ganz gut. Die Idealistin war gestern bei uns. Sie gefiel uns sehr. Sie gleicht Dir in ihrem ganzen Sein, selbst äußerlich. - Schreib, ich bitte Dich vom 1. Oktober an nach Leb wohl und vergiß uns nicht
Deine Marie
(Anm. Effekten = alter Ausdruck für Gebrauchsgegenstände u. Wäsche)

7. November 1877

(von Florenz nach Stgt. Guttenbergstraße)
Liebe Marie!

Leider traf mich Deine Freundin nicht, doch kann sie Dir wenigstens erzählen wo wir leben und wie unser Palazzo aussieht. Schmerzlich leid ist es mir zu hören, daß es Deiner Tante immer gleich schlecht geht und Dir das Leben wieder von seiner traurigsten Seite entgegen tritt. Sei mir nicht bös, daß ich so schweigsam bin, aber ich habe solche Briefschulden, daß ich nicht weiß, wo anfangen und nicht einmal an meine fernen Kinder ordentlich schreiben kann. Du mußt wissen, daß sich Isolde durch Überarbeitung ein Augenleiden zugezogen das so gefährlich aussah, daß man das Schlimmste befürchtete. Es geht besser jetzt, sie muß aber wochenlang noch mit der Arbeit aussetzen. Ich habe deßhalb doppelt so viel zu thun, da ich nun auch übersetzte. Wir wohnen theuer: 950 frcs. jährlich, auch die Lebensmittel sind sehr theuer. Ich brauche alle Tage zwischen 8 und 10 bis 12 frcs. nur für die Haushaltung, da wirst Du begreifen wie sehr wir uns regen müssen. Das Leben, in den aristokratischen Kreisen, in die wir hier wegen Edgars Praxis gekommen, bringt natürlich auch Kosten mit sich, und da alles auf mir liegt, die ganze Haushaltung und alle Einkäufe, so ist auch mein Tagewerk kein leichtes. Erfreulich ist es aber, daß es auch Baldes Gesundheit so gut geht, deßhalb segne ich unsere Übersiedlung, so oft und viel mich auch das Heimweh beschleicht. Dr. Gärtner, unser Hausarzt aus Tübingen war zwei Tage bei uns hier. Das war mir ein wahres Fest. Das Schmerzlichste ist mir, daß ich niemand hier habe, der Hermann gekannt hat. Unsere Bekannten fangen zwar jetzt an seine Werke zu lesen und sich für ihn zu interessieren, aber das ist doch nicht dasselbe, als wenn man mit Freunden des Todten verkehrt. Leider habe ich selbst nicht einmal die Zeit seine Briefe etc. zu lesen, denn kein Augenblick ist im Tag, der nicht ausgefüllt ist. Die vielen Besuche nehmen viel Zeit weg. Mit Edgars Praxis gehts ordentlich, das Jahr ist wegen dem türkisch - russischen Krieg sehr ungünstig. Nie waren so wenig Fremde in Florenz wie heuer.- Dir über die hiesigen Kunstwerke zu schreiben langt mir die Zeit nicht. Frl. Vischer wird Dir davon erzählen. - Das Wetter ist herrlich. Wir haben einen viel schöneren November als der August in Deutschland war. Die Sonne brennt heiß. Kein Tropfen Regen, kein Nebel, ein tiefblauer Himmel und alles grün. Die Farbenpracht ist es hauptsächlich was Italien so schön macht, denn die Landschaft ist eigentlich anmuthiger in Schwaben. Nirgends sind hier diese traulich träumerischen Plätzchen, diese blumigen Ufer, die märchenhaften Wälder, ein einziger lachender Sonnenschein und ausgebrannter Boden. Wenn man aber wie ich, die Sonne von San Miniato aus untergehen sieht, wie sie feuersprühend hinuntersinkt und der ganze Himmel sich mit Purpur über- zieht, während sich goldhell im Osten der Vollmond erhebt und die alten Appeninberge alle Schattierungen in Lila annehmen, der weiß, daß Italien eine Wunderlandschaft ist. Die Italiener sind so feurig wie ihr Himmel, anmuthig, künstlerisch, aber sie haben keine Phan- tasie, keine Märchen, keine Sagen, nicht einmal eine lyrische Poesie. Die Religion haben sie abgestreift, aber die Philosophie bleibt ihnen ferne, denn im Reich der Gedanken sind sie nicht zu Hause. Das scheußlichste an ihnen ist die Grausamkeit gegen die Thierwelt, dagegen haben sie Pietät und Verehrung für die großen Männer, was der Deutsche nicht hat.

Sobald es bei uns sorgenfrei zugeht mußt Du zu uns kommen und Dir dieses Land ansehen. Mir geht es gut bis auf Zahnweh, das mich seit vielen Wochen schon quält.

Lebe wohl, liebes Herz und erhalte mir eine liebende Erinnerung. Ich grüße und küsse Dich von Herzen
Deine Marie

13. Juli 1878

aus Florenz 303
Meine liebe Marie!

Bist Du denn ganz für uns verschollen, soll kein Lebenszeichen zu uns von Dir dringen? Weißt Du, daß Du mir noch kein Wort nach Italien geschrieben hast? !!! Wohl hab auch ich Dir erst zwei Briefe nach Stuttgart geschrieben, aber mein Leben ist eine so große Zappelei, eine so ewige Unruhe, daß es schon verzeihlich ist, wenn man nach zwei geschriebenen Briefen selbst verstummt, besonders, wenn man dann schließlich jede Spur verloren hat. Den Tod Deiner Tante erfuhr ich durch eine Schwäbische Zeitung, die in New York herauskommt und die man uns zugeschickt, weil sie Novellen von den "Heimatjahren" von Hermann abdruckt. Nun erfuhr ichs auch neulich durch Robert Tafel, den ich nach Dir gefragt, daß Du in Großsachsenheim in Deinem alterthümlichen Schlosse lebst. Die Ruhe wird Dir nach so viel Anstrengung und Gemüthsbewegung wohl gethan haben, denn wenn Deine Tante auch keine Dir sympathische Natur war, so war sie doch die letzte Schwester Deiner Mutter und Deines geliebten Onkels, und der Tod thut deßhalb sicher doch weh. Laß endlich von Dir hören wie es Dir geht, wie Deine Verhältnisse jetzt sind und wie Dein Lebensmuth und Deine Stimmung ist. Uns geht es im ganzen gut; natürlich ist der Kampf um die Existenz noch nicht zu Ende, aber die Praxis geht von Monat zu Monat besser und beläuft sich jetzt schon auf 3 000 Frs. jährlich, nur darf Dir das nicht schon viel vorkommen, denn das Leben ist hier sehr theuer. Auch hat Edgar Schulden die jetzt abbezahlt sein müssen. Es langt gerade für ihn, ich aber lange mit meiner Einnahme statt ein Jahr nur ein dreiviertel Jahr und den Rest muß ich von Edgar leben, was mich drückt. Die Eltern haben kein Eigenthum den Kindern gegenüber, von den Kindern zu leben, und besonders wenn sie selbst noch im Ringen um die Existenz sind, ist ein sehr peinliches Gefühl. Der nächste Herbst und Winter soll aber sehr günstig werden, da man bereits weiß, daß eine Menge Russen kommen werden, jetzt da der Frieden gesichtert ist. Seit April ist auch Erwin bei uns und hat tüchtige Fortschritte gemacht, nur verdient er natürlich bis jetzt noch nichts, da er noch zu lernen hat. Bei Balde geht es, zwei Anfälle abgerechnet, recht ordentlich. Er sieht gut und kräftig aus, muß sich aber natürlich sehr in Acht nehmen. Alfred hat nun in München sein Examen (Medizin) bewältigt und zwar 1. Classe, das beste Examen von seinen Mitaspiranten gemacht. Er wird vermuthlich im Herbst auch nach Italien kommen, um in Venedig einen vorläufigen Versuch zu machen. Vielleicht bleibt er auch in Deutschland und besucht uns bloß.

Josephine, die treue Haushälterin, leidet diesen Sommer über viel an Diarroe, was sie schwächt. Ich vertrage die Hitze vortrefflich. Das Wasser läuft einem zwar den ganzen Tag am Leib herunter, aber es ist doch zum aushalten, da in Florenz immer ein frischer Wind weht. Von der Blumenpracht, die wir hier haben, kannst Du Dir gar keine Vorstellung machen, besonders von jenen ganz märchenhaft schönen und stark duftenden Blumen, die auf den südlichen Bäumen wachsen, da sind die Magnolien, Granaten und eine Masse noch die ich nicht kenne. Es gibt auch sehr viele Lilienarten, wo eine nach der andern blüht. Die Rosen gehen bloß in der heißesten Zeit aus, die Bäumchen und Sträucher haben hier immer grüne Blätter. Nur das trauliche Dunkel der Wälder würdest Du hier vermissen, die Lorbeerund Cypressenbäume abgerechnet gibt es in der Nähe von Florenz keinen Wald.

Schließlich noch eine Anfrage, liebe Marie. Ist in Deinem Schlosse noch ein Zimmer für einen älteren Herrn frei, der Ruhe und frische Luft sucht? Er ist ein sonderbarer Kauz, ein Mystiker und Spiritist, ein Dr.Rheinstädter, den ich hier bei Ludmilla Assing kennengelernt habe, dem ich von Dir erzählte und der sich nun gern in Deiner Nähe niederlassen möchte. Er ist zwar etwas närrisch aber ganz harmlos in seinem Benehmen. Kannst Du mir Auskunft geben, so schreibe mir darüber.

Isolde geht nächster Tage nach Rimini in ein Seebad am Adriatischen Meer zu unseren Nachbarinnen, zwei russischen Fürstinnen, die sie längst sehnlich erwarten. Die Leute sind alle sehr herzlich und zuvorkommend gegen uns, und ich bin trotz der Sehnsuch nach dem theuren Grabe und einigen wenigen theuren Menschen sehr gerne hier, denn so wie es jetzt in Deutschland gworden, könnte unseres Blei- bens da nicht sein. Edgar säße längst hinter Kerkergittern.

Du wirst mich doch hoffentlich einmal hier besuchen, wenn Du unabhängig und in besseren Umständen als früher bist. Lebe nun wohl und vergiß uns nicht so ganz und gar. Ich grüße und küsse Dich in alter Liebe und Treue
Deine Marie
Florenz, Viale Pricipessa Margherita 58 I

Karte 29.Juli 1878

(von Florenz nach Großsachsenheim)
Liebes Herz!

Soeben Deinen Brief erhalten, der mich ganz zappelig vor Freude machte, ganz außer mich brachte. Mir ists als sollt ich mit Dir ein Stück von Hermann zurück bekommen. Sieh, ich wundere mich und freue mich, daß ich noch so ganz toll vor Freude werden kann, trotz allem was ich schon gelitten. Ich kann im Augenblick nicht ausführlich schreiben. Der Brief soll fertig werden. Meinen vor einige Tagen geschickten wirst Du inzwischen durch B.Tafel erhalten haben? Halte Dich fest an dem Gedanken - ich könnte jetzt diese frohe Aussicht nicht mehr fahren lassen und es wird sich alles richten lassen. Ich werde Dir klar und ausführlich über das ganze hiesige Leben schreiben. Es geht ordentlich mit Balde, wegen Alfred ist noch kein Entschluß gefaßt, ich gebe die Hoffnung noch nicht auf, daß er am Ende doch zu halten ist. Nicht ich allein, auch meine Kinder freuen sich, besonders Isolde - und Fina weinte vor Freude! Nach solcher Trennung hat man sich, glaube ich, noch viel lieber. Hedwig kann Dich nicht genieren, da sie eben höchstens 2 Monate oder sechs Wochen bleibt.

In Liebe und Hoffnung
Deine M. K.

Florenz 31. Juli 1878

Mein liebes Waldfegerlein!

Wie mich Dein Brief angemuthet und erfreut, davon hast Du gar keinen Begriff. Er hat mir ein ganzes Stück Heimath gebracht. Ich habe das Rauschen meiner Wälder daraus vernommen und das trauliche Geflüster der Geister verflossener Jugendtage gehört: "Ihr meiner Heimat Töne, ihr werdet wieder wach". Das ging mir seither immer im Kopfe umher.- Ich habe oft eine grenzenlose Sehnsucht nach meiner schwäbischen Erde, mit der sich die theure Asche vermischt hat. Paradiesisch schön lebt nur alles in der Erinnerung. Nach den Menschen aber habe ich nur eine zart-schwache Sehnsucht und solange eine bleierne Atmosphäre über Deutschland sich ausbreitet, möchte ich nicht mehr zurück. Mit herzinniger Freude erfüllt mich die Aussicht, daß Du hierher kommen willst.

Es wäre schnöder Undank zurück kommen zu wollen, wie herzlich und zuvorkommend uns die Menschen hier begegnen, aber trotz alledem wandle ich wie eine Fremde unter ihnen, fast wie ein styxischer Schatten, denn hier hab ich nicht meine Jugend erlebt, nicht meine Liebe, mein Glück genossen. Die meisten kennen Hermann kaum dem Namen nach, nur wenige haben ihn gelesen, verstanden wohl keiner. Nie hab ich den süßen Trost und das Wohlgefühl von ihm reden zu können außerhalb des Familienkreises, aber Alles würde mir mit Dir wieder werden. Meine Lieblingserholung ist hier wie in Tübingen Hermanns Korrespondenz mit Onkel Rudolph (Kausler) zu lesen, und so lebe ich denn auch in Deinem Gedankenkreis fort. Meine spiritistischen Bekannten würden sagen dieser fortwährende Umgang mit einer Dir verwandten Sphäre habe unbewußt Dich angezogen und treibe Dich nun magisch zu mir. Wie glücklich fühlt sich doch der Mensch, wenn er sich auf etwas freuen darf, und ich freue mich auf Dich, wie nur ein junges Herz sich gewöhnlich freuen kann. Bis Du kommst, liebes Herz, habe sich jedenfalls unsere Verhältnisse gebessert, denn es sollen sehr viele Russen hierher kommen und auf Ihnen beruht Edgars Praxis. Von einem Kopfgeld also kann keine Rede sein, wenn Du nur ein vorrübergehender Besuch bist. Solltest Du für länger bleiben, was prächtig wäre, ja dann wird man schon sehen, wie man das möglichst billig für Dich einrichtet. Die Reise von München aus kostet 70 Mark, theilweise Schnellzug, theilweise 3. Klasse, so wie Erwin fuhr; mit der 2. kommt es etwas theurer, aber nicht viel. Für Nachtquartier zahlte Erwin 5 frs samt Nachtessen und Frühstück. Du kannst aber auch die Nacht durchfahren, wenn Du nicht die schöne Stadt Verona, die mittelalterliche Stadt des Dietrich von Bern mit seinem mächtigen Amphitheater besichtigen willst. Da fast alle Leute deutsch sprechen und überall deutsche Hotels zu finden sind, so bringst Du Dich auch ohne italienisch oder französisch durch. Du findest unseren Umgang bescheiden? In erster Linie sind es deutsche Künstler, dann russische Familien und nur wenig Italiener, unter diesen aber die bedeutendsten Professoren und Gelehrten. In unserer nächsten Nachbarschaft wohnt die Familie Bumüller, Schweitzer von Geburt und mit Hausmanns verwandt. Frau Bumüller ist sehr mit Frau Flattich befreundet. Die Frau ist angenehmer und liebenswürdiger als die Mädchen, die zwar sehr unterrichtet, aber etwas unnatürlich sind. Von den beiden Fürstinnen, mit denen wir befreundet auf einem Boden leben, hab ich Dir schon mehrmals er- zählt. Sie sind allerliebst, sprechen aber nur wenig deutsch. Bei Ludmilla Assing, die zwar eine ganz gescheite und vielfach gebildete Frau, aber über die Maßen hässlich ist, triffst Du ein Sam- melsurium von Nationalitäten und Notabilitäten; ital. Mazzinisten, deutsche Durchreisende indische Prinzen etc., aber auch gräßliche alte Weiber. Über uns, bei einer italienischen Gräfin spuken die Geister über die Tische. Täglich werden Geistescorrespondenzen zu Tage gefördert, aber der ganze tolle Walpurgisnachttaumel, der sich breit macht, gab Isolde Stoff zu einer sehr humoristischen Novelle, deren Held unser Jakob Böhme`scher Philosoph, der Dr.Rheinstädter ist, der sich bei Dir einquartieren wollte und dessen liebesbedürftiges Herz Du wohl bald erobert gehabt hättest, d.h., wenn Du Dich Deiner unreinen Speisen enthoben hättest und zum Vegetarier und zur Homöopathie bekehrt hättest. Unter uns wohnt ein Bildhauer, ein alter Waffenbruder Garibaldis. Er und seine Frau die Malerin ist, sprechen deutsch. Es gibt nur wenig gebildete Italiener die nicht deutsch sprechen. Ein Werk über die Florentiner Kunst kann ich Dir nicht geben. Das besitzt vielleicht Helene Tafel. Lies den B. Alini in Göthes Übersetzung, da lernst Du viel vom alten Florenz und seinen Künstlern kennen. Für Michelangelos Riesenwerke brauchst Du keine Kommentare. Was Baukunst ist, lernt man erst in Florenz kennen.- Mit der ital. Poesie und Literatur kann ich mich nicht befreunden, erstere ist mehr Kunst vollendeter Form ohne tieferen Inhalt, letztere langweiliger Bombast, Phrasologie. Nach deutscher Literatur und Philosophie hab ich oft einen ungeheuren Heißhunger. Seit einem Jahr habe ich nichts Neues mehr gelesen. Du tust mir einen großen Gefallen, wenn Du über neue Erzeugnisse schreibst.

...

kein Schwabe sein.- Was geschieht mit dem Grab Deines Onkels, schreibe mir darüber? Wie gehts Deinen Brüdern? Es ist mir ein wohlthuendes Gefühl, Dich ohne Nahrungssorgen zu wissen. Nun leb wohl und sei tausendmal gegrüßt von Deiner Marie Ich muß den Brief wieder auf Umwegen schicken, da ich nicht weiß, wo Großsachsenheim liegt, ob bei Ludwigsburg oder Besigheim?

Karte vom 10.9.1878

(von Florenz nach Großsachsenheim)
Liebstes Herz!

Deinen Brief kann ich heute nur kurz beantworten, da nach langem Schweigen und Kämpfen Alfred gestern zu uns kam. Noch ist nicht entschieden, ob er in seinem Kampf ums Dasein, da er ganz vernarrt in Venedig ist, noch zurückkehrt, wahrscheinlich ersteres. Hedwig kann erst Ende August von hier abreisen, was hinderlich war. Sie hat im Sinn diesen Monat jedenfalls ruhig hier zu bleiben, dann auf einen Monat vielleicht nach Palermo, wo ihr Bruder ist, und dann wieder auf der Heimreise einige Zeit zu uns zu kommen, doch hängt das alles vom Verlauf ihrer Kur ab, ob die langwierig oder kurz ist. Das darf Dich nicht hindern, im Oktober zu kommen. Vor Oktober kommen die Familie. Hedwig hält Dich nicht zurück. Balde und Edgar sind gerade bei ihr in Andezza bei Livorno. Balde thut die Seeluft gut, da er gar so matt und apetittlos von der Hitze wurde. - Im Oktober reist der Doctor Georg Kurtz, Sozietätsarzt, Sohn eines Prof. Kurtz in Stuttgart, er wohnt am Wilhelmsplatz, wieder zurück nach Stuttgart. Mit dem könntest Du zurück. Nur ist das noch nicht fest bestimmt. Ich schreibe, sobald ich irgend etwas näheres weiß. Alfred ist ein arges Sorgenkind für mich, ach, sie sinds alle mehr oder weniger. Wie viel werd ich Dir zu erzählen haben. Halt nur fest am Plan, ich könnte ihn nicht mehr fahren lassen.
In treuer Liebe
Deine Marie
Mittwoch, 10. September
Anm.: Dr. Georg Kurtz gehört nicht zur Reutlinger Familie Kur(t)z.

Florenz 14. 8. 1879

313
Liebste Marie!

Du wirst nicht begreifen könnnen, daß auf meine Karte, die Dir meine unendliche Freude über Deinen Plan ausgedrückt, noch kein eingehender Brief gefolgt ist. Daran war die große Unruhe und Sorge um Alfred schuld, die Unentschlossenheit ob er in die Heimat zurückkehren oder bleiben soll? Diese Frage absorbierte mich so sehr, daß ich nicht dazu kam. Jetzt haben wir eingesehen, daß Alfred nicht nach Deutschland zurückkehren soll auch wenn die Praxis auf dem Dorfe angefangen immerhin noch mehr Geld brächte als hier immmer auf einige Monate mit schlechter Praxisaussicht, daß wir abwarten müssen, ob es nicht doch bald besser wird, denn im Sommer ist die Praxis in Italien überall nicht groß, weil alles was Geld hat, die heiße Stadt verläßt. Alfred wird nun wahrscheinlich um Geld zu sparen auf einige Wochen oder 14 Tage hierher kommen, auch um die wenigen Fälle zu übernehmen, die in Edgars Abwesenheit vorkommen könnten. Edgar ist zu seiner eigenen Nachkur und zur Erholung eben seiner angestrengten Praxis gestern nach Andezza am mittelländischen Meere, zu einem Freunde gereist, von wo er wahrscheinlich eine längere Meerfahrt machen wird. Auch Isolde wird in den nächsten Tagen nach Viareggio, ganz in unserer Nähe gehen, um einige Seebäder zu gebrauchen. Dann bin ich allein mit Balde und Erwin und vielleicht Alfred. Doch ist bereits Hedwig unterwegs und kann in 4 - 5 Tagen hier sein. Sie kommt über Genua und will erst später auf der Heimreise die Seebäder von Palermo benützen. Doch nun zu Dir. Es versteht sich von selbst, daß man sein Geld streckt, solange es möglich ist und daß Dich der Aufenthalt nicht viel kosten darf. Wären nicht die schweren Krankheiten dieses Frühlings und Alfreds peinliche Lage, (der nur einmal am Tag essen darf) dazwischen gekommen, so hättest Du selbstverständlich außer der Reise keinen Pfennig ausgeben dürfen. Jetzt wollen wir es so einrichten, daß, was ich wirklich mehr für die Haushaltung brauche, Du mir ersetzt. In einer so großen Haushaltung spürt man aber einen Kostgänger weiter kaum, besonders das Frauenzimmer, das kein großer Weinvertilger ist. Sehr theuer ist hier vor allem das Salz, das Fleisch und die Milch, auch das Backmehl ist theurer als bei uns, alles andere ist billiger, besonders Kaffee und Wein. Mein täglichen Ausgaben belaufen sich auf durchschnittlich, ohne die gros- sen Ausgaben, wie Kohlen auf 10 bis 12 frs, dabei ist aber der Wein, der allein schon fast 2 frs ausmacht, und der hauptsächlich durch die Kehlen meiner zwei durstigen Söhne rinnt, die Hauptausgabe. Das Fleisch wird durch Dein Hiersein nicht vergrößert, ja sogar Alfreds Anwesenheit hat mich nie zu mehr Fleischeinkauf veranlasst. Ich brauche für 5-6 frs oft auch blos für 4 frs Fleisch, das ist aber immer so reichlich, daß es nicht aufgegessen wird, jedoch kann man nicht weniger nehmen, weil man sonst keine guten Stücke bekommt. Das Kilo kostet 2 frs und 20 Cent. Nun wäre der wirthschaftliche Theil erörtert, der nicht den geringsten Haken hat. Nicht ganz so glatt ist die Wohnungsfrage beschaffen, doch ist auch sie zu lösen. Wir haben eine nach außen pompöse Wohnung, wohnen in einem Palazzo, bezahlen für 10 Zimmer (es sind aber blos 5, aber hier wird auch die Küche, der Gang, die Kammern als Zimmer gerechnet.) Edgar hat ein Zimmer und ein Schlafkabinett, dann kommt ein winzig kleines paletto, in dem man die Leute empfängt, dann kommt Isoldes Zimmerchen, dann ein noch kleineres für Balde, und ich wohne dann im Gang, 1/2 Zimmerchen für Josephine und die große Küche und eine Hühnertreppe aufwärts ist noch ein kleines Zimmer mit halben Fenstern. So klein die Zimmer sind, so rießig hoch sind sie. In dem kleinen Zimmerchen oben hat bis zur großen Hitze Erwin logiert, da wurde es unmöglich und Hildebrand (Anm.) nahm ihn zu sich in sein großes Kloster, das er bewohnt. Dieses Zimmerchen ist im Winter zum Schlafen ganz gut und angenehm. (Öfen gibt es überhaupt nicht) Für einen längeren Aufenthalt aber würde dies doch nicht angenehm sein, da Du nicht darin schreiben könntest und kein angenehmes Daheim hättest. Dasselbe wäre es, wenn Du das Zimmer mit Isolde theilen wolltest. Ich weiß, daß Du Stunden hast, wo Du allein sein willst. Nun läßt sich aber auch da Abhilfe treffen. Wir haben eine befreundete Familie (Edgar hat den Mann im vergangenen Jahr von der Cholera gerettet), die wohnen in einer Villa mit wunderschönem Garten und haben drei Zimmer zu viel die sie schließen und uns zum Gebrauch schon angeboten haben. Du könntest dort ein Zimmerchen Dir herrichten und entweder dort schlafen und zum Essen oder einen Theil des Tages zu uns kommen, oder bei uns im kleinen Zimmerchen schlafen und Dich dorthin zurückziehen, wenn es Dir hier unbehaglich wird. Vielleicht gehts aber auch noch viel näher bei uns, im Nebenhaus, wo uns ebenfalls ein überzähliges Zimmer angetragen. Das kostet nichts, weder hier noch dort. Das erstere sind ein jung verheirathetes Päärchen, Deutsche, der Mann ein Maler. Letzteres ist eine sehr liebenswürdige Engländerin, die sehr gut deutsch spricht, ebenfalls reich. Kurzum, machen läßt sich alles, sei nur einmal da. Nur eins muß ich Dir gestehen, ich bin schrecklich schlecht möbliert, da wirds Dir ein bisschen an Bequemlichkeit fehlen. Wenn Hedwig kommt, wird sie entweder mit Isolde oder bei Frau Hildebrand, eine geborene Schäuffelen, mit der sie überdies noch verwandt ist, wohnen. Gesellig leben wir nicht, Du darfst also gar keine Angst vor Gesellschaften haben. Bei Hildebrands wird es Dir aber bald sehr gut gefallen. Die überrreichen Kunstschätze werden Dich über manches Fehlende entschädigen und ein Herz findetst Du, das Dich vielleicht lieber hat als alle Deine Dir noch gebliebenen Freunde im Vaterland. Ich habe immmer die Empfindung gehabt, als gehörst Du, durch Deines Onkels Beziehungen zu Hermann, in unsere Familie, jetzt nach Hermanns Tod ist es mir gar als seist Du noch ein Stück von ihm. Wenn Du mir von ihm sprichst, so weiß ich Du thust es mit nahem Herzensinteresse, nicht aus Gefälligkeit oder Höflickeit.

Sonntag 17.(August)

Mein Brief blieb ein paar Tage liegen, weil ich ihn verräumt hatte, wie mir das so manchmal zu passieren pflegt, da mein Gedächtniß auch in erschrecklicher Weise abgenommen hat.

Mit Büchern wirst Du Dich nicht allzusehr belasten dürfen, besonders darfst Du keine ungebrauchten beipacken, weil der Zoll auf Bücher ganz unerhört ist. Was mir hier von unserer deutschen Literatur, belletristischer wenigstens, zu Gesicht kam, ist ganz schlecht. Was kann auch in einer Zeit von dem jetzigen Deutschland Gutes produziert werden! Auch Heyses neue Produkte finde ich im Niedergang begriffen, auch seinen Poesien ergeht es nicht besser.

Es wird Dir beim Betreten des italienischen Bodens nicht anders gehen als mir. Ich hatte eine zu glänzende Vorstellung dieses Sonnenlandes in Phantasie und sah mich enttäuscht. Ich suchte vergebens nach Bäu- men, nach Wald, nach frischen Wiesen und Bächlein. Diese Sehnsucht nach der grünen Heimat muß man ganz dahinten lassen, dann erst wird einem die südliche Schönheit aufgehen. Die kahlen Berge haben auch ihren Zauber, weil sie ein wunderschönes Farbenspiel haben, aber sicher ist, daß ein Tannenwald tausendmal schöner und praktischer ist als ein Lorbeerhain, dagegen sind die Maiennächte im Süden aber etwas ganz feen- haftes. Die Luft ist vom Orangenblüthen- und Lindenblüthenduft wahr- haft sinnverwirrend erfüllt und aus den Lindenbäumen erheben sich Milliarden von Leuchtkäferchen die alle wie Sternschnuppen durch die Nacht hin- und herzittern und sogar ins Zimmer herein schweben. Schön sind auch die vielen blumentragenden Bäume, der Granatbaum, Magnolien- bäume und die jetzt erst blühenden Palmbäume- auch die Dattelpalme kommt hier in den Gärten vor. Die Rosen werfen im Herbst ihr Laub nicht ab, sie sind immergrün wie Epheu und Lorbeer und blühen den ganzen Winter und Frühling, nur im Sommer nicht.-

Nun ist auch Isolde abgereist, und ich bin mit Balde allein, da Erwin nicht bei uns wohnt. Hedwig ist noch nicht angekommen. Du könntest auch ohne Reisegesellschaft bequem hierher reisen, denn von München gehen direkte Schnellzüge und in ein paar Phrasen, wie "che costa" und "dove si va a Firenze,"ist die ganze Reise zu machen. In Alander, erster ital. Station, wo man aussteigen und sich visitieren lassen muß, spricht noch alles deutsch. Und nun leb wohl, liebes Waldfegerlein. Möge uns das Schicksal gewogen sein und Dich über den Appenin herüber fegen. Du bringst mir die Heimath und die Jugendtage mit herüber!
In alter Liebe
Deine Marie
Anm.: Adolf von Hildebrand, 1847 - 1921 heiratete in Florenz 1877 Irene, 1846 - 1921 geschiedene Kobell, die Tochter des Industri- ellen Gustav Schäuffelen und Auguste Seyffer aus Heilbronn. Hilde- brand hatte sechs Kinder und einen Stiefsohn. Ein Enkel von ihm Harry Brewster lebt als alter Herr in San Francesco in Florenz. Dort im Garten sieht man auch etliche Skulpturen von Hildebrand. Siehe auch das Buch von Isolde Kurz: "Der Meister von San Francesco."

10.10.1879

317
Meine liebe Marie! Du wirst am heutigen Tage unter Deinen grünen Bäumen schon an mich und Deinen geschiedenen Freund gedacht haben und auch ich lasse den Tag der Trauer nicht vorübergehen, ohne an die mir Gebliebenen im ....,die von Hermann ein Vermächtniß sind, im Geist die Hand zu drücken. Die Sonne brennt mit südlicher Glut mir zum Fenster herein, noch vor 6 Jahren schienen sie hell und freundlich auf meine Qual herab. Nie hat in dieser langen Zeit meine Sehnsucht geschwiegen und meine Liebe aufgehört, aber ruhiger und stiller ists in mir geworden und jetzt hab ich nur den einen Wunsch, daß das Alter mir die Erinnerung an Leid und Freundschaften erhalten möchte, denn was lebendig im Herzen lebt, das ist nicht ganz verloren. Mit Dir hoff ich in Erinnerung manche schöne Stunde durchzuleben und freue mich darauf, jeden Tag und jede Minute. Da die hiesigen Wohnverhältnisse aber alle noch nicht geordnet sind, mocht ich nicht früher schreiben, von Tag zu Tag hoffend Dir etwas Positives schreiben zu können. Seit acht Tagen ist mein Alfred wieder nach Venedig zurückgekehrt. Über die Ungewißheit seiner Lage und meine Sorgen schweig ich für diesmal. Hedwig ist noch bei uns und wird bis Ende des Monats bleiben.Fina lag schwer krank an der Gesichtsrose darnieder, ist aber wieder wohl. Dagegen hatte ich Erwin wieder einige Wochen krank zu Bette. Die Familie, in die ich Dich einlogieren wollte, kommt vor Ende November nicht vom Meer zurück, dagegen wird unsere englische Freundin (ein Wesen voll Engelsgüte und Hingabe an die, die sie liebt,) eine große Wohnung auf demselben Boden mit uns nehmen, vom 8. November an. Isolde wohnt bei ihr und hat Hedwig ihr Zimmerchen überlassen, und so können wir auch für Dich wieder Platz finden, so bald Hedwig fort ist. Sie geht den Novembner über zu ihrem Bruder nach Palermo und will auf der Heimreise noch einmal, etwa um Weihnachten, auf kurze Zeit zu uns kommen, was Dich aber nicht abhalten darf, denn es wird sich doch auch für sie ein Platz finden, und Du wirst ihr schon Seiten abgewinnen, daß Dir das kurze Zusammensein mit ihr nicht unangenehm sein wird. Bis wann hättest Du denn Gelegenheit zur Reise? Würdest Du Dir die Reise nicht allein zutrauen, da sie von München in einer Tour zu machen ist? Sollte sich die Gelegenheit aber jetzt schon zeigen, so soll Dich die Wohnungsfrage durchaus nicht abhalten zu kommen, denn wenn man auch auf einen Monat irgendwo ein Zimmerchen miethen müßte, wäre das die Welt nicht. Überlege Dir nun die Lage der Dinge und handle danach. Mit welcher Freude ich Dich zu jeder Zeit empfangen werde, weißt Du ohne weitere Worte. Wir haben wonnevolles Wetter und alles ist jetzt wieder grün, die Hecke voller Rosen, die jetzt bis zum Frühling fortblühen. Wenn es nur noch lang so bliebe. Bei Balde gehts ordentlich. Erzählen thu ich Dir nichts mehr - das soll mündlich geschehen. Nimm ja die warmen Kleider mit, denn in den Häusern ists im Winter oft sehr kalt, auch das Holz ist unerschwinglich theuer, draußen sind es aber 18-20 Grad warm. Wenn Du kommst kannst Du mir vielleicht ein paar Exemplare "Heimatjahre" mitbringen, wenn sie bei Cotta fertig werden sollten. Sie erschie- nen in der Volksbibliothek. Ich werde mich gleich erkundigen. Leb wohl liebes Wald- und Reisefegerlein. Wie herzlich freu ich mich auf Dich! Es küßt Dich in Liebe,
Deine Marie

24.12.1879

Meine liebe Marie!

Ich kann Dir gar nicht sagen welch trübseligen Eindruck mir Dein letzter Brief verursachte, es war eine schmerzliche Enttäuschung auch den schönen Traum den ich von unserem schönen Zusammenleben geträumt. Daß Du den Plan nicht ohne triftige Gründe für den Augenblick aufgegeben, fühlte ich nur all zu gut heraus und versuche es daher nicht Dich umzustimmen. Die Hoffnung hab ich übrigens deßhalb nicht verloren, denn ich sehe nicht ein, weßhalb Du Dich nicht auf 1/2 Jahr von Deinem Bruder solltest losmachen können auch wenn Ihr zusammen lebt. Amalie kann sich so lange seiner annehmen und Du wirst ja wieder zu ihm zurückkehren. Vorerst will ich Dich mit ihm in Stgt. angesiedelt sein lassen, und dann hoffe ich taucht doch bei Dir der Wunsch wieder auf den Süden zu sehen. Unter den großen Todten von Florenz und ihren Werken geht Dir ein neues Leben auf, und da Du weißt welche Freude Du für mich bist, so wird doch auch noch ein Jugendnachklang in Dir aufleben. Und so bleibt mir Dein Kommen hierher eine ausgemachte Sache und nur eine Frage der Zeit. Es ist am Ende für Dich besser, daß Du diesen Winter nicht hier bist, weil Du sehr gefroren hättest, obgleich wir als maximal nur einmal 6 Grad unter Null hatten. Eine solche Termperatur wirkt aber hier empfindlicher als in Deutschland 20 Grad, wo man Holzhäuser und Holzböden und warme Sachen hat. Hoffentlich ist der nächste Winter besser. Auch bei Dir muß die Stimmung wieder besser werden, Du darfst noch nicht so abgestorben sein; wer im Reich der Gedanken leben kann, wie Du, der findet überall eine Heimat. Erst vor 14 Tagen hat uns Hedwig verlassen. Es gefiel ihr hier so gut, sie war so gern hier, daß sie sich gar nicht losreißen konnte. Jetzt ist sie in Palermo, wo ihr Bruder die Eisenbahnen baut.-

Im Oktober hat uns Prof. Holland besucht, er will nächstes Jahr wiederkommen. Da hättest Du dann eine Reisegesellschaft. Ludmilla Assing (Anm.3) war diesen Herbst in Tübingen bei Klüpfels und hat mir viel von dortigen Freunden erzählt, auch in Stuttgart war sie und verkehrte bei Hemsen und Vollmer. Von uns kann ich Dir nicht viel erzählen. Es sind immer dieselben Sorgen, Baldes Zustand und Alfreds Lage. Doch geht es, öfteren Störungen abrechnet, diesen Winter doch besser bei Balde. Ich lebe sehr zurückgezogen und bin am liebsten allein. Man wird im Alter immer wählerischer und ungenügsamer im Umgang. Menschen mit denen ich nicht von Hermann sprechen kann, die ihn nicht einmal als Dichter kennen, bleiben mir im ganzen doch recht fremd. Unter allen Italienern, die wir hier kennenlernten ist ein einziger bedeutender: Der Prof. Mantagezza, sowohl als Naturforscher, Weltumsegler, als auch als Schriftsteller und Poet. Einsam fühle ich mich nur wenn ich unter Menschen komme, für die ich allezusammen kein Interesse habe. Das geistige Niveau war in Tübingen doch ein höheres als hier. Unter den Künstlern ist nur Böcklin (Anm.2) wahrhaft gebildet und auch als Mensch bedeu- tend, sonst geht den Künstlern im allgemeinen sehr die wissenschaft- liche Bildung ab.

Gotthold Knapp, der arme Irre, ist nun auch seinem Schicksal erlegen. Kannst Du mir nicht Näheres über seinen Tod schreiben.(s.S.220) Wohin ich diesen Brief adressieren soll, weiß ich nicht. Ich hoffe aber, er wird Dich auch unter Deiner alten Adresse und auch über den Umweg über Großsachsenheim finden. Laß bald von Dir hören. Ich werde nicht mehr so lange mit der Zusage zögern wie dieses mal, wo ich der Abhaltungen so viele hatte. Behalte mich auch ein bißchen lieb, und rege Deine Schwingen bis sie Dich endlich über die Berge ins Sonnenland tragen, wo: "Die Myrthe still und hoch der Lorbeer steht!" Und nun lebe wohl und möge uns das Jahr 80 zusammenführen. Mit den herzlichsten Grüßen von allen, auch die gute alte Fina umarmt Dich
Deine Marie.
(Anm.1: Prof. Mantegazza, Paulo, Physiologe und Anthropologe 1831-1910 sein bekanntestes Buch: Psychologie der Liebe (dt.übersetzt) grün- dete ein anthropol. und ethnograph. Museum in Florenz und eine an- thropologische Fachzeitschrift.)

(Anm. 2 und 3: Arnold Böcklins und Ludmilla Assings Gräber sind auf dem Evang. Friedhof "Agli Allori", neben den Gräbern von Hillebrand, Homberger und Gisela Grimm geb. von Arnim noch zu sehen.) (Umschlag 24.12.79)

6. Mai 1880

(Brief an Marie Caspart nach Großsachsenheim)
Liebste Marie!
(8seitiger Brief, blaues Papier)
Dein Brief hat alle Sehnsucht nach Dir in meinem Herzen wieder aufgerüttelt, und ich eile dies Dir sogleich zu sagen, wenn ich auch nicht weiß, ob ich den Brief ohne Unterbrechung fertig bringen werde. Ich wußte gar nicht, was ich aus Deinem Verstummen halten sollte. Gleich nach Hedwigs Abreise hatte ich Dir aufs Geradewohl nach Großsachsenheim geschrieben, das war im Monat Dezember. Dann kam das Entsetzliche! Ich habe über diesen Schlag furchtbar gelitten, denn mein guter Schwager war mir, besonders seit ich in Italien bin, zu einer fürsorglichen Nothwendigkeit geworden. Seine treue Fürsorge und sein Interesse an meinen Kindern, seine häufigen Briefe waren ein Band, das mich noch mit der lieben Vergangenheit und der Heimath verknüpfte. Für alle meine gepreßten Seufzer hatte er ein williges Ohr und einen liebevollen Trost, ein, wie sein Bruder ähnliches goldenes Herz. Wie das in ihm schlug, merkte ich erst, seit ich hier war! Und all das war mit mit einem mal entrissen, und mit der neuen Wunde, der nie versiegte Schmerz um Hermanns Tod aufs neue aufgerissen! Und noch eins, was mich so tief deprimierte, also auch mein Schwager hatte dieses unselige Leiden, das ja auch bei Hermann so seinen Anfang genommen und sich so oft und gerne in dem aufgeregten Zustand und dann wieder in dieser menschenscheuen Schwermuth manifestierte. Auch der treue Vetter Johannes leidet daran, es ist ein Familienübel. Auf welches meiner Kinder wird es übergehen? Ich habe einen traurigen schweren Winter erlebt. Der Kummer nun, der mir so schrecklich entrissene Hort meines Lebens, die Sorge um die Gesundheit, nicht eines blos meiner Kinder, sondern dreier. Wir wurden alle nacheinander, samt der Josephine von der Grippe befallen. Edgar und Isolde konnten sich monatelang nicht mehr erholen. Dazu bekam Edgar nacheinander wieder mehrere Halsentzündungen, hustete den ganzen Frühling hindurch und war immer heiser und Isolde verfiel dabei physisch, was auch in einer zusehenden Abmagerung bestand und in eine solche Schwermuth, daß sie oft keine Energie zum Aufstehen hatte. Du kannst Dir denken, was ich nach den Vorgängen für eine Todesangst hatte! Glücklicherweise lud sie Frau Irene Hildebrand geb. Schäuffelen auf ihre Villa außerhalb Florenz, wo sie vier Wochen im Freien zubrachte, Luft- und Milchkur gebrauchend und zu allem eine heitere Gesellschaft genießend. Sie kam auch sehr erholt zurück und bekam wieder ihre runden Formen. Der windige April war für Edgars Halsleiden sehr ungünstig, doch jetzt ist es auch im Weichen begriffen. Meine alte Fina, die mir mit jedem Tag unentbehrlicher wird, hat einen ordentlichen Winter zugebracht und arbeitet noch rüstig fort trotz ihrer 74 Jahre. Wenn ich ihr nur ein behaglicheres Leben bereiten könnte. Ich nehme ihr ab was ich kann, es bleibt ihr aber noch viel zu thun, denn unser Leben ist durch die große Unregelmäßigkeit, was die Praxis mit sich bringt, hier viel komplizierter als in Tübingen. Alfred hat sich den Winter über ordentlich in Venedig durchgeschlagen. Im Frühling hatte er einen Patienten bis nach Breslau zu begleiten, wo er auch Wien kennenlernte. Er war zwei mal bei Flat- tichs und schreibt von der großen Schönheit Majas. Jetzt bin ich wieder seit Wochen ohne Nachricht von dem bösen Buben. Wie oft mußt ich schon telegraphieren, weil mich die Unruhe fast umbrachte und dann warens Saumseligkeiten. Erwin lebt nicht bei mir, die Wohnung ist zu eng. Er konnte sich auf die Länge nicht mit einem dunklen Kämmerlein begnügen. Er wohnt außerhalb der Stadt in einem Häuschen von Hildebrandts. So sehe ich ihn nur alle paar Tage. Er hat große Fortschritte gemacht und hat jetzt auch schon Bestellungen, die Marmorbüste eines verstorbenen Professors für die Universität, jene wofür er 1000 Mark bekommen soll, dann die Nachbildung eines antiken Reliefs. Von seinem Vater hat er ein sehr gut gelungenes Relief als Medaillon in Profil modelliert, das er nach Beendigungen seiner Bestellungen in Marmor aushauen und das dann dem Sockel der Muse in Tübingen angefügt werden wird. Sage das Frau Weißer. Es wird sie interessieren und schreibe mir auch von ihr, denn sie selbst hat so wenig Zeit. Es freut mich immer wenn ihrer im Be- obachter rühmend erwähnt wird, was oft vorkommt. Daß Emmi den Schartenmaier gemalt, weiß ich auch aus dem Beobachter. Ich möchte jetzt auch wissen wie es Isolde geht, wo sie ist, ob sie ein Engagement hat? usw. Da ich so gar nichts mehr von Dir und über Dich erfahren konnte, so frug ich in jedem Brief Keller nach Dir. Der schrieb mir dann auch, endlich habe er ein Spur von Dir aufgefunden, Du seist auf Auerbachs Zureden mit einer Frau als Reisebegleiterin in die Schweiz. Deßhalb schrieb ich Dir dann nicht mehr. Es scheint aber, daß dies nicht wahr war, sonst hättest Du es erwähnt. Ich habe die Hoffnung doch noch nicht aufgegeben, daß Du Dich einmal entschließt auf ein Jahr hierher zu kommen. Ich glaube allerdings nicht, daß es Dir für ewig hier behagen würde, eine solche Entwurzelung geht nicht gut mehr in späteren Lebensjahren, aber das viele Neue, die Wunder der Kunst und ein inniges Zusammen und Rückwärtsleben mit mir würden Dich schon eine Zeitlang bannen können. Du weißt, es reicht wohl und mußt es fühlen, daß ich mit der innigsten Liebe an Dir hänge, daß jener Hauch der Poesie und Romantik, womit Deine Erscheinung für mich immer umgeben und durch deine Beziehungen zu Hermann doppelt erklärt, was noch jetzt in meinen alten Tagen nicht geschwunden ist. Für mich bist Du immer jung und reizend, immer noch das kleine Waldfegerlein, was ich in den verschiedensten Phasen vor mir sehe, Wenn ich oft auch verstumme, weil die Sorgen und Ängste meines Lebens zu schwer auf mir lasten, so glaube nicht, daß deßhalb Dein Bild ertränkt sei, es taucht immer wieder auf und je mehr mir der Tod raubt, je inniger greife ich nach dem was mir noch geblieben.- Versuche jetzt einmal das Leben in Stuttgart. Suche auch Hemsen auf, er ist doch einer, der Deinen Onkel zu schätzen verstand, auch der Umgang mit Vollmer der eine wohl verständnisvolle und gebildete Frau haben soll, könnte Dir angenehm werden. Laß Dich von Helene Tafel oder Robert dorthin bringen.-

Einen großen Gefallen würdest Du mir thun, wenn Du einmal zu meinen Verwandten gingst. Für meine Schwägerin wirst Du gerade keine besondere Sympathie fassen, aber Luise Kurz ist ein so gutes selbstvergessenes Wesen und so grenzenlos unglücklich durch den Tod ihres geliebten Vaters, daß Du Mitleid und Zuneigung für sie fassen wirst. Es wird ihr auch wohl thun, wenn du ihr mit Theil- nahme begegnest. Ich möchte aus Deinen Schilderungen auch näheres über die Hinterbliebenen meines Schwagers erfahren, wie sich Felix entwickelt hat, denn aus Liebe zu ihm hänge ich an den Seinigen, so wenig wir auch zusammen passen.

Daß Hölderin nun ein schönes Denkmal im Tübinger Botanischer (Foto) Garten gesetzt werden soll wirst Du wissen. Hauff und Mörike sollen auch verherrlicht werden. Sie thun wohl daran, die Gestalten ihrer Dichter unter sich aufzurichten, um sich wenigstens an der Ver- gangenheit zu ergötzen, wo die Gegenwart so karg ist und keine rechten Dichter mehr hervorbringt. Kommt Dir einmal etwas Neues und Gutes in die Hände, das Du mir unter Kreuzband 8 Tage schicken kannst, so denke an mich. Wir darben so sehr solcher Sphäre, doch hält man sich eben an das Alte und findet immer neue Schönheiten in Göthe, Mörike und Hermann.

Schreib mir oft, wenn ich auch nicht immer antworten kann. Du darfst versichert sein, daß mir Deine Briefe Labsal und Erquickung sind. Sie werden nicht immer so lebensmüde läuten. Du wirst Dich schon wieder aufrappeln. Denke daran, um wie viel leichter es ist für sich ein verfehltes Leben zu tragen als ein hoffnungsloses Leben bei seinen Kindern zu sehen. Außer Erwin ist keines meiner Kinder angelegt glücklich zu sein. Ja Balde wäre es auch, wenn das Unheil nicht immer wie ein Damoklesschwert über meinem Haupte, als über dem seinigen hinge, denn er hat einen bewundernswürdigen Stoizismus. Im Augenblick befindet er sich ordentlich, doch ist keine Zweifel, das Leiden hat Fortschritte gemacht und es kommen immer so zwischen drei und vier Wochen Anfälle, die mich jedesmal in die tödlichste Bestürzung versetzen. Sein Leben ist aber ein harmonisches. Wenn er nur immer genug zu lesen hätte so wäre er sehr zufrieden. Er hat zwei Papageien und zehn andere Vögel, die ihn sehr beschäftigen und viel Arbeit drum herum machen. Soeben bekomme ich einen Brief von Alfred, in dem er mir schreibt, daß er nun seit vier Wochen keinen Patienten mehr gehabt und keinen Heller besitze. Er ist eben ein Pechvogel wie kein zweiter. Sein Unstern führte ihn in ein Haus, wo er freundliche Gesinnung fand. Er behandelte den kranken Mann an einer Rippfellentzündung, das kettete ihn, dadurch wurde das Verhältnis noch enger, denn er that es umsonst, da die Familie sehr arm ist. Nach sechs Monaten starb aber der schon alte Mann an den Folgen der Krankheit, obgleich Alfred Tag und Nacht nicht von ihm gewichen war, und er hinterließ seiner Familie nichts als Schulden. Da Alfred bei diesen Leuten wohnte, so ging sein ganzer Verdienst an diese bodenlose Noth, und er hat außer für sich für eine Frau und zwei halberwachsene Kinder zu sorgen. Mir schrieb er: "Kann ich eine Mutter mit ihren Kindern dem Hungertod preisgeben?"- Glaubte ich nun endlich etwas für Baldes Zustand tun zu können, ihn einige Wochen in einen Garten oder an die See zu bringen, so kommen solche Briefe. Da nehmen meine Sorgen nie ein Ende. Ähnlich wird es auch bei Dir sein. Schreibe mir ausführlich über alle deine Verhältnisse. Nimm einen Gruß und Kuß von
Deiner Marie

San Ferenzo, 24.September 1881

Meine theure Marie!

Ich bin Dir noch jedesmal auf jeden Deiner Briefe mit alter Liebe ans Herz geflogen, wenn ich diesmal stumm blieb, so wars nicht ein Nachlassen meiner Gefühle oder der Beweis einer geringeren Freude an Deinen Lebens- und Liebeszeichen, aber ein akuter Mangel an Zeit.

Seit 4 Wochen ist meine gute alte Josephine schwerkrank. Es begann mit Diarrhoe und Erbrechen, entwickelte sich zum Magen- und Darmkartharr. Dazu gesellte sich eine furchbar schmerzhafte Augenentzündung auf dem erblindeten Auge. Ich mochte zuerst meine Kinder in Deutschland damit nicht erschrecken, und telegraphierte Alfred aus Venedig herbei. Seiner Behandlung verschaffte der Schwerleidenden etwas Besserung, er blieb solang bis Edgar, nun doch davon benachrichtigt, von München hierher eilte. Denn nach ihm ging all ihr Seufzen, auf ihn beruhte ihre einzige Hoffnung und Edgar kann nun aber nicht länger bleiben, da ihn seine Praxis endlich nach Florenz ruft und so müssen wir denn unsere Kranke zuerst per Schiff und dann per Eisenbahn im Schlafwaggon nach Hause transportieren. Es ist mir entsetzlich Angst auf diese Reise und auf das was mir bevorsteht, denn an eine völlige Erholung glaube ich nicht mehr. Sie wird nun so allmählich auslöschen. Mit 75 Jahren erholt man sich, wenn auch das urspüngliche Übel behoben ist, nicht mehr. Nicht die Mühe, die meiner harrt ists was mich erschreckt, aber der bevostehende Ver- lust der treuesten hingebungsvollsten Seele, die je gelebt. Die lebendige Chronik einer Vergangenheit und meines Glücks geht mit ihr zu Grabe. Sie war mir nöthig und unentbehrlich wie eine Mutter. Ich werde noch manche Thräne weinen und noch manchen Angstschrei wird meine Seele thun bis es vollends ausgekämpft ist. Während ich Dir schreibe schläft sie und die andern, Balde und Edgar und Wil- hemis, die seit mehreren Wochen auch bei uns in derselben Villa wohnen sind auf dem Meer nach einem sechs Stunden entfernten präch- tigen Orte, einer antiken Stadt, in deren Ruinen Dante seine "Göttliche Kommödie" schrieb, gefahren. Bei spiegelglatter See und tief blauem Himmel fuhren sie ab. Inzwischen stiegen Wolken auf, ein Gewitter steht am Himmel und die See braust tückisch. Ich bin von jammervoller Angst gepeinigt und spreche nun zu Dir als ob Du mich trösten könntest. Jetzt bricht das Gewitter los, es ist 3 Uhr nachmittags. Vor 8 Uhr nachts können sie nicht da sein. Ich möchte mir die Ohren zustopfen bei diesem Meerestosen, - auf schwankendem Segelschiff sind sie fort!

Ich wollte Dir so viel von dem reizendem paradiesischen Ort, wo ewiger Frühling herrscht erzählen, aber das beste bleibt mir jetzt in der Feder stecken. Das kleine Schifferdörfchen, in dem wir wohnen liegt im Hafen von Spezia, gehört zu Ligurien. Vor uns das schöne südliche Meer, gleich hinter den Häusern hohe waldbewachsene Berge, hinter denen sich wie Gletscher die weißen Marmorberge von Carrare erheben. Die Vegetation ist das lieblichste was man sich denken kann. Das duftige Grün des deutschen Waldes ist mit der Flora des Südens vereint, während wir um Florenz herum nur kahle Berge und kleine Bäume haben. Hier wächst die Palme und die höchsten Orangenbäume bilden die Hecken der Wiesen und Felder, bestehen aus lauter Myrthen, kleinblättrigen, großblättrigen, alle Arten, zahme Kastanienwälder, von Feigenbäumen unterbrochen über die sich die Trauben als Laubesgewölbe erheben. - Überall alte Burgen, gothische und maurische Schlösser. Uns gegenüber auf der andern Seite der Bucht liegt das weit und breit berühmte Portovenere. (zu deutsch: Hafen des Weins) mit einem noch wohlerhaltenen antiken Venustempel aus weiß und schwarzem Marmor. Es ist ein Felsendorf, nur Caktus und Aloe wächst dort, im mittelalterlichen Häusle dort ein ... Seeräubervolk, die heutige Einwohnerschaft trägt alle Spuren der maurischen Entstammung. Ich seh dort Mädchen von sonderbarer Schönheit mit orientalischen Glutaugen und schwarzbrauner Hautfarbe, die ei- nes Sultans Harem entronnen scheinen. Hier in San Ferenzo hat Byron lange gelebt und den "Child of Harold" geschrieben und Schellings Haus steht neben unserer Villa. Die männlilche Bevölkerung ist sehr intelligent, lauter Weltumsegler, die alle Welttheile besucht und immer 3/4 Jahr auf dem Meere zubringt. Unser Hausherr, ein einfacher Schuster spricht französich, spanisch, englisch und arabisch. Er war in Indien, Californien, Mexiko, wie Garibaldi in Südamerika, später am Cap ... und in Jerusalem. Es ist höchst interessant mit diesem Seevolk zu verkehren. Für Balde, denn sie sind hier alle sehr radikal. Da ist ein Schiff des h...Maggiori ein K. gebrochen, dem alle Herzen des jungen Italiens....auf den......schiffer. Höchst originell ist , daß hier und in ganz Italien sie griechische antike Namen geben. Die Söhne unseres Hausherrn heißen: Lykos und Nykteus, der Kerle des Postmeisters Perikles. Auch die Götternamen kommen noch vor, und wie der Deutsche hin und wieder "Oh Gott" oder "Herr Jesses" unbewußt ausruft, so sagt der Italiener bei jeder Gelgenheit: "per Giove", "per Baccho", (bei Jupiter, bei Bacchus). Nur die Weiber sind fromm und gläubig, die männlichen Italiener sind sind es wo wenig als es die Römer waren.- Für heute genug über dieses Kapitel.

Isolde ist noch in München in Ambach bei Hornsteins, fängt an sich zu erholen. Die afrikanische Hitze, die wir dieses Jahr hatten, hatte sie so erschlafft. Hier ist es nie zu heiß und wird im Winter nie kühl, in Florenz hatten wir 44 Grad Celsius, und im Winter mehrere starke Winde, Schnee gibsts auch in FLorenz bloß ausnahmsweise einmal.

Ich hege immer noch die feste Hoffnung, daß Du einmal zu uns kommst und wenn wir erst eine größere Wohnung haben, werde ich Dir keine Ruhe mehr lassen. Noch einmal sollten unter uns unsere theuren Todten aufleben, noch einmal sollten wir uns zusammen erinnern, als ob uns das Leben heiß umfaßt hielte.-

Verstumme nicht wieder und behalte lieb
Deine Marie
Umschlag
M.C. Stuttgart, Neckarstr. No.11 Apotheken-Haus

(Anm.: George Gordon Noel Lord, engl.Dichter 1788-1824 "Childe Harold, ital. Stimmunsbilder)

Mittwoch 24. März 1886

Meine liebe Marie!
(12seitg.Brief)
Auf den ersten Pfiff des Waldfegerleins, woher er auch kommmen mag, sogleich zu antworten war immer mein zwingendes Gefühl. Diesmal aber traf mich Dein Brief in einer so großen Sorge um Isoldes Augenlicht, daß ich aus Herzensangst keinen Laut von mir geben konnte. Auch hatte ich mich mit ihr in die Dunkelheit eingeschlossen und verließ sie kaum einen Augenblick. Jetzt ist die größte Angst überstanden und ich kann Apell geben. Es war nicht eine äußerliche Entzündung, son- dern die sog. "mouche volantes", (Anm.) ein Flimmern und Druck im Auge. Das Ding sah gefährlich aus, wir ließen auch einen Augenarzt kommen, obgleich sich Edgar gut auf Augenheilkunde versteht. Das eine Auge ist an und für sich schwächer als das andere, und dann hatte sie den ganzen Winter über immer bei schlechtem Petroleum und schlechter Beleuchtung oft bis nachts 2 Uhr geschrieben - alles erbt sich fort, auch sie behauptet, wie ihr Vater, daß ihr die Nachtar- beit besser gehe. Unsere Angst ist jetzt vorüber, aber noch wochen- lang muß sie faulenzen, darf mir nicht einmal diktieren, da ihr der Augenarzt sagte, daß sie längere Zeit auf jede Produktion verzichten müsse, weil das produktive Denken zu viel Blut ins Gehirn ziehe. Jetzt schläft sie, und ich schreibe Dir in frühster Morgenstunde im Garten, der Mond steht noch am Himmel, doch singen die Vögel und eine Amsel, die auf dem Lorbeerbaum im Garten ihr Nest hat spaziert neben mir herum. Die Bäume haben zwar nicht verblüht, so spät sie dieses Jahr dran waren, die kleinen Veilchen sind dahingegangen aber die Hyazinthen, Narcissen und Tulpen, die Maiglöcklein duften und blühen, daneben hängen reife Zitronen am Baum und die Gesträucher sind voller Blüten.

Armes Waldfegerlein, das sich in den hohen Norden verirrt! Ja, es ist Zeit, daß es auch einmal dem Sonnenländle zufliegt, in das ich nun so fest verflochten und verzweigt bin, daß mir der Wunsch fehlt je den deutschen Boden wieder zu betreten, d.h., ich möchte im Fluge wohl all die trauten Orte, das theure Grab in Tübingen zuerst sehen, aber nur nicht mich aufhalten, sondern die, die ich noch lieb habe, die möchte ich hierher mitnehmen können. Ich lebe sehr einsam, ganz der Vergangenheit hingegeben mit meinen lieben Todten fort, als wandelten sie neben mir. Man schließt sich im Alter nicht mehr an, ich bin mit niemand intim, meine Freundschaftsbeziehungen gehören alle nur der Vergangenheit an, an die Gegenwart binden mich nur meine Kinder, die sämtlich in ihrer Eigenart wieder nicht in ihr wurzeln. Deutschland ist mir aus politischen Gründen so zuwider, daß es mir vorkommt wie schon Heine es vorahnend genannt, als ein großes Nationalzuchthaus. Viel mehr als meine politische Antipathie widern mich an: die Heuchelei, die Prüderie, die Engherzigkeit und die pießbürgerlichkeit, der Unterthanen-Knecht, samt der deutschen Kreise. Die Literatur hat ganz dasselbe Gewand angezogen und auch die tollerantvolleren Schriftsteller wie Willbrand, welch verzeifelte unnatürliche Motive wählen sie, welche Prüderie! Nur lauter norddeutsches Gezwitscher, der Vogelsang im schwäbischen Dichter- wald aber scheint völlig verstummt zu sein. Das Abhandensein jeder Spießbürgerlichkeit jeder Prüderie und religiösen Heuchelei, das absolute Nichtbekümmern des einen um der andern, macht den Aufenthalt in Italien so angenehm, der ewig klare Himmel und die 9 - 10 Monate Sommer und Frühling tragen das ihre dazu bei. Dieser Winter war eine Ausnahme. Wir hatten einmal sogar 2 Grad unter Null, Schnee sah man nie und lange Wochen blos 5 - 11 Grad Wärme, als es in Süd- deutschland 17 und in Norddeutschland 19 Grad unter Null hatte. Dennoch frieren wir im Winter in den Zimmern mehr als ihr, weil die Häuser nicht fürs Heitzen eingerichtet sind. Im Januar blühen die ersten Blüthen, im Februar die Mandel- und Pfirsichbäume, im März die Kirschen und andere Bäume. Im März sollten wir bereits Erdbee- ren haben, heuer aber sind sie eben erst verblüht.

Daß Du armes Herz eine so endlose Kette nach Dir ziehst, beklage ich tief. Kann denn Dein Bruder Pfarrer gar nichts thun? Es ist zwar sehr schön und edel, daß Du Dich so opferst, aber es ist doch auch die Nothwendigkeit da an Dein Alter zu denken. Es steht vor der Thüre, bei mir ist es längst über die Schwelle getreten. Und doch was sind alle pekuniären Sorgen gegen die quälende Angst, die mich um das Leben meiner Lieben nicht los läßt. Sieh, seit einem Jahr kränkeln meine beiden Kinder Isolde und Erwin. Vorigen Winter war Isolde noch so einzig schön, strahlend in Jugendlichkeit, man hielt sie in Rom, wo sie mehrere Wochen war, für 18jährig! Mit ei- nem mal befallen sie endlose Diarrhoen und Erbrechen und eine genaue Untersuchung ergibt eine Lungenaffektion, einen Spitzen- cartharr. Es war ein schreckliches Jahr voll Bangen. Sie litt schwer an Athemnoth, magerte bedeutend ab; sie mußte künstlich beathmet werden, eine Prozedur vornehmen, und ich glaube sie verdankt es nur diesem englischen starken Bier, daß sie nicht noch elender wurde. Mit der Lunge geht es nun wieder etwas besser, nun kommt dieses Augenleiden das sie natürlich tief deprimiert.-

Ich schreibe an diesen wenigen Zeilen nun schon mehrere Tage, denn nur geschwind in der Frühe um 6 Uhr kann ich ruhig sitzen bis sie aufgewacht, dann verlasse ich sie nicht mehr. Erwin hat seit vielen Jahren ein Nierenbeckenleiden, das seit einem Jahr stärker auftrat und ihm viel Beschwerden machte. Ein längerer Aufenthalt am Meer hat ihm gut gethan, aber er sieht aschfahl aus, kurzum, Sorgen in Menge! Dabei die akuteste der Ängste! In Venetianischen spukt die Cholera, bald werden Fälle in Padua, bald in Venedig selbst ge- meldet. Alfred schreibt mir dann zwar immer es sei nichts, aber er will mich nur beruhigen.- Isolde wollte diesen Herbst nach Deutschland, sie sollte zu Frau Keller nach Tübingen, die ihr die Correspondenz ihres Vaters einhändigen wollte. Die Reise ist jetzt ins Ungewisse verschoben. Sie will auch nicht ohne mich gehen. Von Reutlingen habe ich noch keine offiziellen Nachrichten irgend welcher Art bekommen, nur Johannes Kurz hat mir eine Nummer eines dortigen Blattes geschickt, in der es heißt, daß am 1. Mai Vorstellungen stattfinden sollten. Von Tübingen bekam ich die Nachricht, daß von den Tübinger Bürgern, die Hermann sehr liebten (nicht von den Prof. aus) eine Marmortafel ans Voigtische Haus geplant sei, Natürlich freuten mich diese Nachrichten, obgleich ich längst gar keinen Ehrgeiz mehr habe, aber schon, daß sich die Menschen mit dem geliebten Manne beschäftigen thut mir wohl. Warum sie aber Erwin nicht benachrichtigen weiß ich mir nicht zu deuten. Sie werden doch keinem andern als dem Sohn den Auftrag geben? Erwin hat indessen im Vorraus die Büste bereits gemacht. Die zu Mörike sei sehr unähnlich. Ob eines von uns zur Enthüllung kommen kann, das läßt sich jetzt nicht sagen, jedenfalls Erwin. Bei mir hängt es von Isoldes Befinden, wie vom Gelde ab. Ich habe durch den Tod meiner alten 96jähr. Freundin, Frau Rieger eine jährliche Einnahme von 800 frs verloren, die ich jetzt sehr vermisse. Die zwei Cholerajahre haben meinen drei Söhnen sehr geschadet. Alfred hat mit seiner zahlreichen Familie oft mit der bittersten Noth zu ringen, bevor die Cholera die Fremden fern hielt, ging es ihm sehr gut. Er hat zwei herzige Kinder, besonders der kleine 2jährige Tristan ist ein Prachtsbube und noch viel hübscher als die kleine 4jährige Isolde, die ich vorigen August bei mir hatte und drei Wochen mit Lungenentzündung pflegte - in welchen Todesängsten kannst Du Dir denken. Alfred ist ein sehr zärtlicher Vater. Dann hat er noch einen 11jähr. Knaben, den Halbbruder seiner Kinder (Anm.) bei sich, den ich zu Josephines Lebzeiten selbst zwei Jahre bei mir hatte. Die gute kranke Seele nannte ihn immer Balde.Das war das letzte Wort, das die Vielgetreue reden konnte. Du glaubst gar nicht, wie ich dieses goldene Herz vermisse, die lebendige Familienchronik mit der ich so zusammen ge- wachsen war. Wie wohl täte es mir wenn ich auch einmal noch mit Dir von all den Lieben, meinen todten Kindern, reden könnte!

Wenns wieder ein wenig lichter in uns aussieht und auch bei Dir gu- te Tage werden, dann mußt Du kommen. Platz ist genug im Haus und der Garten wird Dich wieder an die Pfarrhausgärten Deiner Jugend erinnern. Viel gäbs zu erzählen, aber ich habe jetzt die Zeit nicht, auch Edgar ist im Augenblick krank, geht aber weiter aus, er hat seine jährliche Frühjahrshalsentzündung.- Ich weiß nicht mehr, ob ich Dirs erzählt, daß Alfred in seinem Leben einen Streich gemacht hat, der sein Leben arg ver... hat. Er fiel in die Netze einer zwar schönen, aber viel älteren Witwe, die in keiner Weise für ihn taugt, mit der er aber nun unzertrennlich zusammenlebt, da er das Geld nicht hat zwei Haushaltungen zu bestreiten. Sie braucht gar viel und weiß nicht was sparen ist, das können die ital. Frauen überhaupt nicht.- Er hätte sie auch geheirathet, aber wir hielten ihn ab aus sehr triftigen Gründen. Für die Kinder hat es keinen Nachtheil. Hier herrschen ganz andere Gesetze und Sitten. Zahme oder wilde Ehe gilt ganz gleich, wenn der Vater die Kinder adoptiert. Die Frau ist übrigens sein Unglück in jeder Weise.- Erwin lebte auch längere Zeit in wilder Ehe mit seiner Frau. Er wollte sie aber ihrer Eltern wegen, denn sie ist eine Deutsche, heirathen. Sie leben nicht zusammen im Haus, sondern haben getrennte Haushaltungen, doch sieht man sich immer und das reizende Goldköpflein, sein Bübchen ist unser kleiner Abgott. (Anm.) Isolde hängt sehr an dem Kinde.

Nun hast Du einen Abriß von meinem Leben. Wenn Du mir schreibst, so gehe leicht über Isoldes körperliche Leiden weg und auch über die Erwins, denn ich möchte sie Deinen Brief lesen lassen. Du gehörst zu uns und sollst auch in meinen Kindern weiterleben. Du bist das Waldfegerlein nun auch in der Schweiz eingebürgert, denn Bächtold hat ds. Gedicht nebst anderen in ein Lesebuch, das er für die ... herausgab aufgenommen. Daß Isolde mit der Zeit noch eine Sammlung der bedeutensten Briefe und anderen Reminiscenzen ihres Vaters herausgeben will habe ich Dir noch nicht gesagt. Die Briefe an Deinen Onkel sind nicht uninteressanter, sogar noch individueller als die an Mörike.- Dazu mußt Du eines Tages helfen. Ich freue mich auch sehr Dich einmal etwas von Isolde lesen zu lassen. In ihren Gedichten darf sie sich in einzelnen kühn an ihren Vater anreihen. Ach, wenn sie doch wieder gesund wäre. Ich möchte noch einmal aufathmen, mich noch einmal von ganzem Herzen an der Vergangenheit erfreuen können, ohne den Druck der Gegenwart - bevor ich zum ewigen Winterschlaf mich in die Erde verkrieche, aber durch die lodernde Flamme mich mit dem All vereine. Wir stehen gegenwärtig in Correspondenz mit Frau Gisela Grimm, Bettinas Tochter. (Anm.) Sie wollte, Isolde solle einen Artikel ins Italienische übersetzen, in Betracht der Agetation für Erhaltung der mittelalterlichen Vil- len Roms, nun kann sie aber nicht wegen ihrer Augen. Frau Gisela ist ein gar komisches confuses, etwas verrücktes Wesen, aber vol- ler Glut und Idealität. Mit Garibaldis jüngster Tochter, die hier an einen Professor verheirathet ist, werde ich in nächster Zeit auch bekannt werden, sobald Isolde wieder wohler ist. Laß nur bald von Dir hören. Ich möchte, daß sich bald Deine Verhältnisse geord- et haben; das darf doch nicht so fortgehen. Hast Du denn gar keinen Freund, dem Du Dich anvertrauen darfst? Und wo steckt Dein Bruder? Das sind traurige Dinge. Lebe wohl Du armer verwaister Vogel. Ich möchte Dir nur einige Strahlen unserer Sonne miteinpacken, daß sie Dir die die Eisblumen Deiner Fenster abküßten. Ich küsse und grüße Dich in alter Liebe
Deine Marie
Die Reutlinger wandten sich an Heyse mit der Bitte, er möge einen Aufruf zu einer Festfeier im Norden erlassen. Er schrieb ihnen das würde nichts nützen. Im Norden könnten sie immer noch nicht den Literaturhistoriker Heinrich Kurz vom Verfasser des Sonnenwirts trennen, sie sollten es als Landessache betrachten. Wenn sie nur in Amerika diese Propaganda machen wollten, denn dort ist Hermann Kurz popolärer, besonders in New York, wo ein Schwäb. Wochenblatt er- scheint, das vor einigen Jahren den Sonnenwirt abdruckte. Es sind sehr viele Schwaben dort. (s.Anzeige) Ich kann mich aber nicht in die Sache mischen.

27. März

Schick mir deine Photographie, ich bin begierig, kann mir das Waldfegerlein absolut nicht alt denken, sieht auch gar nicht alt aus. Ich bin schneeweiß. Die Beine und die Lunge aber sind rüstig. Weißt Du daß Helene Tafel nach Florenz will. Sie hat im Sinn eine Art Institut zu gründen. Ich weiß es aber nur durch andere. Robert hat einen Knaben.

Die Zweiglein, die ich beilege sind weiße und gelbe Röschen, die in 334 anderen Jahren längst blühten um diese Zeit und die ganze Mauer bedeckten.

(Anm.: "Mouches volantes" = Mückensehen bei Glaskörpertrübung und Kurzsichtigkeit.

Guglielmo hieß der Pflegesohn von Alfred (siehe Strandfoto aus Forte)

Erwins Sohn ist Otto Orlando, der wie sein Vater ein berühmter Bild- hauer und Baumeister in München wurde, aber leider früh u.kinderlos starb.

Gisela Grimm liegt neben Böcklin auf dem prot. Friedhof in Florenz.)

8. Mai 1886

ohne Anrede

Bist Du denn ganz vertummt? Es ist nun bald ein Jahr, daß ich Dir nach Amalie Tafels kurzem Besuch geschrieben habe - und Du bleibst stumm. Längst hätte ich Dir wieder geschrieben, wenn ich nicht Deinen Brief mit der Adresse unter so vielen 100 anderen Briefen verräumt gehabt hätte. Jetzt fand ich ihn wieder und schicke Dir ein großes Fragezeichen? Gutes hätte ich Dir auch nicht zu schreiben gehabt, denn ich habe viel Kreuz und Kummer durch Krankheiten von meinen Kindern und Enkeln auszustehen gehabt. Es wird Dich auch freuen, daß sie Herman ein Denkmal in Reutlingen errichten. Für Stutt- gart hatte Erwin schon vor 4 Jahren ein Relief in Maror in die Dichterhalle geliefert. In Tübingen soll am Voigtschen Haus eine Gedenktafel errichtet werden. Schreib bald
Deiner Marie Kurz

Via della Porte Nuove 12, Firenze

Karte 31.7.1886 v.Calw nach Clausthal im Harz bei Dir. Meinike

Liebes Waldfegerlein! Dein lieber Brief wurde mir hierher geschickt. Ich konnte mir gar nicht denken, weßhalb der böse Vogel wieder verstimmt war. Der Grund meines Kummers ist, weil Isolde es zur Bedingung für ihre Reise machte und ich deßhalb mußte. Sie ist in der Schweiz zur Herstellung ihrer sehr erschöpften Gesundheit. Sie wird nach Arosa in Graubünden gehen. Bis jetzt ist sie in Solothurn und Zürich. Alfred ist auf dem Utlikon bei Zürich. Erwin reiste mit mir in die alte Heimat. Ich fand überall große Herzlichkeit und alte Liebe wieder, aber das deutsche Klima thut mir nicht gut, ein Tag glühend heiß, der andere kalt. Ich habe infolgedessen immer Rheumatismus und möchte nicht hier bleiben, mein italienischer Himmel lockt zu sehr. Ich war sehr gern 8 Tage in Stuttgart, habe alle alten Freunde noch einmal gesehen, gehe bald jetzt nach Tübingen aufs Grab, aber schlafen will ich bei meinen Kindern im Sommerlande. Nach Reutlingen werde ich wohl nicht gehen, das würde aussehen als käme ich dem Denkmal zu lieb, und ich hab keine besondere Freude daran, wenn die Reutlinger die 6 000 Mark für die dumme Gestalt auch einer Stiftung gaben, können doch unmöglich für ein H.K. - Denkmal begeistert sein. Deßhalb will ich speziell nichts damit zu thun haben.- Ein andermal mehr, heute nur 1000 Küsse.
Deine Marie

Sonntag, ohne Datum (wohl April 1889)

339
Meine liebe Marie!

Gestern ging ich mit dem festen Entschluß zu Bett Dir endlich einmal wieder zu schreiben. Unsere gemeinschaftliche Sympathie die wir einst für Bettina hegten und die Ereignisse der letzten Tage, wo wir nun ihre Tochter in italienischer Erde begraben, (Anm.) das verwob sich so sehr mit der Erinnerung an Dich, daß es mich drängte Dir ein Wort der Liebe und des ewigen Andenkens zuzurufen. Da treffe ich heute zufällig mit Amalie Tafel zusammen, die mir Dein liebes Briefchen einhändigte. Und die feurigen Kohlen, die Du auf meinem Haupte sammelst, brennen gleich in der That. Wie oft fühlte ich das Bedürfniß Dir zu schreiben, Dir zu erzählen, Dir zu klagen, aber gerade weil ichs fühlte schwieg ich still, und wenn dann einmal über eine solche lange Schweigsamkeit ein jahrelanges Gras gewachsen ist, kommt man nicht mehr dazu, wenigstens nicht ohne äußeren Anstoß. Ein solcher war mir der Todesfall, der mir sehr nahe ging, und da ich vermuthe, daß Du auch für die Epigonen jener so begabten Dahingegangenen, die einst die Erde mit Sang und Klang und mondbeglänztem Zaubernächten erfüllt hatten, ein theil- nehmendes Interesse haben würdest, führte es mich zu Dir. Vor zwei Jahren lernte ich zuerst schriftlich diese einmalige Frau Gisela Grimm kennen und begann die Korrespondenz mit Bettinas Tochter, dann kam sie hierher, und ich verlebte in ihrer Gesellschaft einige recht schöne Tage, wo wir eine andere Zeit und andere Menschen heraufbeschworen haben. Ich fand sie wohl manchmal abartig, was die Leute verrückt nennen, das störte mich aber nicht. Diesen Frühling kam sie nun wieder aus Rom hierher, sehr schwer erkrankt an einer rießigen Herzvergrößerung und Herzverfettung. Edgar war zwar fest überzeugt ihr mit den sehr wirksamen neuesten Mitteln noch monateja jahrelang ein ordentliches Dasein zu verschaffen, da kam aber ihre Narrheit dazwischen nur homöopathisch behandelt werden zu wollen, und so mußte sie Edgar den Händen eines Charlatans und den armen Grimm der sich nicht zu helfen wußte in seiner Verzweiflung, überlassen. Schließlich kamen Hs., eine Nichte von Gisela, eine geborene Gräfin Fleming, die warfen den Charlatan zum Hause hinaus und beschworen Edgar wieder zu kommen. Er thats der schönen Frau zu lieb, (sie ist die Flamme meiner beiden Söhne) erklärte zwar gleich es sei jetzt zu spät, verschaffte der Kranken aber doch noch einige gute Tage, sie aß wieder mit Apetitt und befand sich auffallend wohl. Da trat eine Herzlähmung ein und sie starb schnell unbewußt und schmerzlos. Hermann Grimm gab mir zum Andenken an sie ein erst gedrucktes, aber in ihrer Jugend verfasstes, Drama. Ich habs noch nicht gelesen, sondern mich über den Rythmus und den Stil gefreut, ihre Biographie war höchst wunderbar. Wie viele deutsche Dichter waren schon hier und wie viele Leichensteine stehen auf italienischer Erde. Bei der Pyramide des Cestimus(?) in Rom ruht Goethes Sohn und nicht weit davon Wilhelm Waiblinger, in Syrakus Platon und nun sind auch die Namen Arnim Grimm hierher verpflanzt.

(sehr schwer lesbar)

Montag 21. (April 1889)

Ich bin wieder unterbrochen worden. Ich sehe schon, ich darf nicht so weit ausholen und den Brief zum kleinen Manuskript machen, wenn er in Bälde fort soll, um die Schuld des Verstummens etwas von mir abzuwälzen. Daß Dir endlich nach so vielen Kämpfen, Trübsalen und Angriffen doch noch ein volles Menschenleben zu leben gut gelungen ist, und Du mit warmen Interesse an zwei jungen Menschenpflänzchen die Freuden mit den Wellen der Hamonie in Dir selbst gefunden hast freut mich seit langem aufs Innigste, denn Du mußt ja nicht glauben, daß, nachdem mein Mund stumm war, mein Herz nicht noch in alter trauter Liebe immer für Dich gesprochen hätte. Man schließt im Alter keine neuen Freundschaften, und nur wer mit uns jung geliebt und gelitten hat, ist mit uns in treuem Erinnern verwachsen. Denn es ist ein Stück von sich selbst. Wie oft hab ichs gewünscht und wünsche es noch immer, wir könnten unsere Armut zusammen thun und miteinander den Rest der Wallfahrt begehen. Nach dem eisigen Norden würde Dir so ein blumenreicher Winter hier doch auch gefallen. Mitte Januar saß ich einmal mit einer Gesellschaft bis nachts 12 Uhr auf dem Balkon, das Nestkegelchen Maja, Edgars Kind auf dem Schoß und im Garten blühte der Mespolibaum. Aber allerdings haben wir dafür den Winter, was man hier Winter heißt, dann im März und April bekommen. Kalte Gewitterregen mit Schlossen und nur etwa 15 Grad Wärme, was für hier empfindsam kalt ist, besonders in den Steinhäusern.

Ich bin nun schon im 8ten Monat ohne Isolde. Im August ging ich mit ihr nach Venedig zu Alfred. Anfang September reiste sie nach Stuttgart, doch Ende September mit Alfreds Töchterlein nach Florenz zurück. Ich hätte die Trennung nicht überstehen können ohne ganz in Trübsinn und Lethargie zu fallen, wenn ich mir nicht eine Aufgabe gestellt hätte, die alle meine Kräfte in Spannung versetzten. Die 7jährige Jole ganz zu unterrichten für sie zu kochen, zu nähen, zu waschen, denn ich habe keine Bedienung, das ist schon eine Aufgabe, die die ganze Kraft meines Alters erfordert und mich zwingt Herr über meine Gefühle und mein Sehnen zu werden. Freilich habe ich auch eine große Freude erlebt, die mich in einen Rausch und Jubel und Stolz versetzte, aber die Lorbeerblätter verstopften doch nur eine Weile lang meine Sehnsucht, jetzt erlieg ich ihr fast, denn ich war so innig mit Isolde verwachsen. Jeder kannte den Gedanken des andern, und wie früher Hermann, so war nun Isolde meine geistige Welt, die das alte Hirn nicht einschrumpfen ließ sondern es wach erhielt. Wäre Vischer noch am Leben, so hätte sie es nicht nöthig gehabt nach Stuttgart zu gehen, da er im Sinn hatte und es auch den verschiedensten Personen in Stuttgart angekündigt, daß er Isoldes Gedichte mit einer Vorrede herausgeben wollte. Das "Weltgericht," das die....boten so schlecht behandelten, war gerade sein Liebling. Er hatte es in Stuttgart öffentlich vorgelesen, ebenso Lewinsky in Wien vor einer Versammlung vor vielen hundert Personen. Am meisten erfreute mich der lange Artikel der "Berliner Nation." Das freisinnige antibismarckische Blatt von Dr. Horn- berger, der ebenfalls dem "Weltgericht" den höchsten Preis ertheilte, aber noch beisetzte, daß das, was einige mit der Welt wieder vorführen können freie Schöpfungen wie dieses Gedicht (Staatsan- zeiger und Beobachter hielten gleichen Schritt in bewundernder Anerkennnung;) im "Berner Bund" stand: "Wo hell und rein das einsame Gestirn von Hermann Kurz geleuchtet, da steht jetzt ein schöner Doppelstern Vater und Tochter."- Sieh, diese Meinung freut mich mehr als das in Reutlingen, das nebenbei gesagt so geschmacklos ist, daß es geradezu ans Lächerliche grenzt. Wir riefen all aus einem Munde, als wir die Zeichnung des Sockels sahen: "Ein leibhaftiges Bufett!" Hoffentlich haben sie wenigstens die Fratzengesich- ter weggelassen.

Ich bin auch nicht ganz mit Erwins Büste einverstanden, aber es war unmöglich sie anders herzustellen, da die Todtenmaske verzerrt und die Photographie durch die Verdeckung des Mundes sehr ungenügend ist, deßhalb fehlt gerade der Ausdruck des Mundes, des liebenswürdigen schönen Mundes. Als Hermann starb, war Erwin noch so jung, daß er nicht den Eindruck des Ganzen im Gedächtniß behielt. Hildebrandt, sein Lehrer, hält sie für sehr gut und versicherte mir, er hätte sie nicht besser machen können, auch Marie Flattich war ganz damit einverstanden, es kamen ihr die Thränen in die Augen, als sie sie sah, mir aber steht sein Bild leuchtender in der Seele.- Heyse schreibt mir, er sei stolz auf Isolde und in die Seele ihres Vaters hinein traurig, dem diese Freude zu erleben nicht gestattet gewesen. Es war, als ihre Gedichte herauskamen, gleich mein erster Wunsch Dir ein Exemplar schicken zu können, der Verleger war aber so geizig mit den Freiexemplaren, daß Isolde nicht einmal ihren Brüdern welche schenken konnte. Wäre ich nicht ein so armer Teufel, hätte ich Dir eines gekauft. Mein Geld reicht aber gerade für die tägliche Nahrung, jede Nebenausgabe muß ich meiden, nur so ist es mir möglich hie und da etwas für Alfred beiseite zu bringen, der sich vorübergehend, freilich nicht ohne eigene Schuld, weil seine Frau nicht sparen kann, in großer Noth befindet. Ich habe es mir zum Gesetz gemacht von meinen Söhnen, so zärtlich lieb, gut und besorgt sie für mich sind und alles für mich thum möchten, nichts anzuneh- men, denn nur so stehe ich frei da. Ja, wenn sie nicht verheirathet wären, so wäre es etwas anderes.

Das Leben in Italien ist nicht billig. Ich lebe, wenn Isolde bei mir ist mit 100 frs monatlich, jetzt theile ich es mit ihr und habe noch Alfreds Kind bei mir, das ich aber abends bei den Onkels essen lasse, weil ein Kind mehr Nahrung braucht als ein Erwachsener. Eine große Beruhigung sind mir auch die literarischen Erfolge von Isolde, auch im Hinblick auf ihre Zukunft. Ich glaube nicht, daß ich noch sehr lange lebe. Ich bin zwar gegenwärthig sehr kräftig und kann rennen wie ein Junges, stehe jeden Morgen um 6 Uhr auf, aber mein Herz ist nicht in Ordnung. Der Herzschlag setzt oft aus und hat Unregelmäßigkeiten, doch erwähne ich das nie. Ich habe nur wenig Hoffnung, daß nach meinem Tod ein Theil meiner Schillerstiftungs- pension für Isolde erhalten bleiben wird, und da sie selbst eine kleine Summe, 10 000 frs, die sie geerbt, im Hause stecken hat, so sehe ich doch die Möglichkeit, daß sie sich durchbringen kann, wenn ihr die Musen auch nur ein geringes Geld bringen. Die Gedichte, so reißend sie gingen, trugen ihr natürlich nichts ein, aber so wird ihr Name bekannt und die Novellen bringt sie besser an. Ihre lyri- sche Begabung ist aber jedenfalls ihre bedeutenste und auch, da sie hier ihrer Phanthasie besser walten lassen kann, in ihren Märchen ist sie reizend. Es ist ihr in Stuttgart unendlich viel Liebes zutheil geworden. Es ist, wie wenn die Menschen an ihr gut machen wollten, was dem Vater zu wenig geschehen, sie wurde fast erdrückt von Aufmerksamkeiten, Blumen, Gedichten, Lorbeerkränzen. Von den Eltern ihres todten Geliebten wird sie auf Händen getragen und so muß ich mir täglich zurufen: "Schweig stille, mein Herze".- Sie versprach mir aber bis Mai zurückzukehren, nur wird sie ja nie mehr ganz hier bleiben, weil der persönliche Betrieb ihren literarischen Geschäften nothwendig ist.

Edgar hat es in seiner Wissenschaft auch zu hoher Anerkennung gebracht und bekommt Diplome aus allen Ländern und Welttheilen, hat aber ein sehr verhetztes Leben und auch immer kein stilles Dach. Daß er, bei seiner durchaus nicht unbedeutenden literarischen Bega- bung, nicht ein ruhiges Plätzchen auf dem Parnaß einnehmen darf, hängt mit dem Einwand der Menschen und ihrer Gemeinheit zusammen, den die lernt der Arzt am allerbesten kennen, herumzuschlagen. Eine schwere Sorge ist mir meines theuren Erwins Gesundheit, die nichts weniger als beruhigend ist. So ist mein Leben reich an Sorgen und Freuden, reich in der Erinnerung an ein verflossenes Glück. Dankbar bin ich gegen das Schicksal, das mir noch vergönnt, mich im Reiche der Geister glücklich zu fühlen und mich einst, bald oder später, von Isoldes und Hermanns Melodien in den ewigen Schlaf singen zu lassen. - Viel habe ich Dir noch zu sagen, aber die Zeit und das Papier sind zu Ende.
In treuer Liebe
Deine Marie
(Anmerkg.: 20.1.1859 starb Bettina von Arnim, ihre jüngste Tochter Gisela Grimm geb. v. Arnim 1827-April 1889, verh. mit Hermann Grimm, Kunst- und Literaturhistoriker 1828-1901, Kassel Berlin. Er schrieb: Michelangelo, v.Wilh., Goethe 2 Bd., Homers Ilias 2 Bd.,Raffael und Aufsätze zur Literatur. Gisela Grimm ruht neben Arnold Böcklin auf dem protestantischen Friedhof: "Agli Allori" in Florenz, u.a. auch die Gräfin Fleming.)

Dezember 1895

Venedig, calle Finberg /e/51 345
Liebes Waldfegerlein! Es ist sonderbar wie hie und da die Gedanken bei der Beschäftigung mit einer Person, Begebenheiten herbeizitieren, die in Beziehung mit dieser Person sind. So höre denn.

Vor einigen Tagen schrieb mir Isolde, ich möchte Dich bitten Erinnerungen an das frühere Zusammenleben ihres Vaters mit Eurem Hause, aufzuzeichnen, da sie gerne etwas über Letzteres schriebe und so wenig aus der Vergangenheit Deines Onkels wisse. Ich schrieb ihr zurück, ich hätte Deine Adresse nicht, wisse nicht einmal ob Du in Württemberg seist. Dadurch kamen wir, Alfred und ich auf Dich zu reden. Wer steht nun plötzlich gestern in Alfreds Empfangszimmer. Ja rath einmal? Dein leibhaftiger Neffe, und ich fand das so natürlich, daß ich mich gar nicht darüber gewundert. Es war nicht der österreichische Leutnant, sondern der vielgereiste, arabisch redende Lebensversicherungsagent, der auch hier seine Geschäfte zu machen hatte. Was er von seinen Reisen in Palästina erzählte war interessant, so noch nie gehört und nie gelesen; die jüdischen Niederlassungen aus allen Ländern der Erde sind dorthin gezogen etc. Alfred bat ihn doch alles niederzuschreiben, er wolle es dann schon in einen Zusammenhang bringen und für die neue freie Wiener Presse zurechtmachen.- Wenn Schwaben irgendwo in fremden Ländern zusammenkommen, so geht es ohne Suff nicht ab, und so fanden sie sich am Abend wieder beim Pilsner Bier zusammen. Dann wurde Deinem Neffen die schöne Lagungenstadt bei nächtlicher Beleuchtung gezeigt und um 3 Uhr endlich kehrte Alfred zu seiner sich ängstigenden Mutter zurück.- Heute ist Dein Neffe abgereist, um seine schönen Ungarn in Trente aufzusuchen, in einem halben Jahr wird er auch nach Florenz kommen. Von ihm hörte ich, daß Du wieder in Deiner alten Heimath, Deinem geliebten Harz warst, jetzt aber wieder ins Frauenheim zurückgekehrt seist. So wiederhole ich denn Isoldes Bitte. Wenn es von Deiner Hand niedergeschrieben wird, so wird ein besonderer Zauber darüber ausgegossen sein. Fischers Gedenkstein in der Beilage der Allg. Zeitung wirst Du gelesen haben. Es ha- ben sich verschiedene Unrichtigkeiten hineingeschlichen, die ich Fischer mittheilte und die Dir auch aufgestoßen sein werden. Vor allem von Hermann, der nicht der Sohn eines Handwerkers, wie er angab war, sondern eines Kaufmanns, der mehr in der Poesie, hauptsächlich in Schiller lebte, als in seinen Geschäften und in der Seele des Knaben schon alle die Keime weckte, die einst in voller Blüthe aufgehen sollten und so Verschiedenes mehr.- Daß uns die Werke von Hermann nichts an pekuniärem Sparsinn eingetragen haben, wirst Du wohl wissen. Sie sind jetzt also wieder in ihren Besitz übergegangen aber in 5 Jahren ist das Verlagsrecht erloschen, und so ist für meine Kinder keine Aussicht mehr, einen Gewinn daraus zu erzielen, denn die Verleger können warten! Nur Reclam hat zwei Bändchen Erzählungen zum Druck eingewilligt, und dazu soll Isolde einige Szenen liefern. Nun würden die Briefe Hermanns an Deinen Onkel schon einen Stoff liefern, aber sie liegen auf der Staatsbibliothek in Stuttgart, auch wäre es ihr mehr um einige charakteristische Züge zu thun.

Ich war dieses Jahr wieder einige Monate bei Erwin in München, der Beutel erlaubte aber keine Weiterreise nach Württemberg. Auch Isolde war daselbst, holte sich aber in einer feuchten Wohnung auf dem Lande einen Gelenkrheumatismus so, daß wir plötzlich abreisen mußten. Sie kam mit mir hierher nach Venedig, blieb einige Tage um Verschiedenes anzusehen, was sie zu einer Novelle braucht, ging dann zurück nach Florenz, wo sie auf einem der Hügel in einer Pension lebt. Ich sollte schon abgereist sein, aber Alfred will mich nicht allein fortlassen und kann vor Montag nicht abkommen. Laß mal wieder etwas aus Deinem Leben hören. Der Mensch besitzt ja so viel Anpassungsvermögen, daß er sich schließlich überall zurechtfindet, besonders, wenn ihm die Liebe zu den unsterblichen Todten geblieben ist, die er zu jeder Stunde zitieren kann.
In herzlicher Anhänglichkeit grüßt Dich
Deine Marie K.

3. Februar o. J. (1904?)

12seit. Brief 347
Liebs Waldfegerlein!
Dein Brief war mir eine Herzerquickung und wie ein Wiederfinden einer mir halbverloren geglaubten Menschenseele. Und je mehr meine einstige Mitwelt hinter mir in Schutt und Asche versinkt, und wo ich noch vor wenigen Jahren da und dort eine warme Freundeshand herüberragen fühlte, wo ich mich jetzt an einem kalten Leichnahm stoße, desto größer ist die Sehnsucht, das was ich noch als mein mir dachte, fest zu halten für das Restchen Leben. -

Mißtrauen war nie meine Sache, so weit kennst Du mich selbst aus allen Phasen meines Lebens. Es kann dennoch Erlebnisse geben, die uns zeigen, daß gemeine Verleumdung laufend geheime Wege hat. Ich mag das nicht weiter erörtern, denn mein Papier dauerte mich; wenn wir uns aber vielleicht doch noch einmal wieder sehen werden, oder was schwerer ist, Du mit Isolde zusammentreffen wirst, so werden 5 Minuten genügen Dir alles begreiflich zu machen. - Ein eigener Zauber blitzt und leuchtet wie Karfunkelstein durch Deine Briefe hindurch und der ist Dir eigen geblieben auch mit den älter werden. Kaum hab ich die Züge Deiner Hand erblickt und es fährt so ein zündender Funken an mich hin und es steigt mir so lebensfroh die Vergangenheit herauf, daß ich meine, ich dürfe die lieben Gestalten nur greifen und festhalten.

Ja, du kannst sie herauf beschwören jene glänzenden blauen Augen, daß sie sich wieder öffnen und wärs auch nur für ein paar glückliche Augenblicke!! Ich bin Dir deßhalb auch so dankbar, wenn Du mir von ihm sprichst, der trotz jener Feier in Reutlingen jetzt nur noch in den Herzen Weniger und in der Literaturgeschichte eingekeilt fortlebt. Denn die heutige Welt lebt sehr schnell, und die Werke ihrer Dichter und Denker verklingen in ihren Herzen. Ich muß Dir gestehen, daß mich das Fest sehr kalt ließ. Die Leute thaten ja was in ihren Kräften stand und wie sies verstanden, ich möchte also nie dorthin etwas verlauten lassen, obgleich ich es nicht über mich vermochte eine freundliche Zustimmung kundzuthun - denn dieses ewige Breittreten Heysischer Redeweisen konnte mich nicht electrisieren. Nur das Singen der Silcherschen Melodien heimelte mich an, und daß die Kinderwelt einen Namen in sich aufnehme, der sie viel- leicht später in die Welt des Dichters einführt.

Ja, Du hast recht es ist traurig, es ist tief schmerzlich, daß das theilnahmlose Schicksal dem vom Glück so wenig begünstigten Dichter das Bewußtwerden des einzigen großen Göttergeschenks vorenthielt, das sein Genius auf sein Kind, seine geliebte Isolde sich niedergesenkt. Er kannte wohl ihre große Formgewandtheit, aber ihren Reich- thum und die Tiefe ihrer Gefühle und Gedanken, die durfte er nicht erkennen. Erst mußte sie selbst vom Schmerz gebrochen und zerwühlt werden, bevor sie die köstlichen Perlen aus dem Abgrund ihrer Seele herausfischen konnte, sie mußte fertig werden mit sich und allem was dem Weibe als Glück vorschwebt, bevor sie fast mit männlichem Geiste sich in wissenschaftlichen Studien vertiefen und mit dem Hauch der Poesie verklären konnte.- Der allgemein ungetheilte Beifall, die oft förmlich jubilierende Kritik hat mich dennoch sehr verwundert, da ich immer wähnte das Mittelmäßige das Moderne könne nur gefallen, denn ein Publikum das erst vor Jahren einer "Marlitt" zugejauchzt und seine geistige Nahrung aus höheren Töchterjournalen nimmt - und jetzt die stark gesalzenen Florentiner Novellen mit dem ganzen Gluthimmel von Italien - es verwundert mich und ich kann es mir oft kaum zurechtlegen.- Was uns aber beide neulich furchtbar geärgert, war die zwar sehr rühmende Kritik in einem Hamburger Blatt, wo es hieß, man sehe es ihr wohl an, daß sie eine Professorentochter, die Tochter des berühmten Literaturhistorikers Heinrich Kurz sei. Ist das nicht wieder eine Ironie auf alle Lorbeeren, die ihr gewunden werden. So ist die deutsche Nation und besonders diese Norddeutschen, den unbedeutenden Scribsler, den kennen sie, aber wer Hermann Kurz ist, das wissen sie heute noch nicht. Hat mir doch Hermann Grimm gestanden, daß er nie etwas von meinem Manne gelesen hätte! - Der Zauber, den das Publikum an Isoldes Novellen empfunden, liegt doch hauptsächlich im italienischen Stoffe, denn Italien ist von jeher zu allen Zeiten für jeden Deutschen ein Magnet.

Daß uns allen Italien tief ins Herz gewachsen, daß sich keins mehr in Deutschland heimisch fühlt, ist nur zu wahr, selbst Isolde, die in Stuttgart nur auf den Händen getragen wurde, mit Huldigungen aller Art überschüttet, sie konnte nie eine quälende Sehnsucht nach dem tiefblauen ewig klaren Himmel und den schönen Sommern bannen un doch mußt Du ja nicht glauben, daß dem hiesigen Leben nicht große Mängel anhafteten, daß man nicht eine Sehnsucht nach geistigem Verkehr spürte, dem absolut nicht entsprochen werden kann. Für Isolde besonders war dieses Florenz die einzige Stadt, die sich je mit Recht mit Athen verleichen konnte, eine Fundgrube von unschätz- barem Werthe, sie brauchte nur die großen Todten zu citieren und eine ganze Welt erschloß sich ihr und mir durch sie, die uns bis dahin zum größten Theil fremd war. Auch das Meer hat ihr viel Schönes und Bleibendes erzählt, und sie hat auch jetzt noch manche ungelöste Aufgabe vor sich; nämlich das Volk und die verschiedenen südlichen Provinzen zu studieren. Aber sieh, der Mensch kann nicht immer nur in sich aufnehmen, sich vollstopfen und wiedergeben, ohne mit gleichstrebenden Menschen Umgang zu haben und das fehlt uns absolut, wir sind wie auf einer Sandwüste, an deren Horizont freilich die prächtige Fata Morgana auftaucht - aber sie genügt nicht zum Weiterleben. Das war freilich früher anders für Isolde, solange der Freund noch lebte, mit dem sie die Schätze der Kunst durchforschte und mit dem sie arbeitete. Es mag wohl irgendwo eine strebsame Seele, ein ebenbürtiger Mensch sein, aber man kennt ihn eben nicht. In der großen Stadt trifft sich niemand, keins weiß was vom andern, frühere Bekannte haben sich verzogen und so kommts, daß wir gar keinen Umgang haben.

Erwin, der gerade so nach gleichstrebenden Künstlern schmachtet, ist den ganzen Tag in seinem Atelier vergraben, Edgar hat wenigs- tens in einem italienischen Collegen einen Freund und auch eine Befriedigung durch seine chirurgische Thätigkeit und seine Polyambulanz, auch er ist fast nie zu Hause. Nun kannst Du Dir schon denken wie sehr es Isolde an Anregung fehlt, deßhalb, so herzzerreißend es für mich ist, ich weiß es, sie muß wieder fort unter Menschen, die offene Sinne haben, mit denen sie wenigstens reden kann. - Wir hatte im Sinn, den Winter in Rom zu verbringen, aber das Geld wollte sich nicht dazu strecken lassen. Dann wollten wir uns auf Venedig beschränken, wo manches Interessante auf den dortigen Inseln noch zu besichtigen wäre und dies hätte dann der zu schreibenden Novelle die venezianische Lokalfarbe gegeben. Da kam die böse Krankheit, die uns der Reihe nach alle befiel und von der wir uns noch nicht erholt haben. Isolde hatte die Influenza zweimal, dann wurde Edgar so furchtbar befallen mit Bronchitis und Laryngitis und dabei gezwungen Besuche zu machen, zitternd vor Fieber - daß es ein Jammer war. Die Angst brachte mich fast um seinethalber, denn nur zwei Tage hielt er sich zu Hause, da wich ich nicht von seinem Lager und hielt immer seine Hand, und er wollte mich nicht mehr los lassen. Die Folge war natürlich, daß auch ich erkrankte und zwar mit solcher Macht, daß ich wohl sagen kann, ich habe mich in meinem ganzen Leben nicht so elend gefühlt als jetzt. Ganz rasend drückte mich ein Kopfschmerz darnieder, dazu ein Ohrenweh und bohrte ein Augenweh, daß ich fast von Sinnen kam. Jetzt ists besser und ich hoffe, daß auch Du Deines Schmerzes wieder ledig bist? Wenn nicht, so nehme doch ein Gramm Antipyrin. Erwin und die Kinder gingen auch nicht leer aus, besonders die goldige Maja hatte bös zu leiden. Ebenso war Alfred mit seiner ganzen Familie erkrankt und sein Tristan sei noch immer sehr leidend. In Venedig, wo noch die Pocken herrschen und sogar noch ein Fall von Cholera auftrat, was in dieser Jahreszeit ganz unerhört ist. Ich möchte nur wissen, was die Ursache ist? Ist unser Planet vielleicht gerade durch einen Urnebel oder einen Kometen- schweif hindurchgewandelt, etwas Cosmisches muß es doch sein? -

Isolde, die Deine Briefe so gerne liest, hat bei der Stelle, in der Du sagst, von den Meinen habe jeder sein Glück auf seine Weise hier in Italien gesucht und gefunden, ihren Mund zur schmerzlichsten Ironie verzogen. O liebe Marie, glaubst Du denn wirklich, daß einem von Hermanns Stamm das Glück als Erbe zugefallen wäre? Und wer ist glücklich, darf man wohl fragen, doch wohl nur sehr beschränkte Wesen, die in das große Weltgetriebe mit seinem Ringen, Streben, Unzulänglichkeiten, seinen Enttäuschungen niemals einen Einblick gethan. Wenn Isolde Triumphe erlebt, so sagt sie mir: "Sieh Mama, nur Dir zu lieb freut michs, weil ich Deine Mutter- schwäche kenne und so froh bin, wenn Du eine Freude hast, mich beglückt der Beifall der Menge nicht, ich schreibe, weil ich schreiben und dichten muß." Bei meinen Söhnen ist ebensowenig einer glücklich. Alfred ist es noch am ehesten, weil er der leichtlebigste ist, und er über den Genuß eines schönen Weibes und einer guten Flasche Wein alle Drangsale des Lebens vergißt. Erwin ist der ernsteste.

Ich habe Dir nun viel vorgeplaudert, aber immer noch nicht so recht, was ich Dir eigentlich sagen wollte, mich immer an der Peripherie gehalten, wenn ich ins Innerste dringen wollte. Ich werde alt, besonders seit der letzten tückischen Krankheit haben meine geistigen Kräfte nachgelassen. Meinst Du, Du vergessest allein die Namen und Zahlen, da kann ich auch mit dem blödesten Gedächt- niß aufwarten und mein Portemonnaie oder meine Schlüssel verlieren des Tags hundertmal, in der Vergeßlichkeit übertrifft mich höch- stens noch Rosa. - Ich kann es so gut begreifen, daß Du trotz der Sehnsucht nach dem eigenen Herd die Kinder nicht lassen kannst - nicht das Blut ists, das was die Kinder so lieb macht, es ist die Mühe, Sorge, die Schmerzen und Ängste, die wir um sie ausgestanden haben. Es freut mich Dich so tapfer, so muthig Deinen Lebensweg gehen zu sehen und Dich auch so für die Freude empfänglich zu wissen. Seit einigen Jahren ist mir der Lebensmuth abhanden gekommen. Ich trage ein große verborgene Qual mit mir herum. Sieh, Isolde und ich, wir sind so ineinander verwachsen. Sie ist mir das Höchste, was ich besitze, in der Liebe zu ihr ist etwas von dem Gefühle, das der Künstler die Madonna empfinden läßt, die anbetend vor ihrem Bambino auf den Knien liegt - daß aber auch ich meinem armen Kinde ihr Alles bin, das ists gerade, was mich mit so unend- lichem Jammer erfüllt, daß es mir die letzten Jahre verbittert. Bei jeder neuen Runzel, bei jedem Erkranken bebt sie zusammen, sagt sie mir ängstlich: "Erhalte Dich mir, schone Dich, Du gehörst mir, ich habe nichts als Dich auf der Welt! Und das ist schrecklich! Wohl hat sie ihren Genius, der sie vielleicht trösten kann über Vieles, aber pflegen kann er sie nicht, liebkosen kann er sie nicht und wenn einmal meine Augen sich schließen, so ist sie entsetzlich allein. Wie wenig Brüder, und noch dazu verheirathete Brüder einer Schwester sein können, auch wenn sie stolz auf sie sind, das weißt Du aus Erfahrung. Das liegt in der Natur der Sache und nur wenige Ausnahmen gibt es, wie es bei Mörike der Fall war.

Auch meine Söhne hängen mit rührender Zärtlichkeit an mir. Mit Edgar ists noch ganz dasselbe wie als er Knabe und dann ein Jüngling war. Er läßt mich nachts noch oft in sein Bett oder sitzt an dem meinigen, und morgens muß ich stundenlang zu ihm hinsitzen, ihn unterhalten und endlich auf die Beine bringen, denn das Spätaufstehen haben sie alle von ihrem Papa geerbt. Aber wenn sie mich eines Tages missen müssen, so sind so reizende Kinder da und besonders für Edgar sein Wunderkind, das ihm aus seinem Haupt entstiegen zu sein scheint, ein Freund, Lehrer und Erzieher zu sein - daß ich weiß, sie werden und sie müssen mich verschmerzen. Isolde wünscht sich so sehr ein Kind, ach hätte sie doch eines, was müßte das erst für ein Götterkind werden.

Seit ich den Brief angefangen habe, sind einige Tage darüber hingegangen, denn ich habe wenig Muße zum schreiben, da ich mir die Zeit dazu nehme, die Isolde für sich zubringt. Wir treiben viel zu- sammen, bald liest sie mir vor, bald hält sie mir über dieses oder jenes freie Vorträge. Sie interessiert sich ungemein für die Afrikaforscher Erwim Pascha ist ihr angebeteter Held und in Folge dessen habe ich mich auch mit allem vertraut gemacht, was im dunklen Welttheil vor sich geht. Dann lesen wir wieder Plutarch oder Herodot und im Augenblick treiben wir zusammen Architektur. Isolde wollte nach Syrakus auf einige Monate, was allerdings von hohem Interesse für sie gewesen wäre, denn dort besteht die Bevölkerung noch aus wirklichen Griechen. Die Stadt sei wunderbar voll von Ruinen von griechischem Göttertempeln, mich faßte aber eine solche Angst, sie könnte mir auf der langen Meerüberfahrt ertrinken oder in Sicilien von Räubern überfallen werden, daß ich sie bat dem Plan zu entsagen, aber natürlich mache ich mir innerlich Vorwürfe. Nach Stuttgart muß sie im Laufe des Jahres, denn Nast will jetzt ihre Märchen herausgeben. Dann folgt die zweite Auflage der Gedichte und ein Bändchen Seeskizzen. Zu all dem aber muß sie an Ort und Stelle sein. Wie gerne möchte ich sie begleiten, im Beutel wäre zwar ge- nug, wenn nur nicht auch noch die Eisenbahnangst wäre. In Italien vergeht kein Tag an dem sich nicht ein Unfall ereignet und in Württemberg ists nicht besser. Im Monat November warens allein 17 Eisen- bahnunglücke. Ach, wenn nur die Abschiedsstunde nicht schlagen müßte. Verzeih, daß ich Dir nur immer von meinen Kindern rede, aber ich habe so wenig Gelegenheit mein Herz auszuschütten. Es ist mir leid, Helene Tafel diesen Winter entbehren zu müssen. Das war doch ein verstehender Mensch. Schreib mir auch manchmal wieder. Du thust mir viel Wohlthat. - Bächtold hätte schon lang Sehnsucht nach der Corres- pondenz Deines Onkel Rudolph mit Hermann. Ich habe aber bemerkt, daß das Publikum keinen Geschmack an solchen Correspondenzen hat, vielleicht kommen einmal auch wieder Zeiten, lassen wirs also noch liegen. Isolde denkt daran später etwas über ihren Vater zu schreiben, dazu muß sie aber erst selbst noch bekannter sein und eine bleibende Stelle in der Literatur einnehmen, niemand kann ihr dabei an die Hand gehen so gut als Du.

Nun ists die 12te Seite - so wirst Du Geduld zum Lesen brauchen.
Sei herzlich umarmt in treuer alter Liebe
von Deiner Marie K u r z
Auch ich vergesse alle Adressen.
Meine Adresse: Signora Maria K u r z Via della Porto Nuove 12, Firenze
Schreibe nie auf einer italienischen Adresse: Frau Doktor, das gibt nur Verzerrung und dann großen Spott.

18. Mai 1904

(Geburtstag meines Balde)
"Liebe Marie!
Du hast den rechten Ton getroffen, einen belebenden Hauch in ein zerrissenes Herz zu senden, es über sich selbst zu erheben, nach dem mir noch Gebliebenem zu greifen und wenn auch nur auf kurze Momente, so waren sie doch und kommen sie wieder, wenn ich hilfe- suchend in deine Zeilen schaue. Es ist unsäglich was ich leide und doch muß ich dem Schicksal noch dankbar sein, daß mich der Schlag nicht bälder traf. Mit 77 Jahren ist bald ausgelitten! Ich war ja in solchen Schmerzen kein Neuling. Ich verlor in Hermann eine Welt, aber er selber ging fast schmerzlos, ahnungslos aus dem Leben; ich hatte dringende Pflichten, Liebespflichten zu erfüllen, ich erfüllte sie in seinem Namen in seinem Geiste; mußte dann meinen Jüng- sten verlieren, aber durch seines Bruders Kunst war sein Sterben kein Sterben, ein Lächeln auf den Lippen schlief er ein. Und nun aber Edgar, der Held, der Märtyrer, der sich fortwährend selbst aufopferte, mußte 10 Tage gräßlich leiden, eine dreifache Krankheit zermarterte ihn: Lungenentzüdung, angesteckt von einem Kranken, Rippfellentzündung und Unterleibsentzüdung...sein Pflichtgefühl, seine Liebe zur Wissenschaft führten in den Tod....Mein Edgar todttodt, im besten Mannesalter!..."Er ist unersetzbar", ist die allgemeine Klage. Aber er war nicht allein Arzt und Naturforscher, er war ein hochbegabter Poet. Dicke Bände seiner Gedichte liegen nun bei uns. Isolde wird eine Auswahl zum Druck treffen. Das Erscheinen seiner toskanischen Lieder war die letzte Freude die ihm zu- theil wurde. Sie wurden mit Jubel aufgenommen und er genoß diese Anerkennung noch vollständig....Die allerhöchste Meisterschaft war sein Liebe zu seiner Maja, die nun ihre ganze geistige Welt verlo- ren hat...Alfred und Erwin waren über Edgars Krankheit hier. Erwin wollte mich durchaus gleich mit sich nehmen...ich wohne seit zwei Jahren ganz bei Isolde... Lese was Hildebrandt über Edgar schrieb in der Allg. Zeitung. Isoldes Arbeit stockt natürlich, und nun soll ein Nachruf an Edgar aufgestellt werden wenn, wie ich hoffe, sie selbst zur Ruhe gelangt ist...

Wie gerne möchte ich Dich noch einmal wiedersehen, unserer Jugend- tage gedenkend. Edgar hatte immer ein reges liebevolles Erinnern an Dich. Rosa hat ihn mit voller Hingabe gepflegt, die Klage um ihn brach die eiserne Rinde entzwei. O mein Waldfegerlein. Du hast wohl nur in den unwichtigen Dingen den Gedächtnißschwund, das Wahre das Wichtige leuchtet fort.
Lebe wohl.
Deine Marie
- Es ist eine Wohlthat wenn Du mir schreibst, verstumme nicht wieder!

Karte vom 10. September 1904

(an M.C.im Frauenheim Stgt.)
Meine liebe Marie!
Ich habe Dir vor einigen Wochen einen langen Brief mit J. aus einem Medici-Journal geschrieben, aber ohne Kenntnis Deiner Adresse, denn Isolde wußte sie nicht mehr, so schrieb ich nur: "In der Nähe der Schloßstrasse" und zweifle jetzt ob der Brief an Dich ankam. Jetzt möchte ich Dich auf die Südd. Monatsschrift (Septemberheft) hinweisen, in der eine ausführliche Lebensbeschreibung von Isolde über ihren Bruder kommt, die Dich vielleicht auch interessieren könnte.

Isolde ist leider sehr übel dran, ein solcher Schwächezustand hat sich ihrer bemächtigt und dabei eine fatale Nervenüberreizung. Der zu kurze Badeaufenthalt am Staffelsee konnte ihr nichts nützen, da es immer regnete und sie die Bäder nicht machen konnte. Ich bleibe solange hier, bis ich eine Besserung sehe, denn mit den Sorgen könnte ich nicht abreisen, sobald ich beruhigter bin, geht es auf einige Zeit zu meinem Alfred und dann - dann hoffe ich bald schei- den zu dürfen, denn ich erhole mich nicht mehr von dem Schlag der mich getroffen hat, neue Sorgen aller Art drücken mich nieder und mit 77 Jahren hat man ein Recht auf die Ruhe, die das Leben nicht mehr gibt. Ich habe ja auch meinen Theil an Glück besessen. Ich grüße und umarme Dich in alter Liebe.
Deine Marie
Jetzt hat die Luise Kurz Deine Adresse geschrieben.

o.D.

(Zettel, Ecke fehlt, gehört auch nach dem Inhalt wohl zu 1904?)

Du fragtest nach Heyse. Ich habe ihn vor seiner Reise nach Gau- dore noch einmal flüchtig gesehen als Rekonvaleszenten von einer Lungenentzündung. Er sah sehr schlecht aus und klagte über seine Beine die ihn nicht mehr trügen, doch sah ich ihn auch noch gesund bei meiner Ankunft, da sah er noch sehr gut aus. Ich muß übrigens Dir gestehen, daß mir der schriftliche Umgang mit ihm, der nie aufgehört hatte, viel mehr Genuß bereitete als der persönliche. Das mag der Unterschied zwischen Nord- und Süddeutschland sein. Seine Briefe blieben immer entzückend. Den einen Theil des Briefwechels mit Hermann haben wir bei unserer Ankunft gelesen. Auch Isolde, die viel kühlere als ich, war ganz entzückt von dieser Freund- schaft, so daß sie sagte, jetzt erst begreife sie meine einstige Schwärmerei für ihn. Den 2.ten Theil werden wir wohl nicht mehr zu lesen bekommen, denn bis Heyse wiederkehrt sind wir nicht mehr hier.- Ich wollte Dir noch etwas sagen, aber es fällt mir nicht mehr ein. Mein Gedächtniß hat große Lücken bekommen. Was noch frisch in mir war hat Edgar mit mir fortgenommen. Jetzt fällts mir wieder ein: Das Buocher Mädchen ist ein Mythos. Nie ist eine Wärterin über unsere Schwelle gekommen. Jede Nacht waren die Brüder und zwei Ärzte da, auch Rosa entfernte sich nie, wohl aber schwärm- ten alle Diakonissen und Schwestern auch die englischen, katholi- schen für den Heiden. Hier besuchte mich eine Johanniterin, die mir in leidenschaftlichster Ekstase um den Hals fiel, ein junges Mäd- chen, die mir sagte, daß sie nie mehr Florenz betreten könne, ohne ihn, den so hochverehrten zu finden. Ich sehe wohl, das war mehr als Verehrung, das war Liebe. Und wie viele kenne ich die ihn liebten, ohne daß er eine Ahnung davon hatte und sie sagtens mir alle an seinem Todestage und es that mir wohl.

19. September 1904

(aus München) 357
Mein liebes Waldfegerlein! Hoffentlich treffen Dich diese Zeilen nicht mehr im Bett. Mein erster Gedanke ist gleich bei Erkrankungen von mir lieben Personen; ach wenn jetzt nur Edgar da wäre, wie schnell würde er helfen. Er war einzig, welch glückliche Griffe in allen seinen Fällen er bis zum Spätherbst des Jahres 1903 hatte. Er reiste im Oktober lange vor uns nach Florenz zurück, Maja sollte die Meerbäder noch länger gebrauchen. Wir begleiteten ihn durch den Pinienwald zur Station Pietrasante, und da war es mir so unedlich schwer zu Muthe daß ich einmal weinte. Als ich ihn zum Abschied noch umarmte, konnte ich ihn nicht mehr loslassen, ich lief ihm nochmals nach und meinte vergehen zu müssen vor Schmerz und Sorge. Alle lachten mich aus. Das war eine unbewußte Vorahnung, denn nichts beruhigte mich, obgleich er völlig gesund war. "Dieser Herbst ist eine schlimme Praxis", schrieb er mir bald, "lauter schwere chronische Fälle". Und als auch wir zurückkehrten kam ein Todesfall nach dem andern und er war angestrengt vom Morgen bis zum Abend, bis der blumenreiche April auch ihn davon nahm. Sein Garten war eine Rosenpracht ohnegleichen. Am Tag als er sich legte, sagte er noch zu Rosa: "So schön habem unsere Rosen noch nie geblüht." Zehn Tage später lagen sie alle abgeschnitten auf seiner Leiche und seinem Leichenwagen und gingen mit ihm auf in der verzehrenden Flamme. Sage mir, muß ich denn so wühlen in meinem Schmerz, warum finde ich denn keine Ruhe, stundenlang liege ich bei Nacht und jene herzzerreißenden Bilder umgeben mich im Bett. Nur Dein Briefe rütteln mich auf. Worin steckt diese Deine Kraft? Du bist die viel Jüngere und doch viel Geklärtere mit dem Leben abgeschlossene. Du kannst Dich noch freuen an Blumen und Blüthen. Die Natur scheint mir jetzt sogar grausam. Eine Künstlerin im ästhetischen Sinn, aber nicht im ethischen, denn Grausamkeit ist ihr Gesetz! Sie läßt duften und blühen und leuchten, aber unter dem Wege kriecht ein halbaufgefressener Käfer, der seine Mörder mit sich im Grase um- herschleppt, und das reizende Lascottchen steckt im Munde der Katze. Die Schnecke wird am Wege zertreten. Warum, warum hat die Natur nicht mit Liebe schaffen können, warum fühlen nur einzelne Menschen eine Liebe für alles was da athmet, und die andern morden sich untereinander durch Suggestion und mordende Bestialitäten. Ich habe mich in d.l. J. viel mit dem Buddhismus abgegeben. Das ist die reichste vollendeste Ethik, eine Religion ohne zu hoffende Belohnung, ohne Vorurtheile, völlige Duldung Andersgläubiger, dagegen das Christenthum Fetischismus, Barbarei. Aber wenn die ganze Menschheit dem Buddhismus huldigte, so wäre der Sauerteig aus der Welt geschieden und keine Gährung mehr möglich. Unter den alten Philosophen vertritt Epiktet ganz diesselbe Rich- tung, aber eine solche Verneinung seines Ichs ist eben der Natur entgegen. Man mag in der Liebe, besonders in der Mutterliebe sein Schmerz schreit es allmächtig auf

Du wirst inzwischen die Monatshefte erhalten haben und die Bekanntschaft mit Edgars Entwicklung gemacht haben. Es gab wohl selten einen interessanteren, und trotz seiner starken Individualität weicheren Menschen! Vorgestern besuchte mich eine Johanniterin, da war jedes Wort was sie sprach, die flammendste Begeisterung für Edgar. Er wäre für sie, wie für alle Schwestern am Krankenbett von Schwerkranken stets ein Trost gewesen. Er hatte Thränen in den Augen, wenn er sie von einem Kranken- oder Sterbelager hinausbegleitete. Für sie habe das wie ein Labsal gewirkt. Weißt Du, solche Worte sauge ich begierig in mich hinein. Sie könne nie mehr nach Florenz zurückkehren, denn Florenz ohne Edgar sei für sie ein Grab. Es sprach freilich aus dem jungen Mädchen mehr als bloß Verehrung für den menschlichen Arzt- aber gerade auch das, daß er die Herzen so vieler Frauen noch entzündete, war mir eine Wonne. Obgleich er ganz weißhaarig war, nur der Bart blieb blond, seine Gefühle waren rosig jung und die blauen Augen leuchteten wie die seines Vaters, und auch sein Gesicht wurde ihm immer ähnlicher. Jetzt, solange sein Gedächtniß noch in so Vielen lebt. Isolde bekommt von überall her Briefe von Profesoren und Doktoren, voll von Anerkennung, ich ebenso. Am meisten rührten mich die Briefe seines früheren Lehrers am Gymnasium Prof. Kayser, der mir schrieb er sei stolz auf seinen Schüler.

Ists noch ein Festhalten- aber die Zeit geht auch darüber hin und wischt die Spuren weg und dann wohnt er nur noch in meinem Herzen solange dieses Herz noch schlägt. Am Schwersten wird mir immer zu Muthe, wenn ich mit Rosa zusammen bin, die mir so traurige Dinge erzählt, wie er seinen Tod geahnt, wie ungern er gestorben sei, und ich glaube auch, daß eine solche schöne Flamme noch nicht erlöschen mochte. Rosa ist sehr gebrochen, ist sehr ungern hier, ebenso Maja, sie werden auch nicht zu lange mehr bleiben. Letztere geht in eine Malschule, aber alles was sie hier an Kunst sieht, ist so weit entfernt von jener herrlichen Renaissanceepoche Italiens, daß sie es nur mit Spott betrachtet. Das nächste mal schicke ich Dir einige der Gedichte, oft sieht ganz der Vater daraus hervor. Auch sie hat diese Unruhe, nur nicht die Ausdauer und volle Hingebung an das Erfasste. Sie hängt dem Schmerze nicht nach, fühlt ihn wohl, aber sie will genießen und dazu berechtigen sie auch ihre jungen Jahre.

Noch habe ich Dir nichts von Isolde gesagt. In ihr wäre noch eine schöne Sonne für den Rest meines Lebens gewesen. Sie ist die volle Erbin, der Genius ihres Vaters- hat aber auch ein anderes Erbe übernehmen müssen- sein schweres Gemüth und sein immer wieder- kehrendes Nervenleiden. Immer wird sie in ihren besten Arbeiten davon ergriffen und es folgen lange Pausen der Unthätigkeit und innerer Verzweiflung darüber nicht mehr produzieren zu können, dann kommt wieder ein Strahl über sie - bis jener circulus vitiosus (dt.= fehlerhafter Kreislauf) wieder beginnt. So geht es ihr auch jetzt. Sie kam nicht erholt von Murnau zurück, konnte infolge des Regens und der grimmigen Kälte dieses trüben Nordlandes die Bäder nicht gebrauchen und sitzt nun hier ohne eine ordentliche Pension gefunden zu haben, trübselig. "Wie glücklich ist mein Bruder," ist ihr täglicher Stoßseufzer. Es gehört schon eine große Lebenskraft dazu das mitanzusehen und nicht helfen zu können.- Deine Briefe sind auch ihr immer eine Erquickung. Du bist ihr über alle Maßen sympatisch. Wie oft las sie uralte Briefe von Dir und suchte die Geistesblitze heraus und die kurze Zeit mit Dir zugebracht war ihr behaglich und wohlthuend. Aber der Aufenthalt in dem dumpfheißen Klima von Stuttgart hatte ihren schon in Florenz so mitgenommenen Nerven den letzten Druck gegeben. Sie könne an eine Rückreise nach Florenz vorerst gar nicht denken, und so muß ich auch hier fest- sitzen. Wäre sie wohlauf, so führe ich die nächsten Tage mit meiner Enkelin Jole nach Venedig. Jetzt weiß ich nicht, was das Schickal mir bestimmt hat. Eine große Freude ist mir durch Erwin geworden. Er hat nach der sehr entstellten Todtenmaske die Büste Edgars staunenswert hervorgezaubert. Er ist im Gemüthsleben seinem Vater am ähnlichsten. Keine Spur von Ehrgeiz und ganz dieselbe stolze Bescheidenheit, das in sich hineinleben wie Hermann. Ich sehe ihn nie vergnügt, nichts lockt ihn, weltabgewandt findet er Befriedi- gung nur in der Arbeit, er begreift alles am Menschen, entschuldigt alles und ist der vollendete praktische Philosoph.- Alfred ist das Gegentheil, aber ebenso gut wie er, nur unbesonnen und noch weniger im Leben tauglich, weil er es nicht versteht. Er ist ein gewissenhafter und sehr guter innerer Arzt und voll Hingabe, aber Edgars Zartheit hat er nicht; sein Familiensinn, seine Liebe zum Vater und den Geschwistern ist am meisten bei ihm ausgeprägt. Wenn ich bei ihm bin, quält er mich aus Liebe. Wenn aber ein Mensch den Faust nicht auswendig kennt, so ist er ihm unsympathisch. Sein Gedächtniß ist phänomenal, jedes Wort kennt er was sein Vater geschrieben hat.- Ich habe an jedem meiner Kinder einen Schatz, aber mein fatales Gemüth läßt mich die Freude nicht genießen. Die Liebe ist so sehr durch das Gewand der Angst verkleidet, daß ich in allem kleinsten Veränderungen die Dämonen lauern sehe. Ich glaube weil Du nichts ganz Nahes mehr zu verlieren hast ist der Friede in Dich eingekehrt und die philosophische Ruhe einer nun nur noch geistig Genießenden.- Möchtest Du nur auch bald die Schmerzen los werden, und Dein jugendliches Äußeres Dir erhalten bleiben. Schon Edgar behauptete vor Jahresfrist: " Sie ist nicht älter geworden als dazumals wo sie bei uns in Tübingen war." Wie oft lasse ich auch Dein Leben an mir vorüberziehen. Unser erstes Begegnen in Obereßlingen, dann die traurige Episode im Haus von Dr.König. Auch Dein Leben war ein Martyrium. Ich habe noch keinen einzigen glücklichen Menschen kennengelernt, nur die Jugend kann glücklich sein, weil der holde Wahn sie noch täuscht.

Lebe wohl und laß uns nun bis an mein Ende beisammen bleiben. In treuer Liebe
Deine Marie
Was macht meine alte Freundin Maja? Ich mochte ihr nicht schreiben wegen der sonderbaren Geschichte an D. Hochzeitstag. Heyse kommt bald zurück. Er ist in Karlsbad, dann bekommen wir den zweiten Theil des Briefwechsels.- Seine ersten Briefe an Hermann sind das Bezaubernste was man sich nur denken kann. Isolde begreift es jetzt, daß ich so für ihn schwärmte. Doch habe ich in späteren Jahren einsehen gelernt, daß ein täglicher Verkehr der beiden Freunde, das Verhältniß nicht auf dieser idealen Höhe hätte halten können.

Anm.: griech. Philosoph, um 50-138, lehrte als Stoiker: "Das erste in der Philosophie ist, unterscheiden lernen, was in unserer Gewalt steht und was nicht." Siehe auch Goethe und Kant.

10. Januar 1905

(aus München) 371
Liebes Waldfegerlein!
Wenn ein Brief von Dir kommt, so möchte ich nur immer Dir ans Herz fliegen, wenigstens Dir die Gedankengrüße aufs Papier bringen. Aber es geht mir gewöhnlich wie Dir, wenn mich auch hier keine häuslichen Geschäfte abhalten, drängen sich doch andere Dinge dazwischen: Ununterbrochenes Klavierspielen von Irene, dann der Familienkreis meiner Schwiegertochter, der seit dem am Weihnachtstag erfolgten Tod ihrer Mutter festgemauert im Hause ist.-

Sechs Wochen sind es, daß ihr Vater starb. Da, wie es oft bei alten Leuten die fünfzig Jahre zusammengelebt hatten geht, zog dieser Tod die herzleidende Mutter nach. Die Eltern standen mir ganz ferne, aber der Anblick der Thränen und der Trauer ergriffen mich doch sehr und brachten mir auch diesmal, wie nach jeder Aufregung und Alteration mein altes Magenübel. Der Magen ist der einzig empfindliche Theil meines Körpers. Seit zehn Tagen bin ich einer völligen Hungerkur unterworfen. Es ist ein einfacher Magen- und Darmkartharr, gar nichts daran gefährlich als mein Alter. Beschwerlich ist für mich die Angst meiner Isolde, die aus jeder Mucke einen Elephanten macht, und daß sie sich nicht mit dem Gedanken vertraut machen kann, daß es im Laufe der Natur liegt, daß sie sich endlich von mir trennen muß. Ich weiß es recht wohl, an verheiratheten Brüdern hat eine Schwester keinen Halt und Trost mehr, sie mögen noch so gut sein, Familiensorgen verschlingen alles. Wer aber so herrliche Geisteskinder zu schaffen vermag, der muß in sich selbst zufrieden werden, und doch macht mir diese stets bangende Sorge das Sterben, das mir doch so nahe bevorsteht, recht schwer, während mich selbst, kein Todtesgrauen ankommt.-

12.ten Januar 1905

Wieder kamen Hindernisse dazwischen weiter zu schreiben. Erwins große Hausräumerei, wo ich kein Plätzchen finden konnte. Daß es Dir wieder ordentlich geht, freut mich. Es gibt dreierlei Arten von Gicht, die endogene, die hast Du nicht, die der armen hungernden Leute, die hast Du auch nicht, die Altersgicht, die ungefährlichste, die hast Du, wie ich sie auch schon jahrelang hatte. Viel Spazierengehen, wenn nicht zu nasse Witterung ist, ist wohl das einzige Rezept. Beunruhigt hat mich überrigens, daß die Kost in eurer Anstalt sehr schlecht sein soll. Es lebt hier ein Bildhauer Lang, dessen Schwägerin auch in Deinem Frauenheim ist und die oft sehr unterernährt hier ankommen soll. Ihre Schwester sagte das mir. Was mich aber noch mehr an Dir schmerzt, das ist der Mangel an männlichem Umgang.- Weßhalb kommt nicht einmal ein reicher Mensch auf den gesunden Einfall, eine Anstalt zu gründen, wo die eine Hälfte für unverheirathete der Stille bedürftige Gelehrte und Dichter bestimmt ist, die dann mit der andern Hälfte der Frauen gemeinsamen Mittagstisch hat, sodaß sie nach Wunsch ungenierten Umgang haben könnten. Nur dürfte allerdings kein Klavier gespielt werden, denn vor den barbarischen Klängen des Klavierspiels fliehen die Musen.- Hermann, der so musikalisch war, nannte die Klavierspieler nur die Klavierbestien. - Da in Stuttgart viele öffentliche Vorlesungen stattfinden, so hoffe ich, daß Dir diese zugänglich sind. Lieber ginge ich in ein Mönchskloster als in ein Frauenheim, aber Du bist eine Märtyrerin der Schwesternliebe - eine Art moderne Antigone und dieses Bewußtsein hebt Dich über alle die Folgen Deiner Handlung hinweg. Auch mir hat das Schicksal einen lindernden Balsam auf eine sich dennoch nie schließende Wunde gegeben und das ist mein mütterlicher Ehrgeiz. Geh ich an einem Laden vorbei und sehe Edgars Gedichte ausgestellt, so glaube ich ihn als schönen Jüngling vor mir zu sehen. Es sind wohl noch zehn mal so viele Gedichte von ihm da, noch schönere leidenschaftlichere, aber Rosa wollte sie nicht aufnehmen lassen, sie wird sich jetzt schon daran gewöhnen und die Prüderie fahren lassen, dann soll mir Kröner eine Fortsetzung drucken.

Unsere Abreise kann sich noch um 14 Tage hinausschieben. Ich soll vorher wieder erstarken. Das Fasten hat mich schwach gemacht. Ich hoffte am 16. dieses Monats in Florenz zu sein, um seine Asche im Krematorium bekränzen zu könnnen, nun wirds nicht reichen.- Majas Befinden macht mir große Sorge. Sie magert so sehr ab, sieht elend aus und hustet immer. Alle Fröhlichkeit und Energie ist ihr gewichen. Schrecklich sind mir ihre fortwährenden Todtenklänge. Ich schicke Dir hier wieder einige ihrer Verse. Wie wenig sie mit sich selbst zufrieden ist, zeigt das erste Gedicht. Sie hat den Geist des Vaters und sein Talent, aber nicht seine Energie und seine Ausdauer. So lange er hinter ihr stand und sie anfeuerte mit ihm italienische Verse ins Deutsche zu übersetzen, ihre griechischen Aufsätze corrigierte, ging alles gut. Der Mutter war das alles zuwider. Erst jetzt beginnt sie Interesse daran zu haben, aber Maja ist in eine Umgebung von jüngeren Leuten gekommen, die nicht auf der Höhe ihres Vaters stehen und in ihr nur das schöne begehrenswürdige Wesen sehen. Deßhalb fördert sie ihr Hiersein nicht. Sie steht in fortwährender ärztlicher Behandlung. Der Arzt sagte mir, Herz und Lunge seien gesund, der Unterleib, die Gedärme aber in völliger Unordnung. Man solle sie übrigens thun und treiben lassen was sie wolle, an keinem Vergnügen hindern, sie bedürfe das.-

Edgars so prächtig ausstaffierte Villa ist, wie es scheint unver- kaufbar. Rosa hatte zu viel Geld hinein gesteckt und Edgar, der wie ich gar keinen Sinn für Pomp hatte, ließ sie frei schalten. Das Einkommen ist nun ziemlich spärlich, etwa 4 000 Lire, deßhalb wünscht sie, daß Maja sich bald reich verheirathen möchte. Das geht aber nicht, denn eine Verheirathung in ihrer Jugend brächte ihr den Tod. Glücklicherweise faßt sie keine dauernde Liebe.

In Italien ist die Kälte dieses Jahr so groß, daß bei der Unmöglichkeit Steinhäuser und Steinböden zu erwärmen man in Deutschland aus- harren muß bis die Sonne wieder Sorgerin ist.

Isolde hat sich bereits wieder in eine Arbeit vertieft und ich habe deßhalb wenig Umgang mit ihr. Edgars Büste ist recht gut gelungen, obgleich, die Todtenmaske nicht zu gebrauchen war. Erwin läßt mich das Zerrbild gar nicht sehen, ein Beweis, wie Edgar gelitten hat, während Baldes Maske von wunderbarer Schönheit ein lächelndes Antlitz zeigt. Und so ist die beneidenswerte Kunst von Edgar auch geschieden. Das ist mir immer noch das Schwerste zu tragen, daß Edgar, der so vielen Menschen sobald er sah, daß der Tod sich näherte, seinen Patienten das Sterben unmerklich machte, des Todes Bitterkeit fühlen mußte. Ihm konnte die Labsal nur in den letzten Augenblicken werden, da die Ärzte uneinig waren, ob er nicht noch zu retten sei.

Ich habe Hoffnung, daß Erwin in Florenz eine Arbeit bekommt, das erleichtert mir den Abschied. Neue Sorgen erwarten mich in Venedig bei meinem Alfred, der in beständiger Angst um seinen Tristan ist, der wieder das Cap Horn zu passieren hat und nun auch seine Jole entbehren muß, die in Padua studiert. Mein nächster Brief wird wohl erst von Florenz zu Dir kommen, oder aus Venedig. Meine Nichte Luise will mich auf ein paar Tage besuchen, d.h. sich hier eine Pension suchen, denn im Haus bei uns ist kein Platz.

Isolde wollte Dir selbst schreiben, ich weiß nicht ob es geschehen ist? Sei tausendmal gegrüßt von
Deiner Marie

1. Februar 1905

aus München 375
Ohne Anrede
Ich muß Dir nun gleich wieder schreiben, Schwesterherz, Du liebes, denn es wird doch der letzte Brief aus München sein und nach Florenz zurückgekehrt, erwartet unser so viel Durcheinander, Abhaltungen aller Art, daß ich nicht weiß, wann ich dann gerade schreiben, kann.-

"Tos twam asu" - Das bist Du und ist ein Spruch der indischen Weisen, die in jeder Kreatur sich selbst sehen. Nie aber kommt mir das mehr zum Bewußtsein als in Deinen Briefen. Das gleiche Niveau der Bildung und die annährend gleichen Jahre bringen eine solche Gedankenähnlichkeit hervor, daß alles nur wie ein Echo klingt. Also geht es Dir auch so, daß Du im Innern nicht älter wirst? Immer noch dasselbe Jugendbild, diesselben Empfindungen, Begeisterungen! Sieht man dann einmal in einen Spiegel, was selten bei mir geschieht, denn sie hängen zu hoch für meine kleine Person, dann erschrecke ich über das verhutzelte Gesicht und frage mich: "Ja, wie hab ich denn früher ausgesehen?" Aber es geniert mich nicht, denn ich bin ja immer diesselbe, und was einmal mein war, das steht wenigstens bis jetzt fest gebannt in meiner Seele. Ob das Einschrumpfen der Gehirnzellen es verschwinden macht, das weiß ich noch nicht, fürchte es freilich bisweilen. Denn als ich hier den 2ten Tag nach meiner Ankunft so krank wurde, die Besinnung verlor, und auch eine längere Zeit die volle Erinnerung, aber sie kam nach und nach wieder, auch die ganze Schwere meines Schmerzes, der nun aber auch ein Theil meiner Seele ist, ... mir mein geliebter Edgar weiter lebt, oft in heißer Qual und grimmiger Sehnsucht, dann nehme ich Isoldes Lebensbild zur Hand und sehe ihr jung strahlendes Liebes- glück der schönsten Frauen vor mir und ich kose mit dieser Erschei- nung, sage mir alle seine Lieblingsworte vor. Er hatte mir immer sein neuestes Gedicht zugesteckt, und da legten sich die Schmerzen. Auch hab ich eine ganze Menge seiner Briefe aus allen Lebensperioden bei mir, die lese ich wieder und wieder in heißer Inbrunst. Oft lache ich auf, wenn mich der Schmerz wieder niederwerfen will, 78 Jahre!- Ich sage wie Du und mit mehr Recht: "Ich kann ja gar nicht mehr lange leben, benütze also den Rest des Lebens die Gebliebenen mit doppelter Liebe zu umfassen und ihnen noch Lebensmuth zu zeigen." Ja, wenn ich das Welträthsel lösen könnte und die widerstreitenden Ansichten in mir selbst! Einmal träumte mir eine wahre Offenbarung, die Enthüllung des Räthsels, und ich war so glücklich darüber. Es war alles so einfach und als ich erwachte, wars meinem Gedächtniß entflohen. Ich stelle dieselben Fragen wie Du, bald bohrend, bald erwärmend? Es ließe sich sagen, der Sinn liegt darin, daß der Mensch mit seinem Ringen dem Ringen des Ganzen mithilft, daß es sich nur darum handelt, daß die Menschheit sich weiter entwickelt, mit ihrem Gesamtgeist die Probleme der Wissenschaft löst. Dann aber kommt eine andere Frage. Und diese hoch- und höchstentwickelte Menschheit, was soll ihr Loos sein, wenn bei einem Zusammenstoß der Erde mit einem andern Weltkörper derselbe in Feuer aufgeht, oder ihre gesetzmäßige Bestimmung ist in den Feuerball zu stürzen wie die vielen Asteroiden? - Daß wir nur fünf Sinne haben. Es ist zu traurig! - Voltaire läßt in einer sehr scharf- sinnigen Erzählung einen Siriusbewohner tausende von Sonnen haben, aber das Welthräthsel kann er doch nicht lösen.

Du fragst nach dem was ich lese. Wenig Neues, da es des Alten noch so viel Gutes gibt. In den letzten Tagen habe ich nach langer Zeit wieder einmal den "Münchhausen" gelesen, und er hat mich in der That erheitert. Es war auch von Edgar immer ein Lieblingsbuch. Einen Roman, einen modernen, nicht dem Sinn nach modern, sondern der Zeit, den auch Edgar in seinen letzten Lebenstagen zum 2ten mal förmlich verschlungen hatte, den hab ich auch wieder vorgenommen: "Auf zwei Planeten" von Curt Laßwitz. Sonst kehre ich immer wieder zu dem Alten zurück Äschylos, Sophokles, Homer, Plutarch. Ein mir unendlich liebes Studium war das mit Maja gleichzeitig vorgenommene griechische Studium in Forte am Meer. Wenn Edgar seiner Maja den Unterricht gegeben, kam er zu mir meine Übersetzungen zu corrigieren, und wie freute es ihn immer mir zu sagen: "Maja macht es viel besser als Du." - Wenn ich jetzt noch einmal wieder hinter die alten lieben Griechen will, wird mirs so schwer zu Muth, daß ich das Heft zumache. Tempi passati!- Sie kehren nicht wieder, und ich hatte gehofft es noch weiter zu bringen. Aber auch Maja hat ihr Studium nicht wieder aufgenommen und das ist schade und nicht im Sinn ihres rastlos wissenschaftlich thätigen Vaters. Ach manche süßduftende Blühte fällt ab, ohne zur Frucht gereift zu sein! Es bedarf eben auch der günstigen geistigen Atmosphäre. -

Endlich habe ich meinen Magen- Darmkartharr so ziemlich überwunden und könnte als reisefähig gelten. Jetzt ist Isolde nicht ganz wohl, hauptsächlich hindert sie am Gehen eine schmerzhaft entzündete Zehe. Alfred wird jetzt das Warten zu lang. Er will mich durchaus abholen. Aber der gute Kerl denkt nie an seine schlechten Finanzen. Ich will versuchen ihn abzuhalten, wenn ich kann. Den Faust mir zu recitieren, das ist ihm seine Hauptpassion. Und er kann ihn fast ganz auswendig, besonders den 2ten Theil. An mir hat er wenigstens eine andächtige gleichbegeisterte Zuhörerin, aber wenn sein Tristan von einer Weltumsegelung heimkehrt und zum erstenmal wieder unter seinem Dach ruht, dann liest er auch ihm seine Lieblingsprosa vor. "Noch einmal", murmelt dann der müde Seemann. "O wie schön, Papa." Dann schnarcht er wie Münchhausen und ist lange nicht mehr zu erwecken. Auch Alfred gehört nicht zu den Alltagsmenschen. Außer seiner unbegrenzten Guthmüthigkeit und Generosität, ist er ebenso ein so tüchtiger Philologe wie Edgar war, so daß er auch seiner Jole im Gymnasium immer noch Nachhilfe geben konnte. Letztere studiert jetzt Philologie in Padua. Leider, leider hat der gute Kerl eine so thörichte Heirath gemacht. -

Luise hatte mir versprochen Dich sogleich aufzusuchen. Sie wird sich länger als bestimmt war in Eßlingen aufgehalten haben. Wie kahl und freudlos war auch ihr Leben! Sie hat nie geliebt, wurde nie geliebt, hat nie den Rausch der Bekanntschaft oder der Be- geisterung empfunden, aber ihr Inneres blieb ohne Bitterkeit, vol- ler Hingabe für die Ihrigen und empfänglich für das Schöne. Die Liebe und Verehrung mit der sie an ihrem Onkel hängt, macht sie mir theuer. Ich hätte sie gerne mit nach Italien gezogen, wenn nur unsere Verhältnisse oder die ihrigen besser wären!-

Deinem Brief entnahm ich, daß Dein Gehör auch etwas nachgelassen hat. Das ist auch bei mir der Fall und gibt schon seit Jahr und Tag Anlaß zu Scherz und Gelächter wenn ich alles falsch verstehe. Wenn mir nur das Gedächtniß noch stand hält, um mich an alle schönen Stunden meines Lebens zu erinnern und die theueren Todten mir zur Seite zu bannen. Zu ihnen gehört auch meine gute Josephine, eine mit dem goldigen Herzen und dem empfänglichen Geist. Wie liebte sie meinen Edgar! Er war ihr Gott zu dem sie betete, und als sie schon vom Schlag getroffen, geistig nicht mehr ganz in Ordnung war, bat sie mich um den "Sonnenwirth". Den nahm sie, nachdem sie ihn geküßt, verkehrt in die Hand und versuchte noch alles lesen zu können. Und die Arme mußte auch Baldes Tod erleben. Schon schwer krank schlich sie sich noch aus ihrem Bett heraus und warf sich auf mein todtes Kind und umschlang ihn, so traf ich sie. Am 7.Februar ist sein Todestag. Wie treu und mütterlich hatte ihn der Bruder gepflegt und ihm den Stachel des Todes genommen, so daß er eigentlich gar nicht gestorben, sondern aus einem sanften Schlummer nur nicht mehr aufgewacht ist. Unbekränzt bleibt dieses Jahr sein Grabstein, seit 23 Jahren zum erstenmal.

In den 28 Jahren unseres Aufenthaltes in Italien.

... (S.378 u. S. 379 fehlt auf Festplatte) ...

Weßhalb kann ich die Feder gar nicht mehr weglegen und meine den Zwischenraum unserer Correspondenz ausfüllen zu müssen, meine auch, es werde der letzte Brief sein, und da hätte ich Dir so gern noch so viel gesagt, was nun aber im Niederschreiben entflogen ist. - Ich kann Dir leider nicht sagen was jetzt eigentlich aus mir wird. Isoldes Wohnung ist wunderschön, aber zu theuer für unsere Verhält- nisse und dem Umstand, daß sie ein paar Monate in Deutschland jähr- lich zubringen will, was dem Vertrieb ihrer Arbeiten und der Anre- gung halber ihr förderlich ist. Bei mir wirds schon so sein, daß ich meinen Aufenthalt zwischen Alfred und Erwin theile. Erwin hat zwar für kommenden Herbst die Wahrscheinlichkeit zwei Büsten in Florenz zu machen, das würde wiederum eine Änderung in den Plänen verursachen, aber nichts steht fest, als daß wir, sobald Isolde nicht mehr so unwohl ist, gen Süden fahren. An ganz nahen Freunden haben wir bloß Edgars Herzensfreund und Collegen Dr. Carlo Vanzetti, dann einen historischen Privatge- lehrten Dr. Davidsohn nebst Frau dort, die mit großer Liebe an uns hängen. Die Übrigen sind alle sehr anhängliche Patienten von Edgar.

Meine alte Maja hat mir auch wieder geschrieben und die junge, für mich immer junge, obgleich sie erwachsene Söhne hat, aber einstmals Edgars Flamme war, einen sehr lieben Brief. Ich hatte ihr ein Ge- dicht an sie von Edgar geschickt.

Ich fürchte, Du wirst ungeduldig ob der Länge des Briefes. So leb denn wohl, liebes Waldfegerlein. In treuer Liebe
Deine Marie
... (Beiliegender Zettel: "Euthanasia ? Euthanasie: ein leichtes sanftes Sterben. Auch die Lehre davon."

16. 4. 1905

(
aus München) 381
ohne Anrede
Du wirst wohl gedacht haben, daß ich versunken in mein Leid, mein liebes Waldfegerlein, mit der mich doch eine lange glückliche Vergangenheit verknüpft, vergessen hätte? Dem ist nicht so. Ich war nur durch die verschiedenartigen Wirren und Widerwärigkeiten, durch Briefe, die ich nach Venedig zu schreiben hatte, abgehalten. Leider sinds keine Vogelschwingen, sondern Pfeile, richtige Pfeile die ich nicht nur schwirren höre, sondern auch treffen, und wenn es auch keine vergifteten sind so sinds doch schmerzerregende.Isolde ist seit einiger Zeit schon wieder in einer so ängstlichen Gemüths- verfassung einer völligen Depression, sieht so erbärmlich aus und magert ab. Sie hatte den zweiten Unglücksfall fast noch schmerzlicher empfunden als den ersten, wohl nur deßhalb, weil sie nicht versucht hatte mehr mit Alfred zusammen zu sein, was auch meinen Schmerz so bitter verschärfte, obgleich es ja nicht meine Schuld war, daß ich nicht, wie ich wollte, nach Venedig kommen konnte. Zu dem leidenden Gemüthszustand kamen bei ihr noch höchst aufregende äußerliche Fatalitäten, die zu andern Zeiten nicht erschütternd gewirkt hätten, die sie jetzt aber in aller ihrer literarischen Arbeit hemmten. Berühre das aber gegen niemand. Schlimm ist, daß sie in diesem krankhaften Zustand nun eben doch noch nach Italien muß, und daß uns dort die so schwer lösbaren Fragen drohen, die Auflösung des doppelten Haushalts, der Verkauf des Häuschens.

Nebenher hat sie eine krankhafte Angst mit mir zusammen zu wohnen, sie bildet sich ein, ich könnte plötzlich jene Ohnmachtsanfälle, wie ich sie hier hatte, wieder bekommen. Was hilft ein längeres Zögern. Die Kosten werden nur immer größer, denn sie lebt hier recht theuer und muß in Florenz die Miete weiter zahlen, andrerseits weiß ich nicht, wie ihr die Reise bekommen wird? Das ist es hier. In Vendig lebt meine arme Jole in den schwierigsten Verhältnissen. Eine Patientin und glühende Verehrerin Alfreds hat den Kin- dern ein Gut auf dem Lido verschrieben, in der Hoffnung den abenteuerlustigen Tristan in die Nähe des Vaters zu bannen. Nun soll das arme Mädchen, das nur für die klassischen Studien lebte die Oberaufsicht darüber führen und versteht doch kaum mehr als ich verstehen würde. Verkauft kann das Gut ohne Tristans Anwesenheit nicht werden, und der arme ahnungslose Mensch ist auf der Reise nach Australien.

Von allen Seiten schießt die Sorge auf mich herein.- Maja schreibt, der Arzt habe sie für leberleidend erklärt, immer kehren Fieberanfälle wieder, der Husten weicht nie, die Leber sei vergrößert. Hier hatte der Arzt sie für malariakrank erklärt. Was wird mich da noch erwarten! - Erwin hat von seinem Bruder Edgar eine wunderbare Büste gemacht ganz aus der Erinnerung, denn die Todtenmaske war unbrauchbar, ganz verzerrt. Es ist ein Meisterwerk. Sogar seine großen Augen mit dem durchdringenden Blick konnte er in den Thon zaubern. Das war eine Freude und Schmerz zugleich. Gestern sah ich sie vollendet, und die Folge war ein seliger Traum, in dem ich meine beiden todten Söhne mein Diaskurierpaar wieder hatte, auch meine gute Josephine war dabei, es waren ja ihre beiden Lieblinge. Ich wachte in einem seligen Rausche auf, dann traf ich meine arme Isolde krank, elend, muthlos! - Nun das wird vorrübergehen, hoffe ich, es ist dies Kurzische Nervenleiden, mit dem auch die arme Luise behaftet ist, nur muß sie wenigstens nicht produzieren. -

Erwins Beschäftigung führt durch das fortwährende Einathmen des Marmor- und Sandstaubs unfehlbar zu schwerem Leiden. In Alfreds letzter Karte hieß es, er müsse unbedingt eine Maske tragen. Die Gummimasken sind abgeschafft, waren auch unbrauchbar. Schon Edgar rieth ihm wärend der Arbeit fortwährend Flüssigkeiten die Kehle hinabzulassen um den Staub abzutransportieren, er thuts nicht. Natürlich hustet er immer, theilweise mit Blutauswurf. Du kannst Dir denken was das für ein Leben ist. Seit Jahren sieht er bleich und mager aus und ist so matt. Gespart wird nicht und er schafft sich zu Tode. - "Du mußt leben, mußt leben für mich," heißt es fort und fort bei Isolde, und ich stürbe doch so gerne. Du meinst, die mich umgebende Jugend könnte mich trösten. Oh nein! - Mein Enkel hat zwar als der Erste und Beste ein glänzendes Examen gemacht- das war ein Trost - aber jetzt ist er als Architekt in Arbeit kommt nur über das Essen. Irene ist ein sehr hübsches junges Mädchen, sehr musikalisch, aber ohne alle Liebe für literarisches oder wissen- schaftliches Treiben, spielt den ganzen Tag Klavier. Ich bin nicht musikalisch und freue mich nur an Hermanns Silcherlieder, die sie nicht gern spielt. Sonst ist sie halt ein junges Ding, verliebt, mit der ich nichts anfangen kann. Ja, wenn kleine Kinder da wären. Erwin ist den ganzen Tag im Atelier und so kommts, daß mich die Sehnsucht nach den Ruhestätten meiner Todten fast aufreibt, auch Josephines Grab, das ich immer gepflegt und das sie mir nun wahr- scheinlich auch ausgegraben haben, zieht mich zurück. Hier friere ich immer, es ist ein Hundeklima. Ich möchte so gerne nach Florenz und dort sterben gehen. Isolde hälts hier wie mit ehernen Krallen und mich ziehts fort nun am 27ten, dem Todestage Edgars noch einmal sein Todtenkästchen bekränzen zu können, dann wirds mich wieder nach Erwin ziehen - am meisten aber nach Ruhe im Tode! Nun bin ich zwar nicht ganz Niobe, aber die Furcht davor ist Höllenqual, und um es nicht zu werden, möchte ich sterben. Kinder müssen ihre Eltern verlieren, das ist Naturgesetz, das Umgekehrte ist unerhörte Grausam- keit. Wenn es einen persönlichen Gott gäbe, der wäre ein Scheusal im Vitzlipuzli.

Das Asbergbuch,(?) das ich Dir gestern geschickt, wirst Du erhalten haben, auch Alfreds Nachruf. Was ich von Deines Onkels Briefen vor- fand, habe ich der Stuttgarter Staatsbibliothek übergeben, wo der Rest hinkam weiß ich nicht.

Es wird mich freuen meine alte Maja noch einmal zu sehen, sie war immer so lieb und gut gegen mich und meine Kinder. Ihre Maja schrieb mir einen so lieben Brief über Edgar - ach und meine jüngste Maja, was wird mit ihr werden. Wieviel Geisteskeime müssen verkümmern ohne ihren Vater, der ein sorgfältiger Gärtner war.-

Jedenfalls ist dies mein letzter Brief von hier. Körperlich bin ich ganz wohl. Ich habe ja eine eiserne Gesundheit! Jetzt soll ein Mittel gegen Lungenentzündung gefunden worden sein - eine Metallinjektion - hätte das Edgar noch erleben können, wäre er vielleicht gerettet worden! Mit dem 17. Aprilmorgen beginnt seine Leidenszeit, seine 10tägige Qual. Das ...bild steht mir jetzt immer vor Augen, oh mein armer, armer herrlicher Edgar! Mein Alfred durfte wenigstens schmerzlos unbewußt scheiden.

Lebe wohl, meine liebe theure Jugendfreundin, verzeihe meine Schwäche, Dir so geschrieben zu haben, aber das Herz ist mir zum Zerspringen voll und mein Geist ist umnebelt. Es umarmt Dich
Deine Marie
(Auf dem Umschlag steht: "Herzliche Grüße Erwin".

8. Mai (1905)

Mein liebes Waldfegerlein!
Meine letzte Karte- Du hast sie doch erhalten, sollte mein letzter Abschiedsgruß von hier sein. Nun hat mich Dein heutiger Bief durch die Mittheilung von Frl. Bechers Tod so erschüttert, daß ich der armen Emmy gleich schreiben mußte, weiß aber nicht, ob ich die richtige Adresse geschrieben, denn vor 40 Jahren wohnten sie dort. Isolde kann ich nicht fragen, die ist in Nymphenburg beim Sitzen bei Meinigers, der noch ihr Portrait vollenden will das er begonnen, und so muß ich denn Dich bitten, den beiliegenden Brief zu befördern. Du weißt vielleicht wo sie wohnt, die Arme.- Und doch, Eltern zu verlieren liegt im Gesetz der Natur, aber Kinder, das ist barbarisch, widernatürlich! Freilich war ihr die alte, uralte Mutter auch zugleich das Kind.- Bei jedem Schmerz der liebe Freunde trifft, fühl ich den meinen wieder doppelt. Immer wollte ich die alte Freundin, die Edgar so lieb hatte und ebenso auch Hermann, schreiben, kam aber immer nicht dazu. Das ist die Tendenz des Alters. jetzt ists zu spät. Und doch sagte ich mir immer mein Leben lang: "Mit Menschen welche sterben können, traure". Glaube es nicht, wenn die Leute sagen ich sei noch elastisch und geistesfrisch. Es ist nicht wahr. Ich mach mir nur zur Pflicht andern nicht vorzujammern, denn jeder hat sein eigen Kreuz zu tragen. Meine Erinnerungen sind umnebelt, ich finde oft die Worte nicht mehr; seit Alfreds Tod ist das noch viel fühlbarer. Julius Zeyer war übrigens auch ein Freund von mir, wohl aber als Präzeptor Zeyer der Lehrer am Gymnasium von meinem kleinen Erwin, den er sehr lieb hatte. Ich stand in keiner nähreren Beziehung zu ihm. (Er erschoß sich aus Lebensüberdruß). Wie er zu meinen unsterblichen Märchen kam, entsinne ich mich nicht. Es ist mir leid, daß Du den Bafel gelesen hast, die Verse gehen zur Noth an, wenigstens hatte sie Heyse gelobt, Märchen aber kann nicht so leicht eines schreiben, sie müssen naiv sein und keine ... haben, thut mir leid, daß Hermann so tolerant war, sie passieren zu lassen, ich schäme mich an ihnen, wenn ich die von Isolde in die Hand nehme.

Wenn ich mein Gedächtniß noch so sehr anstrenge, so erinnere ich mich an keine Julie Springer. Sag es ihr aber nicht, sondern frag sie, wo sie wohnte, wie ich zu ihr kam, ob ihr Bruder Student gewesen? Ich habe gar so viel erlebt in den 29 Jahren meiner Abwesenheit von der alten Heimat Tübingen, habe in anderer Sprache ge- gedacht, eine andere Heimat errungen und sie lieb gewonnen, in ihr Schreckliches erlebt und durchgemacht, und das umschleiert nicht nur die Vergangenheit, sondern das eigene Ich.- Kommen dann so liebe Freunde wie meine alte Maja war, (wohl die stärkste Flamme, die Hermann je empfunden,) dann lichtet sich wieder der Altersnebel. Es ist mir ein lieber Traum mit Dir auch einmal zusammen zu sein, vielleicht wird es Wirklichkeit, vielleicht aber auch trifft der Genius mit der gesenkten Fackel dazwischen- dann wars doch ein schöner Traum. Wie viele schöne Erinnerungen hätten wir aufzuzäh- len, vielleicht kommt auch meine junge Maja wieder im nächsten Winter, auch meine arme hübsche Jole möchte ich Dir zeigen. Wie mich das wurmt, daß ihre ganze gelehrte Zukunft nun ruiniert ist.-

Wir erwarten jeden Augenblick Tristan. Das ist wieder eine schmerzliche Aufregung ihm des Vaters Tod zu sagen. Er schrieb bis jetzt fort und fort Briefe an seinen Vater, die dann die Schwester mit irgend einer Ausrede beantworten mußte. Ich zittere jetzt schon am ganzen Leibe diesem Wiedersehn entgegen. Vielleicht reisen wir mit ihm zusammen Italien zu. - Ach, und der Abschied von Erwin, wie wird er schmerzlich. Ich hatte halb und halb Hoffnung ihn in Ita- lien zu sehen, es geht aber nicht. Er kann die Ausgaben nicht zusammenbringen. Aber im Oktober kommt Isolde wieder - ich mit,- wenn es Th'anatos erlaubt.-

Leb wohl, bleibe mir gesund und so jugendlich! In innigster Liebe umarmt Dich
die alte zerfallene Ruine.
Fortwährend kommen neue Ausgaben von "Schillers Heimatjahren."

Karte 6.8.1905 aus Forte

Ohne Anrede
Verzeih, mein liebes Waldfegerlein, daß ich so ewig lang geschwiegen habe, aber das Schreiben wollte nicht gehen. Zuerst überwältigten mich Eindrücke, ich schwelgte förmlich in Erinnerungen, von ihm spricht jedes Stück. Wohlthuend war mirs, nicht schmerzlich. In den heißen Sonnenstrahlen fühle ich seine Nähe, in den Sonnenstäubchen träumt ich noch seine Elemente zu sehen- und fühle ihn mir nah. In Deutschland sah ich nur immer seinen Tod, hier leben mir die Söhne auf, weil hier im Sonnenlande ihr Wirken war, mehr als je lieb ich dieses Land. Seit acht Wochen sind wir hier, Isolde in großer Hetze ihrer Arbeit, die bald als Buch herauskommen soll und ganz verliebt in ihr Häuschen.

Luise Kurz ist bei uns, leider sehr magenleidend. Du wirst noch in Schwarzwalderinnerungen leben, hoffentlich wohl und auch gestärkt? Wie erfreute mich Deine Gabe. Meine Sendung wirst Du bekommen haben? Nun schreib und rechne nicht mit mir ab. Heute bin ich 79 Jahre alt, bade alle Tage im Meer und habe meine völlige Gesundheit wieder erhalten, nur der Kopf ist nicht mehr derselbe. Zelle um Zelle verkleinert sich und verwittert. Mir bangt vor dem kalten und nebligen Norden.

Leb wohl und sei innigst gegrüßt.
Ich sehe sehr schlecht. Das Schreiben macht mir Mühe.
ohne Unterschrift

8. 1. 1906 aus Forte

(mit Gedichten von Maja) 395
Diesmal mein lieber theures Herz, kann ich Dir keinen langen Brief schreiben, nur Dir danken für Deinen und Dir sagen, wie die Glocke, die Du tönen ließest mir in Sphärenharmonie in die Seele drang. Du Glückliche, die so abgeklärt die Ruhe errungen hat! Unrecht hast Du aber, jene Zeiten der Sturm- und Drangperiode zu tadeln. Der Mensch muß ringen und streben: "Wer immer strebend sich bemüht, den können sie erlösen."- Die Jugend, die feurige, kann nicht bloß am Geiste sich erwärmen, sie will in der Jugend Aufregung.- Laß Dir die Erinnerung durch Deinen jetzigen Standpunkt nicht trüben. In Deinem eigenen Empfindungen darfst Du eine Votivstrasse errichten. Sage, wie Du einem Deiner Brüder fast Dein ganzes Vermögen geopfert hast. Doch berühre ich hier Dein Schweigen. Sind sie denn alle todt, Deine Brüder? Was hast Du für männlichen Umgang? Was wäre es für mich, Dich erreichbar zu haben! Noch mehr wünschte ich Isolde, deren letztes Dir hier beigelegtes Gedicht, das leider zu spät entstand, um in ihrer Sammlung zu erscheinen, Dir zeigt, daß sie halt vom Leben krank ist und nun nach besserer Quelle begehrt. Der Freund, der unendlich viel auf sie hielt und der ihr hätte so viel sein können, Wilhelm Hertz ist todt, der Bruder todt, der ein Theil ihrer selbst war. Sie wird überschüttet mit Bewunderung von allen Seiten und findet keinen Trost darin. Sie sieht etwas und findet nur immer wieder eine Fata Morgana.

Hier also hab ich Dir einige von Majas Trauergedichtchen abgeschrieben, muß aber beifügen, daß es nur die italienischen sind, in denen sie ihr Talent entfalten kann. Sie hatte nie deutschen Unterricht, hat die Sprache nur von sich und dem Lehrer gelernt und denkt nicht gern auf deutsch. "Der Zigeuner" hat aber einen so lyrischen ergreifenden Klang, der ihr eigenes Weh spiegelt, daß ich ihn abschrieb. Sie hat an ihrem Vater eine ganze Welt verloren, trotz seiner zu großen Schwäche. Die Sterne vom Himmel hätte er ihr herabgeholt. Was sie wollte war ihm Gesetz. Jetzt ist sie hier, sie wollte malen aber ein Heer von Anbetern umringt sie. Ich glaube, daß Rosa wünscht, sie solle eine Wahl treffen, und das ist mir eine wahre Furcht. Oft schon hatte dies Herzchen gepocht. Einer folgte dem andern und ward abgethan, nur nicht heirathen aus bloßem Verliebtsein, zudem hatte Edgar immer gesagt, daß nach der Krank- heit, die sie gehabt hatte, Jahre vergehen müßten bis die inneren Theile gesund geworden sind. Sie leidet an Asthma und nie aufhörendem Husten. Der Arzt hier erklärt es als hochgradige Bleich- sucht.- Ich wollte mit Rosa heimkehren, sie will aber den Karneval hier vorher Majas halber mitmachen.- Da ich weiß wie Edgar sein Kind nur vergnügt sehen wollte, so lasse ich keine anderen Gefühle aufkommmen. Maja will mit vollen Zügen das Leben genießen, sie sagt, sie werde nicht alt. Lebe wohl für heute. Ich bleib also noch über Weihnachten. In treuer Liebe
Deine Marie
Daß Du 75 Jahre alt sein sollst, ist mir unfasslich! (Umschlag aus Forte dei Marmi vom 8.Gennaio 1906, (Gedicht von Isolde liegt nicht dabei, nur die 6 von Maja.)
Ich hoff nicht nach dem Tode,
Ein schönes Paradies,
Denn dort müßt ich dann leben,
Und leben ist nicht süß.
- Dort müßt ich wirken, handeln,
Und hätte keine Ruh,
Hier fallen mir schon selber
Die müden Augen zu.
- Ich möcht nur eine Bahre
Recht groß und lang und breit
Da wollt ich ruhn und schlafen
In alle Ewigkeit.
Maja K u r z
es folgen noch mehrere traurige Verschen

®3. April 1906¬

(aus München) 405
Mein liebes Waldfegerlein! Da heute zum ersten mal die Sonne sich in das bis jetzt von Schnee und Eis starrenden Eisbärenland gewagt, will ich, bei meinem umdüsterten Gemüth, es versuchen Dir zu schreiben. In der herrlichen Natur am Meeresstrand, wo fast ewiger Frühling herrscht, hatte ich fort und fort den Drang Dir zu schreiben, da konnte ich aber nicht, weil ich keine weibliche Bedienung hatte, Aschenbrödel war und deßhalb nur immer in Gedanken Dir die Wunder eines solchen sommerlichen Winters erzählen konnte. Dann aber kam plötzlich eine schlimme Zeit. ®Isolde¬ arbeitete, nachdem ihr Buch fertig war, einen ganzen Monat lang in ihrem, hinter dem Haus gelegenen Weingarten, der theilweise in einen ®Pinienwald¬, Ziergarten und wieder Weinland verwandelt wurde, trug die schwersten Eimer, grub und ging ganz auf in ihrer Pflanzenkultur. Dabei überanstrengte sie sich in einer Zeit, wo man sich schonen soll, dazu kam noch, daß ich wieder einen jener sonderbaren Zustände: Erbrechen mit Schwindel bekam, das altirierte sie nun sehr, daß sie förmlich krank wurde. Kaum genesen reisten wir ab, die Gegenwart unseres Freundes ®Vanzetti¬ benutzend der extra gekommen war uns zu sehen, da kein brauchbarer Arzt im Dorf ist. Das war in der ersten Hälfte des März. Wir waren dann noch 8 Tage in Florenz und reisten am ®13. März¬ mit eben diesem Freunde, der all seine grenzenlose Liebe und Freundestreue, die er für Edgar hatte, theilweise auf uns übertragen hat nach Verona, seiner Ge- burtsstadt, die er uns zeigen wollte. Nun hatte mir Heyse schon vor längerer Zeit geschrieben, wir sollten ihn doch besuchen, er sei so einsam, mit offenen Armen würde er uns empfangen. Als ich das einmal erwähnt sagte Vanzetti sogleich: Ich bring Euch dahin. Den folgenden Tag, an dem Iden des Märzen (15.) ®Heyses Geburtstag,¬ fuhren wir auf dem, eine Stunde von Verona entfernten Gardasee nach Gardone. Ich war also bei "Ihm", fand aber den armen Freund ganz ®verstört,¬ kaum kenntlich mehr, wegen dem Zustand seiner Frau, die an demselben Übel wie unsere arme Luise, darnieder lag. Wir blieben natürlich nicht lange und hielten uns dann noch einige Tage in Verona auf, immer mit Vanzetti umherziehend. Endlich aber kam der Tag des Abschieds von unserem theuren Sonnenlande. Vanzetti brachte uns noch auf die Bahn und seither nun weht kalter Winterwind, und wir stecken in Eis und Schnee. Die Anstregngung war zu groß für Isolde, denn jetzt kam auch noch das Hausieren nach einer Wohnung, die sie zwar in der ®Gisela- Strasse¬ fand, nicht zu weit von uns entfernt, aber nur um sich gleich wieder legen zu müssen. Es geht ihr zwar jetzt besser, aber ihre Constitution ist erschüttert und das schlechte Wetter ließ keine völlige Erholung zu, denn ihre Nerven sind furchtbar angegriffen, und sie sollte arbeiten, denn der Beutel ist leer. Was aber am allerschlimmsten auf sie einwirkt, das ist ihre beständige Angst um mich, obgleich ich mich leidlich wohl fühle, und da ich sehe, wie sie an meinem Restchen Leben hängt, werde ich auch alles thun, es zu verlängern so weit man das kann. Nach meiner armen Söhne Tod hatte ich das nicht gethan, hatte den Tod herbeigewünscht, als ich aber Isoldes Verzweiflung sah wenn mich ein kleines Übel befiel, erkannte ich, daß es krasser Egoismus von mir war, mein armes einsames Kind verlassen zu wollen. Welch ein Trost wäre es für mich, wenn Du nur noch 10 Jahre jünger wärst und ich sie Dir vererben dürfte. Du bist das einzige weibliche Wesen, das ihr durchaus sympathisch ist. Sie fühlt aus Dir heraus eine jetzt versunkene Kultur. Das Fatale ist auch noch, daß Du an Dein Frauenheim gebunden bist und Dich wohl auch nicht vom Heimat- boden entwurzeln könntest, nicht einmal auf länger entfernen. Die Gewohnheit ist ein gar gewaltiger Faktor; und die Gewohnheit wirkt auch bei mir so gewaltig, nicht nur im schönsten Land, an dem die Erinnnerungen der höchsten Kultur..... der ruhmreichsten Namen hängen, in diesem Land ®29 Jahre¬ lang in Glück und Unglück gelebt zu haben wirkt als gewaltiger Magnet, sondern auch ®die Asche von¬ ®drei Söhnen¬ mit italienischer Erde vermengt zu wissen, läßt mich hier das unendliche Heimweh fühlen, trotz der Anwesenheit meines geliebten ®Erwins,¬ der ein zärtlicher Sohn ist und den ich diesmal in viel besserem Geundheitszustand traf als früher. Der Umstand ist nur, ich hab ihn so wenig, denn er geht ganz in seiner Kunst auf. In frühen Morgenstunden ins Atelier, übers Mittagessen kaum ein Stündchen und nicht allein, spät des Abends zurück, so leide ich doch an der Sehnsucht nach ihm, und Isolde hat gar nichts von ihm, doch haben wir die Hoffnung, daß ihn der Herbst auf einige Wochen ans Meer bringt, da besitze ich ihn dann und seinen Bruder in ihm. Ob Isolde nach Stuttgart kommt, hängt natürlich ganz von ihrer Erholung ab. ®Kröner¬ dringt darauf, will auch mich bei sich haben, aber das läßt sich alles jetzt noch nicht bestimmen. An der ängst- lichen Sorge mit der ich umringt bin, und daß man mich gar keine Schritte allein gehen läßt, bekomme ich die Empfindung, als erwarte man fortwährend eine Katastrophe bei mir. Ich fühle mich übrigens für mein Alter ganz wohl. Das Gedächtniß hat gelitten, meine Füße sind nicht mehr die der leichten Rehe, die sie noch vor zwei Jahren waren, und mein Athem ist etwas beengt, wenn kalte Luft mich an- weht, so war es nicht in Forte, das aber sind eben Alterserschei- nungen mit denen man rechnen muß.

Ich bin sehr erstaunt zu vernehmen, daß Onkel Rudolph K. sich zu ®Schopenhauer¬ geneigt hat. Haben ihn seine unerfüllten Wünsche zum Pessimisten gemacht, oder fand er wirklich objectiv in jenen Buchstaben des Werkes "Die Welt als Wille und Vorstellung," die ganze philosophische Weisheit? Ich habe auch die kleinen Sachen von ihm gelesen. Was er übers Christenthum schrieb, war mir aus der Seele gesagt, aber seinen Mystizismus begriff ich nicht, ebensowenig seine Vorstellung, daß die Seele, oder wie soll ichs heißen, das Denkende mit dem Tode, wenn der Mensch den Willen zum Leben nicht abgestreift, noch eine Zeitlang fortexistiert. Wenn ein Etwas da ist, das den Tod überdauert, so kann es ihn auch ganz überdauern, das muß auf physikalischem Wege möglich sein, und nicht als transzententaler Gedanke. Übrigens habe ich die Anziehungskraft Schopen- hauers recht wohl empfunden, ebenso die des Brahmaismus, aus dem er so viel geschöpft hat.- Die ausgedehnte ®denkende¬ Substanz des ®Spinoza¬ mit ihrem modi leuchtet mir eigentlich am meisten ein, auch kann ich mir bei Euripides philosophischen Versuchen etwas denken: "Der Allgeist und der Menschengeist wesensgleich. Im Tode wird durch die Trennung von den irdischen Elementen, der Geist, das Pneuma des Menschen zwar nicht leben, in der Weise wie es in dem Sonderdasein des Einzelmenschen gelebt hat, aber er wird unsterb- liches Bewußtsein behalten, indem er in den Allgeist eingeht und mit dem All-Lebendigen sich vermischt."- Ist jener Drang in uns, das Denkende in uns übers Grab hinaus retten zu wollen, nur ein geborenes Gefühl, eine Intuition, oder ist es nur Egoismus, hat am Ende der Materialismus recht und wir zerstäuben im Weltall? So irren meine Gedanken herum und möchten doch in jedem Sonnenstäub- chen noch einen lebendigen Theil meiner hingegangenen Lieben fin- den. - Wird die Menschheit wohl immer im Dunklen tappen müßen, oder wäre es denkbar, daß in Millionen von Jahren, falls die Erde noch so lange stünde, durch tiefere Erkenntnisse der Naturwissenschaft das Welträthsel etwas gelichtet würde? Ich habe einen Bekannten unter den Theosophen, der bei allen Sterbenden seiner Bekanntschaft umhergeht auf das blaue Wölkchen wartend, das der Geheimlehre des Brahmanenbrauchs als Seele sich loslösen soll. Er hats noch nie zu sehen bekommen und wird noch ganz irrsinnig darüber. Aber die Gläu- bigen wissen sich immer zu helfen. Er ist eben keine Schauender und nicht würdig solcher Offenbarung.

Und nun verzeih, daß ich wieder auf Abwege gerathen bin, aber wes das Herz voll ist, dem geht der Mund über. Du wirst inzwischen die Pyramiden Ägyptens bestiegen und Dich im Nil gebadet haben. Ich habe gestern auch prachtvolle Ansichten jenes Wunderlandes gesehen, ... die ein junger Arzt, ein ®Doktor Schiler,¬ der ein halbes Jahr in Kairo angestellt war, mitgebracht hat; sie dehnten sich aber auch noch auf Griechenland und Konstantinopel aus. Länger als bis Mai kann man übrigens nicht in Kairo verweilen. Bis dahin bekommst Du auch sicher Deinen Pflegesohn wieder in Deine Nähe.- Wie gern möcht ich Dich noch einmal sehen bevor das Alter noch schärfere Verwüs- tungen in mir macht. Vielleicht gelingt es doch auf die eine oder andere Weise. Daß die arme ®Luise¬ wieder rückfällig wurde und jetzt bei ihrer Schwester in Eßlingen ist, wirst Du wissen. Laß bald von Dir hören und viel.
Vor Herzen umarmt Dich
Deine Marie
®München, Aimillerstraße 18¬ Tausend Grüße von Isolde und auch von Tille.

®30.5.1906¬

aus München 411
Mein liebes Waldfegerlein!
Es ist ein angenehmes Gefühl zu wissen, daß Du unser ganzes Leben so mit uns mitgelebt hast, Du kannst Dir deßhalb denken, wie wohlthuend Dein Brief war. Ich kann das Leben ®Hermanns¬ mit nicht so grauer Brille versehen, da er doch im engen Kreise sehr anerkannt war, da seine Jugend durch innige Freundschaftsbande mit Deinem Onkel und ®Mörike¬ rosig angehaucht und der nahende Abend seines Lebens durch Heyse erhellt war. Auch kann ich Dir versichern, daß er es freudig empfunden hatte lauter begabte Kinder zu haben, daß er keine Ahnung von dem bevorstehenden so unheilbaren Leiden seines Balde hatte, und mit Ruhe und mit Stolz seiner Zukunft entgegensah. Er durfte den Tod keines der Seinigen erleben. Ich fand in einem Brief an Heyse, wie er überzeugt war, daß die vielen Störungen bei Balde sich geben würden, wenn die Zeit der Entwicklung vorrüber. Erst nach Hermanns Tod sagte mir Dr.Gärtner, daß sich bei dem armen Kranken ein schweres unheilbares Herzleiden entwickelt habe. In den 10 Jahren dieses Martyriums, das er erdulden mußte, dachte ich oft: "Wohl seinem armen Vater, daß ers nicht überlebte." Und dann erst seine beiden andern Söhne auf der Höhe ihres Lebens und der Entwicklung. Sein Edgar, ein leuchtender Stern der fallen mußte - ich gönne es ihm, daß ich es allein zu tragen habe als der viel zärtlichere und beglücktere Vater, als Heyse, dem auch Schweres geworden, das aber anders geartet ist und der den Lebensmuth nicht verlor. Du fragst, warum ihn seine Mitwelt nicht erkannt habe und erst die Nachwelt die Augen geöffnet? Ist das nicht das gewöhnliche Dichterloos? Ich las erst wieder die Leidens- und Lebensgeschichte Cervantes. Als elender Steuereinnehmer mußte er sein Hungerbrot essen, von den nichtzahlen wollenden Bauern mißhandelt, von der thörichten Polizei ins Gefängnis geworfen, wenn er die Summe nicht zusammen brachte. Im Gefängnis schrieb er theilweise seinen "Don Quicote".- Goldoni starb den Hungertod, Kleist fast ebenso, und Schillers Haus war nicht reich mit Dienern (?) besät. Und das kann man auch von einem Planeten wie der unsrige ist, nicht erwarten, wo der tückische unterir- dische Gott..., solche Gewalt hat, wo im ethischen Kampfe der Menschen, um die höchsten Güter der Freiheit, Ströme von Blut fließen müssen, um nur das Nothdürftigste zu erreichen. Und was der einzelne Mensch nach grausamem Lebenskampf erreicht ist schließlich nur Resignation, und doch bleibt ihm zuletzt der Wunsch, der Drang nach Freude.

In mir ists so öd, so traurig geworden. Ich war voriges Jahr noch lebenskräftiger, hab mich nach der Rückkehr nach Florenz gesehnt, jetzt ist ®das liebe Florenz tot¬ für mich, denn wir haben kein Heim mehr dort, nur das Meer wird uns noch einmal begrüßen. Meine Kräfte sind in diesem Jahr ganz erstaunlich niedergegangen. Das Gehen wird mir sauer, und ich fühle oft eine große Schwäche. Ich suche das Isolde zu verbergen, so gut es nur gehen mag, aber ich zweifle manchmal selbst, ob ich die Reise noch unternehmen kann, so kurz vor der großen Reise nach Forte. Übrigens habe ich Tage, an denen ich mich ganz ordentlich befinde, dann kommmen aber wieder Tage von ganz großer Schwäche, hauptsächlich, wenn wieder die nasse Kälte eintritt und dieses deutsche Klima ist doch ganz abscheulich, ich meine es sei früher nicht so gewesen. ®Tübingen¬ werde ich auch nicht mehr sehen, aber ich bin froh, daß jetzt die ®Grabangele-¬ ®genheit¬ gesichert ist. Nun ist vollends der letzte Bekannte aus unserer Zeit gestorben, Prof. ®Hegelmaier¬, mit dem wir zusammen in einem Haus draußen an der Eisenbahn gewohnt haben. Genschowskys, die alle so lieb und treu an uns hingen sind alle dahin. Und so ist jene Musenstadt, die mir so lieb war, eine wahre Akropolis geworden. ®Isolde¬ hatte ®so viele Anbeter¬ damals in ihrer strahlenden Jugendblüthe, daß ich eigentlich ihre Antipathie gegen diese Stadt nie begriff. Was brauchten sie die spießbürgerlichen Weiber und neidischen Mädchen zu bekümmern. Ich sah so etwas gar nicht und schritt lachend darüber hinweg. In Reutlingen haben wir einen mir noch sehr theuren Freund, Edgars- und Alfreds Obergymnasiallehrer Prof. ®Kayser¬, der so innigen Antheil am Tod Beider nahm, er sei immer stolz gewesen, daß Edgar sein Schüler war, aber ich bin jetzt zu alt, kann nichts mehr unternehmen. Bin ich zu der Zeit von Isoldes Abreise so weit wohl, so versuche ich die Reise, obgleich ich in Kröners Kreise nicht passe. Es ist mir Angst darauf, aber einmal müssen ®wir¬ uns doch noch sehen. Vielleicht wacht dann mein halb eingeschafenes Ich wieder auf, und meine dämmernden Erinnerungen werden wieder aufgerüttelt.- Jener junge Dr. Schiler ist der Enkel unseres alten Freundes ®Hopf¬. Er was als Assistenzarzt in einem Sanatorium (Helmon) bei Kairo einen Winter lang dort, hatte zuerst Korfu und ganz Griechenland bereist, ließ seine Frau nachkommen, die ebenfalls eine Griechenverehrerin wie er ist, Griechenland und die griechischen Inseln zuvor bereiste, dann kehrten sie, mit Kunst- und Landschaftsansichten reich beladen, hierher nach München, wo er eine Stelle in der gynäkologischen Klinik fand und Isolde wochenlang behandelte. Jetzt ist er in Karlsruhe. Gut bezahlt wurde er in Kairo nicht, 100 fl im Monat aber alles frei, auch die Hin- und Rückreise. Wenn Deines Pflegesohnes Aussichten sich auch nicht realisieren, so hat er doch einen immensen Gewinn an geistigen Reichthümern sich erworben. Hoffentlich wirst Du ihn auf der Heimreise zu sehen bekommen? Isolde hat hier eine sehr angenehme Bekanntschaft gemacht, ein Professor ®Crusius,¬ (Buch: Otto Crusius,"Dt. Gestalten") der ihr schon nach Forte seine letzte Arbeit über ®Rhode,¬ geschickt hat. Er ist Professor der Philologie und Archäologie und hat eine große Bewunderung für sie, ja er schmuggelt in seine Vorlesungen hie und da ein passendes Gedicht von ihr ein, einer der wenigen Norddeutschen, die auch für Hermann ein volles Verständniß haben! Weißt Du, wenn befriedigter Ehrgeiz glücklich machen könnte, so müßte sie es sein, aber sie ist es nicht und leidet an ihrer Vereinsamung im Hinblick auf meinen baldigen Tod. Doch das hab ich Dir, glaube ich schon einmal gesagt mit dem schmerzlichen Bedauern, daß ich sie Dir als Tochter oder Schwester nicht vermachen kann. Das aber glaube ich Dir noch nicht gesagt zu haben, daß Erwin eine so vortreffliche Büste von Edgar gemacht hat und zwar ohne eine nur halbwegs ordentliche Photographie, nur aus dem Gedächtniß. ®Drei¬ große Monumente von ihm schmücken nun die ®Stadt München,¬ und seit einem Monat ist er Lehrer an der Akademie, die Akademiker sind ihm sehr zugethan, sein Atelier hat er nun auch in der ®Akademie.¬ Sein ®Sohn¬ ist von einem tollen Ehrgeiz besessen, arbeitet sich halb todt, gewinnt einen Preis nach dem andern und hat nun auch die Ausführung ver- schiedener Gebäude, darunter eine Kirche (A.) - Ironie des Schicksals,- doch ists wenigstens eine katholische, für die heidnischer Schmuck passt.

Mit Emmis Fußleiden gehts besser. Wir erwarten im nächsten Monat auch unseren alten Freund ®Mohl,¬ Professor in Petersburg, der uns schon zwei mal in Forte besucht hatte. Er war Isoldes griechischer Lehrer und ist der treueste der Treuen. Er reist ins Bad nach Kissingen. Ich weiß nicht, ob Du Dich noch seiner erinnerst oder ihn überhaupt kennst?

®Die Münchner¬ sind ein tolles lustiges Völkchen, da hören die Feste, Bergtouren und Maskentänze nie auf. ®Irene¬ thut tüchtig mit, hat ein Heer von Anbetern hinter und vor sich - ist keine Turandot, kein Kieselherz wie Isolde es war, und ®Tilla¬ genießt ihre zweite Jugend. Ich freue mich für alle die noch lustig sein können. Hoffentlich regnet es nicht so unaufhörlich bei Dir und Deine Amseln behalten ein trockenes Gefieder, sonst ists aus mit ihrem Gesang. Auch unter unseren Fenstern tummeln sich Gelbschnäbler herum, aber sie singen nicht. Daß ich meist gute Nächte habe in meinem hohen Alter ist doch eine große Wohlthat, sie führen mir dann meine todten Söhne zurück und hauchen mir Jugend und Glück ein. Kommen dann hin und wieder die schlaflosen Nächte, so sinds die Dämonen die mir die Schreckensbilder der Vergangenheit vorführen. ®Ich schlafe mit Erwin in einem Zimmer¬, die einzige Zeit, wo ich ihn ungestört habe. Erfreue Dich Deiner Tannenluft und komme recht gekräftigt zurück. Die Zeit bis wann wir nach Berkheim kommen ist noch umbestimmt, ich sage wir, weil ichs doch noch für möglich halte, obgleich mir Angst auf die Reise ist. Lebe wohl und sei innigst gegrüßt von
Deiner alten Freundin
Daß Marie Flattich mich besucht hat, habe ich Dir wohl nicht geschrieben, lieb und herzlich.

®21. Januar o.J. (1907 ?)¬

aus ®Firenze¬ Hotel de Rome 417
(ohne Anrede)
Du hast recht, mein liebes Waldfegerlein, unsereins muß gleich schreiben, wenn es einen Brief erhalten hat, der ihm lieb ist, sonst fliegen Empfindungen und Gedanken davon und das Leben mit seinen Anforderungen tritt dazwischen, und aufgeschoben ist meist aufgehoben. Die Diagnose, die Du da stellst, paßt wohl in noch höherem Grade auf mich, die das Alter noch schärfer angehaucht hat. Ferner weilen meine Gedanken noch unverschleiert, ich fühle mich mitten drin mit jugendlichem Herzen, die kleinsten Kleinigkeiten können mir in den Vordergrund treten; mühsam halt ich fest, was eine Woche, ja oft nur ein Tag vorher an mich herangetreten ist, und eine wahre Qual ist das Verlegen. Eine Donna, die wir zwei Jahre hier hatten, eine fromme Katholikin, aber mitleidig für meine Vergeßlichkeit, bevor sie zu suchen anfing, rief jedesmal dem Heiligen Antonius zur Hilfe, der der Schutzpatron alles Verlorenen ist. Und da es ihr gelang, das Objekt zu finden, glaubte sie fest an ihren Heiligen. Wenn ich aber aus Scherz sie nachahmen wollte - wehrte sie ängstlich ab, denn meiner Ungläubigkeit helfe der Heilige nicht. Und doch gehts nicht allen alten Leuten so. Nicht bei allen verdorren die Hirnzellen gleichermaßen. Wenn man doch so einen Vorgang im Gehirn sehen könnte. Jetzt gehts bei mir an den Namensschwund. Wie lang wird das Zerbröckeln eines Menschen noch fortmachen? An Schwindelanfällen leide ich nicht mehr, dagegen treten sehr oft Blutergüsse im Gesicht, und an der Nase und am Mund hervor, Stiche oft am ganzen Körper, jedes dieser Anzeichen ruft: "memento mori". Und jetzt, da er mir nahe steht, und ich kaum mehr einen halben Schritt bis zu dem dunklen Thore habe, hinter dem alles verschwindet, möchte ich den Tod, den ich so oft nach dem Verluste meiner Söhne herbeigerufen und gesucht- jetzt möcht ich ihn noch eine Zeitlang ferne halten, wenigstens bis Isolde ihre Arbeit, die am Anfang so siegesfroh dahinfloß und dann so grausam gestört wurde, vollendet hat. Denn wenn ich ihr jetzt den fatalen Streich spielen müßte, könnte sie den Faden nicht mehr anknüpfen. Also thue ich alles was ich kann mich noch zu erhalten, aber seit ich hier in FLorenz bin, fühle ich mich noch lange nicht so wohl, wie am sonnigen Strand des Meeres, obgleich das Wetter strahlend schön ist, aber jene Wärme fehlt, jene kosenden süßen Lüfte, die sich so erquickend um alle Glieder schlängeln. Wir sind so ungefähr ®10 Tage hier¬, unser alter Freund, Edgars altes Ego hat uns abge- holt und hier im ®Hotel de Rome¬ abgesetzt. Gleich in derselben Nacht wurde Isolde krank. Da Athemnot und Stechen auf der Seite damit verbunden war, ebenso Fieber erschrak ich entsetzlich, doch kurierte sie Vanzetti bald, es war nur eine Zwerchfellentzündung. Aber der Klimawechsel hat doch recht gut eingewirkt und ihr einen gräulichen Kartharr als Folge zugeführt. Wir bewohnen zwei Zimmer im vierten Stock, voll Sonnenlicht, aber die hohen Zimmer sind doch kalt, so warm es auch draußen ist und lassen sich durch den Kamin schlecht heitzen. Die Eigenthümer des Hotels sind Schwaben und unsere ersten Bekannten, Edgar war 25 Jahre lang ihr Arzt. Der Eigenthümer starb einen Monat vor Edgar, der ihn an einem Krebs so sorgfältig behandelte, daß er nie sein Leiden ahnte. Jetzt leisten sich beide da droben am Feuertempel Gesellschaft. Wir sind in Pension und zahlen deßhalb keine Hotelpreise. Ich hab schon wieder das Heimweh nach unserem Häuschen, nach dem Garten, in dem die Pfirsich- bäume schon wieder weiße Knospen trugen - es ist eben auch mein altes geliebtes Florenz nicht mehr, seit mein Edgar nicht mehr in den Straßen einhersaust. Ich werde auch wie eine Gefangene im Haus gehalten, denn es ist unheimlich und gefährlich, wie die Automobile in den Straßen, die eng sind, sich bewegen und so sitze ich im Zimmer, bin auch nicht mehr so leichtfüßig und kräftig wie in Forte, konnte es noch nicht einmal wagen meinen lieben Balde auf San Miniato einen Besuch zu machen. An ®Edgars Ruhestätte¬ darf ich gar nicht denken, denn die ist 1 1/2 Stunden von Florenz entfernt. Die letzte Zeit war Forte allerdings kein Friedenshort mehr, denn kaum war der Schrecken mit den Gaunerbanden versaust, so kam noch einmal ein ®Sandsturm¬ und ein viel ärgerer noch als das erste mal, der die die Terasse beschädigte, so daß der Regen in Strömen von der Decke herabschoß. In jener Nacht glaubten wir es sei ein ®Meerbeben¬ und werde uns verschlingen. Wir umschlangen uns daher in einem Bett den gemeinsamen Tod erwartend. Ich habe noch keinen so wechselvoll stürmischen Winter am Meer erlebt, bald heiß bald kühl, dann Regengüsse und Gewitter. Es war dennoch nur der Mangel eines Arztes der uns forttrieb. Was später aus uns wird das wissen wir noch nicht. Kröner hat uns gestern wieder auf sein Berkheim eingeladen, ich glaube aber nicht, daß so etwas noch ausführbar ist. Ich war gern dort. Es war schön, aber zum zweiten mal wird ein Ding nicht wieder so schön und man muß eine Zitrone nicht zu sehr auspressen wollen. Also mache ich keine Pläne und lasse eben kommen, wie es der Zufall will. Ich finde ®Fischer¬ hat Recht, wenn er die Briefe nur für Literaturhistoriker gesammelt hält. Diese abgerissenen Abschnitte, denen auch eine in die Augen fallende Überschrift fehlt, machen nicht den Eindruck, den ein längerer Auszug, wo es sich auch um mehr allgemeine menschliches gehandelt hätte, hervorgebracht hätte. Besonders sind die Briefe an Deinen Onkel von einer Reichhaltigkeit, Liebesverhältnisse aber kaum.... ..,die man schmerzlich vermißt, wenn man die Briefe selbst gelesen hat. Mit ihm war er ohne allen Rückhalt. Nur zu wahr ist es, daß das Schicksal Deinen Onkel am stiefmütterlichsten behandelt hatte. Eine Äußerung, die er einst bei mir that, müßte Dir beweisen, ®wie¬ lästig ihm sein geistiges Amt war, da man ihn aber vor dem Ver- hungern geschützt wußte, glaubte man dem Genius nichts schuldig zu sein. Jezt ist es umgekehrt geworden, jeder ideenlose Banause der Dichterlingsbande scheint ein jeder sich verpflichtet ihren Schund mit klingender Münze zu ehren.- Wenn nur die Todten, die jetzt wieder wie gehobene Schätze ans Licht dringen, auch noch etwas von ihrer Auferstehung hätten!

®Maja¬ hat Riesenfortschritte in der Malerei gemacht sie ist überhaupt reich begabt und in jener Weise, wie es die Italiener in der Renaissance waren, nach allen Seiten hin. Ihr musikalisches Talent sei enorm, ihr Sprachtalent wie bei Edgar und Isolde, es geht ihr nur leider ein fördernder Umgang ab. Und so lebt doch mein Edgar weiter in ihr.

Wenn ich Dich nur etwa 10 Jahre jünger machen könnte um ruhiger aus der Welt zu gehen. Dann würde ich meine Isolde in Deine Arme legen und sagen:" Nehme doch die Verlassene Einsame an", so ists mir ein Jammer ihre tägliche Angst um mich zu sehen. Eine mir liebe Tübing- er Freundin liegt jetzt auch zwischen Tod und Leben. Du wirst die schöne ®Lina Strecker¬, ich weiß nicht ob Du sie kennst.... .....Schwägerin von Maja Tafel.

Wie lang wirst Du noch warten müssen, bis Deine Wälder wieder grünen. Es ist eine Elend, daß man im Alter jetzt nicht mehr zusammen kommen kann und ein weiteres Elend, wenn man kein Geld hat und sogar am Porto sparen muß, was die Entfernung noch entfernter macht.- Ob wir uns je noch einmal wieder sehen? Ich glaubst kaum, ich meine es habe 3/4 bei mir geschlagen. Isolde grüßt Dich tausendmal und ich denke Deiner in Liebe bis ich nicht mehr denken kann.
Deine Marie
Grüß mir meine Luise, ich hoffe, daß es ihr gut geht. Es ist ein Glück, daß sie so optimistisch ist. Darf ich Dich bitten, dem bei- gefügten Zettelchen eine 5 Marke zu schenken und es in den Schalter zu werfen, gelegentlich.

Karte vom 31. 3. 1907¬

aus Firenze 421
Liebes Waldfegerlein.

Von Luise habe ich erfahren, daß Du Dich nicht so schnell von Deiner Influenza erholt hast. Es ist auch bei mir so, obgleich ich in beständigem Sonnenschein sitze, dessen Kraft aber durch Winde gemildert wird hab ich die alten Kräfte noch nicht wiedergewonnen. Jetzt hab ich dazu noch einen Kartharr bekommen, der zum morgigen Auszug nicht angenehm ist. Das Hotel wird nun mit Freunden überhäuft und so müssen wir Platz machen.

Die neue Adresse ist: ®Via dei Conti 2 piano¬. Du mußt jetzt die ganze Adresse italienisch schreiben, statt Frau Signora, denn dort kann niemand deutsch und der Briefträger kann es auch nicht. Meine frühere Karte wirst Du erhalten haben?

Ich war nur einmal 5 Minuten etwa an der Luft, sonst immer im Zimmerarrest. Natürlich wirds dieses Jahr mit Stuttgart nichts. Kröner, der uns hier besuchen wollte, bekam die Influenza und hat sich noch nicht erholt. Auch Isolde ist nie recht wohl. Die Angst und Pflege, die so lang dauerte hat sie sehr angegriffen. Ist das ein Jahr! Was ist nur Schuld an dieser Kälte und allgemeinen Krankheit? Wenns Dir wieder besser geht laß von Dir hören und auch von Deiner Pflegerin, die mich so sehr interessiert. Inzwischen tausend Grüße von
Deiner uralten Freundin Marie

Karte v. ®23. 4. o. J.¬

aus Florenz, Via dei Conti 3. 2 p (datiert 1895, muß 1907 sein?) 423
ohne Anrede
Es freut mich, mein liebes Waldfegerlein, daß Du Dich doch besser erholt zu haben scheinst, als ich, die ja immer noch Zimmerarrest hat. Auch freue ich mich herzlich, daß Du eine Reise vor hast und Deinen Pflegesohn zu sehen bekommst, was Dich gewiß aufmuntern und stärken wird. Ich baue gern an dem Luftschloß, daß wir uns un München sehen werden, wenn ich mich noch einmal wirklich so weit aufraffen werde, um die große Reise erleben zu können. Meine letzte Krankheit hat mich übrigens kräftig mitgenommen, und ich fühle mich jetzt recht alt, was ich vor meiner Krankheit nicht war. Zu der trü- ben Stimmung kommt noch das schlechte Befinden. Alles kommt noch von der Schmerzenszeit, von dem Tod meines Edgar, der sich jetzt zum zweiten mal jährt. (Anm.) Leider ist es mir nicht vergönnt noch einmal den Ort zu sehen, wo Edgars Asche ruht, denn der Weg ist gar weit dahin und das Wetter, so wie ich noch keins in der 30 Jahren erlebt habe, seit ich in Italien bin. Wohl ists die alte italienische Sonne, die über FLorenz leuchtet, aber es geht ein eiskalter Nordwind, und von meinem geliebten Florenz habe ich noch nichts gesehen als die Dächer der Stadt.

Meine tägliche Beschäftigung ist Hermanns gesammelte Werke wieder zu lesen, das zerstreut mich ein wenig.

Erlaubt es meine Gesundheit, so gehen wir noch auf einige Monate nach Forte, bevor wir nach München reisen. Schreibe mir noch eine Karte, bevor Du abreist. Du thust mir unendlich wohl damit.
Wir grüßen Dich beide recht innigst
Deine Marie
(Anm.: 2 Jahre nach Edgars Tod ist 1906, doch da war Marie in München um diese Zeit. - Die Via dei Conti liegt ganz dicht beim Dom.

®18. Mai 1907¬

aus Florenz 425
Mein liebes Waldfegerlein!
Vor einigen Tagen hatte ich Dir einen 6 Seiten langen Brief geschrieben, da ich keine Marke hatte, und so steng in Gewahrsam gehalten werde, konnte ich ihn nicht gleich besorgen und steckte ihn wahrscheinlich in ein Buch, kann ihn aber nicht mehr finden, obgleich ich über eine Stunde gesucht habe. Mein Gedächtniß ist so schlecht geworden für den alltäglichen Gebrauch, daß es ein Elend mit mir ist. Dein Brief hatte mich so traurig berührt, und es ist mir gar zu arg, daß ich Dich jetzt in dieser qualvollen Sorge wissen muß. Ich weiß was das heißen will und muß deßhalb alles mit Dir, alles in Gedanken durchmachen. Frage doch den ihn behandelnden Arzt, weßhalb er ihm keine Morphiuminjektionen macht, die den Schmerz lindern und ihn betäuben? Edgar that das immer bei so schmerzhaften Zuständen, und dasselbe thaten die Ärzte bei ihm, um ihm die heißen Schmerzen auf der Lunge zu lindern, sonst hätte er ja noch mehr ausstehen müssen. Blasenleiden sind sonst keine so schmerzhaften Leiden, aber sehr langwierig. Du dauerst mich schrecklich, kaum selbst erst wieder genesen, muß dieses Elend über Dich kommen. Ich hätte mich so sehr für Dich gefreut, daß Du Deinen Adoptivsohn wieder sehen könntest und Dich in anderer Umgebung auffrischen, nun muß es so gehen! Ach das Altwerden ist ein Greuel, gehts einem selbst leidlich, so sind es die Nächsten die uns Sorge machen! Ich will hoffen daß Dir das Schlimmste noch eine Zeitlang fernbleibt.

Auch ich habe mich in der jetzt herrschenden Sommerhitze wieder erholt, obgleich ich meine 80 Jahre schon spüre. Das Gehör hat nachgelassen und das Gedächtniß, obgleich das längst vergangene noch in den kleinsten Umrissen vor mir steht, nur die Gegenwart huscht spurlos an mir vorrüber. Ich hatte mir in München immer gewünscht nochmals nach Florenz zu kommen, einmal dort zu sterben, nur um im selben Feuertempel wie Edgar verbrannt zu werden. Da ich aber in meiner letzten Krankheit Isoldes Verzweiflung und ihre jetzt fortwährende Angst um mein Leben sehe, muß ich meinerseits alles thun, um mich zu erhalten. Der arme Schelm ist auch gar zu allein wenn ich die Augen schließe. Erwin ist ein guter liebender Bruder, aber er hat seine Familie und ist mit Arbeit so überladen, daß für eine Schwester mit dem besten Willen nicht mehr viel übrig bleibt. Wie oft muß ich ®Isolde¬ niedergeschlagen sehen wegen ihrer drohenden Einsamkeit, dann denke ich immer, wenn Du noch 10 Jahre jünger wärst, an Dir hätte sie viel, denn ich weiß, daß sie eine große Sympathie für Dich hat. Wenig Menschen sind so verständnißinnig wie Du. Du solltest auch nicht über Dich unzufrieden sein. Deine in so hohem Grad entwickelte Natur schenkt Dir ja alles Schöne und Große was neben der menschlichen Misere, doch in der Welt existiert und diese Produkte müßten in sich verkommen, wenn sie nicht eine Gemeinde um sich hätten. Das Schlimme ist nur, daß Du keinen männlichen Umgang hast und nur mit weiblichen Personen zusammen leben mußt, die wahrscheinlich gar kein höheres Verständ- niß haben. Ist denn deine neue Freundin immer noch auswärts beschäftigt? Sind nicht schon jemand solche Gedanken, Wünsche und Ideen gekommen? Ist denn alles aus, wenn unsere Pulse nicht mehr schla- gen? Warum sind wir mit dem mächtigen Drang des Erforschens, des Begreifenwollens begabt, wenn uns nicht auch das ganze Weltgeheimniß enthüllt werden soll. "Kein Wesen kann in nichts zerfallen," sagte Göthe, aber was er sich unter dem: "Das Ewige regt sich fort in allem" gedacht hat, das wußte er wahrscheinlich selbst nicht. Das was mir für ein Weiterleben, freilich in ganz anderer, nicht begreiflicher Form spricht ist, daß alle Errungenschaften auf allen Gebieten längst zuvor in Mythe, Märchen, Legende verworren sich gezeigt, also schon in der Menschheit lag, und daß somit auch dem Drang der weitaus meisten Menschen liegt ein entsprechender Vollklang geworden, aber es sprechen ebensoviele Gründe wieder dagegen, und so geht es auch einmal bei uns hin und her mit den Ansichten. Auch ich ließe es mir gern gefallen, statt mit fünf Sinnen mit ein paar hunderten im All wieder aufzuleben, um klar zu erkennen und die Geliebten wieder zu finden. Bei wem nun solche Hoffnung zur Gewissheit werden kann, der ist ohne Zweifel der glücklichste Mensch, aber logisch denken kann er nicht. Ich habe in meinen nicht willkommenen schlaflosen Nächten immer nur gelesen, wieder den ganzen Göthe, den just unzählige mal, mich aber geärgert, daß dieser große ... so nichtssagende Lust - und Singspiele und so viel unbedeutende Gedichte schreiben konnte neben so wunderbarem Schönen. Dann las ich wieder den Hölderlin, ein großes Werk über Schiller, Hermanns sämtliche Werke, viel von Isolde, das ließ mich meine Gefangenschaft ertragen. Wir wohnen in einem schönen von Säulen getragenen uralten ®Palazzo¬, aber mitten in der Stadt,(Anm.) also nicht im Grünen und allein ausgehen soll ich in den engen Straßen, in denen nun überall doppelte Tram und eine Menge Automobile passieren, nicht. Isolde muß arbeiten, denn die fünf Wochen in denen ich zu Bett lag und sie keine Feder anrühren konnte, müssen nachgeholt werden. Wie lang wir noch hier bleiben weiß ich nicht, vermutlich bis zur Hälfte des Juni. Isolde scheut sich ohne Arzt ans Meer zu gehen. Bis dahin wird schon einer oder der andere dort sein. Erwin arbeitet eben an einer Conceptualarbeit einer monumentalen Statur Schillers. Ein Herr ®von Gleichen¬, Enkel oder Urenkel Schillers von seiner jüngsten Tochter her, war bei ihm und hat seine Arbeit sehr gelobt, und da er das leibhaftige Conterfei seines grossen Ahnherrn ist, hat er sich ihm zum Modell angeboten. Von allen Seiten höre ich Erwin habe ein Meisterwerk gemacht, aber es kommt jetzt eben auf die Kunstrichter an, und die sind, wie er meint, ihm nicht gewogen. Möglich ist aber alles, das wäre ein großes Glück für Erwin, wenn er die Arbeit übertragen bekäme; und noch eine rechte Freude für mich. Hermann hätte doch recht viel Freude an seinen Kindern und jetzt auch an seiner Enkelin ®Maja¬ erleben dürfen. Letztere hat es in der Kunst außerordentlich weit gebracht. Sie malt wunderschön und habe eine ganz außergewöhnliche Stimme, die ebenfalls auch ausgebildet wird.-

Ich bin im Augenblick ganz ohne ein Kind. Isolde ist heute auf drei Tage mit unserem Freund Vanzetti nach Forte gegangen, weil sie dort Reparaturen anzuordnen hat. Ich bin diese drei Tage bei einer sehr befreundeten Familie und besuche heut Nachmittag Baldes Grab in San Miniato, denn es ist heute sein Geburtstag. Zu meinem Edgar kann ich wohl nicht mehr gelangen. Der Feuertempel ist zu weit von hier weg, und ich hab niemand der jetzt hinauf geht. Es ist mir schmerz- lich. Ich hoffe, daß es besser bei Deinem Bruder geht und umarme in treustem Mitgefühl Dich herzlich
Deine Marie

®Karte vom 22. 10.1907¬

aus Forte 431
Ohne Anrede!

Nehme die Einladung an, liebstes Waldfegerlein! Morgen reisen wir von Forte ab, obgleich es wieder schönes Wetter ist. Der Mangel eines Arztes drängt Isolde zur Abreise, weil sie ängstlicher als ich ist. In Florenz werden wir wohl schwerlich über acht Tage blei- ben, wenn nicht Störungen bei mir eintreten. Wenn Du wüßtest wie wunderbar schön es hier ist, würdest Du begreifen, wie schwer das Scheiden ist.

Daß Heyse so sehr krank (nicht krank, nur leidend) ist, wirst Du wissen. Von München schreibe ich Dir dann sogleich. Ich bin längst wieder wohl aber solche kleinen Störungen kommen immer von Zeit zu Zeit. Ich muß dann liegen. In einem Tag vergehen sie auch wieder, doch können sie die Reise auch um 1 - 2 Tage verzögern. Ich freue mich Dich zu sehen und werde mir Deine gute Lehre merken. Also auf Wiedersehen,
Dein Marie

Karte ®29.10.07¬

aus ®Firenze Pension Bacci, via Gianbologna 1¬ (hier wohnte Vanzetti) 433
(ohne Anrede)
Seit 6 Tagen sind wir hier und können nicht abreisen, weil in Oberitalien große Überschwemmung ist. Der Po und Ticino sind ausgetreten und durch diese Gebiete geht unser Zug. Hier in Mittelitalien regnet es zwar auch unaufhörlich, aber es gibt keine Überschwemmung. Die Zustände in Kalabrien sind furchtbar, viele Tausende von Todten und noch hört das ®Erdbeben¬ nicht auf.

Wir sind hier ganz ohne Nachricht von Erwin und wissen nicht wie es dort ist. Ich bin so in Sorge ob unser Wiedersehen nicht auch zu Wasser wird. Sobald wir in München sind, schreibe ich Dir. Inzwischen tausend Grüße
Deine Marie

Karte vom ®8.11.07¬ aus Florenz

Liebes Waldfegerlein!
Erwin hat mir Deinen Brief hierher geschickt, und ich will Dir auch von hier aus noch danken dafür. Die Wasser hätten uns schließlich schon abreisen lassen, aber Isolde wurde krank und dies verzögert unsere Abreise, da uns Edgars Freund Prof. Vanzetti bis Bologna bringen wird, was nicht vor der nächsten Woche stattfinden kann. Isolde ist sehr froh meinethalber, die Hälfte des Wegs unter ärzt- licher Aufsicht zu sein, aber wir müssen warten bis er einen ge- schickten Tag finden kann. Dein Brief hat mir große Freude gemacht, weil er zeigt wie jung Du Dich noch empfindest und Dich so gut in die Novellen hinein finden konntest.

Wo denkst Du hin, ®Hermanns 100jährige Geburtstagsfeier¬ mußt und wirst Du sicherlich noch erleben, sollst mit meinen Kindern und schließlich selber ihr beiwohnen, das denk ich mir nun schön aus. In 6 Jahren ist sie ja schon.

Wenn ich hier heil in München ankomme, schreib ich Dir gleich von dort. Isolde ist ausgegangen, ich füge aber doch Grüße von ihr bei. In treuster Liebe
Deine Marie

®11. November 1907¬

aus Forte 435
Liebs Waldfegerlein!
Dieser Name gebührt Dir nun aufs Neue, da Du so wonnig erregt in Deinen farbigen Wäldern herumgezogen. Du bist aber schief gewikkelt, wenn Du glaubst ich hätte so viel Zeit hier am Meer. Dem ist nicht so. Um 7 Uhr stehe ich auf, mache mein Bett, mache Feuer und das ist nicht so leicht wie in Deutschland. Ein urzeitlicher Herd muß mit Holzkohlen endlich zum Brennen kommen, dann mach ich den Kaffee: " Mütterlein, die Kaffee macht," Dieser Vers darf doch nicht zuschanden werden. Dann kommt wohl ein junges Ding bis über Mittag und kocht recht ordentlich, aber ich muß dabei sein, sonst putzt sie mit Servietten den Herd und etwa auch die Lampe. Nun ist auch ein großer Garten da, von dem ich die stets wiederkehrenden Schnecken ablöse und sie ans Meer trage, aber die Mistviecher kriechen wieder herein, und ich mag sie doch nicht tödten. Das Schlimmste aber war dieses Jahr ein wochenandauernder Mäusekrieg, die sechs Monate anhaltende Dürre zog diese Bestien, die kein Körnchen mehr im Freien fanden ins Haus. Da auch der Löwe die Maus fürchtet, so darf ich schon gestehen, daß ich fast toll darüber wurde und mit Gewissensbissen mich passiv verhielt, als man eine Katze herein brachte, das half für einige Zeit.- Mein Enkel ®Tristan¬ war bis vor Kurzem jeden Tag ein paar Stunden bei uns. Er war den ganzen Sommer hier mit einer Familie, die ihn wie das eigene Kind aufgenommen hat, die Tochter Böcklins, eine größere Ähnlichkeit wie zwischen ihr und ihrem Vater existiert wohl nicht mehr. Aber der arme Schelm macht mir viel Sorge. Er hatte bei seinem letzten Schiffbruch die Segelstange auf den Hinterkopf bekommen, einen solchen Sturz gemacht, und es hat sich ein schweres Leiden daraus entwickelt. Fast alle paar Tage wandelt ihn ein heftiges Erbrechen an mit rasenden Kopfschmerzen. An irgend eine Beschäftigung ist nicht zu denken, aber die Ärzte haben Hoffnung, daß es mit der Zeit besser werde. Jetzt ist er fort in Fiesole in der liebevollsten Pflege. So ist bei allem Jammer immer wieder ein Glück. Wir beide, Isolde und ich, könnten ja nicht für ihn sorgen und jetzt ist er umgeben von Reichthum und Wohlleben. Um Isolde war ich auch recht bekümmert. Der Husten gab sich bald hier am Meer, aber in Beglei- tung der stets richtig eintretenden Periode kam ein so heftiges Kopfweh, das noch über ein Woche nachher fortmachte, und da kein Arzt vorhanden, es mich in 1000 Nöthe brachte und sie natürlich von der Arbeit abhielt. Aber endlich wich auch dieses, und wir konnten unsere Meerbäder wieder aufnehmnen. Das Wetter war prachtvoll bis zum 31. Oktober, da brach eine Ära von Gewittern an, die einem die Nächte sehr verdarben, dann folgten Wolkenbrüche und fürchterliche Orkane und das dauerte 14 Tage. Unser Häuslein ist übel zugerichtet, ein gut Theil des Daches abgedeckt und der schöne schon frühlings- hafte Garten zerzaust und Bäume geknickt, ein empfindliches Ereignis für die Blüthe, aber es ging andern auch nicht besser. Um Isolde nicht an der Arbeit zu stören, mußte ihr natürlich jede Arbeit abgenommen werden. Nachmittags mach ich ihr den Thee und abends koche ich wieder. Vorher und nachher rufe ich meine geschiedenen Söhne herbei, indem ich die ungeheure Menge ihrer Briefe durchlese und sie mir so in jeder Phase ihres Lebens ganz lebendig vor die Augen treten, oft meine ich ihre Stimmen zu hören. Und diese Wohlthat wird mir hier am einsamen Meeresstrand ganz anders zu Theil als in der lärmenden Stadt. Freilich kommen auch sehr schmerzliche Erinnerungen damit, aber doch auch heitere, mich mit unbändigem Stolz erfüllend, wenn ich so das geistige Wachsthum meines prächtigen Edgars mit durchlebe. Und wie reizend war es, wie Alfred ihm nachstrebte und später ohne Neid die höhere Entfaltung seines Bruders anerkannte. Das Rückwärtsleben ist oft ein großes Glück. Dabei vergesse ich nicht, daß mir in den zwei Gebliebenen noch ein Schatz geblieben ist. Nur ist es für mich sehr schlimm zu sehen in welcher peinlichen Angst Isolde um mich schwebt. Natürlich die 80 Jahre sind ein beständiges "memento mori", so wohl ich mich auch gegenwärthig fühle. Erwin hat seine Familie und seine Arbeit, ein zwingendes Amt ist ein großer Helfer in einem Schmerz. Ich hab die Sehnsucht nach dem Tode, die mich zwei Jahre lang umgetrieben, verloren, nicht nur weil sich Isolde wie mit Klammern an mich hängt, sondern weil ich mir erst nach und nach das Unvergängliche meiner Kinder gerettet und in mich aufgenommen habe. Und so muß ich manchmal an den Holzhacker denken, der den Tod bat ihm sein Bündel Holz aufzuladen. Nur möcht ich FLorenz nicht mehr verlassen, weil es dort die bequemste Art zum sterben wäre, wegen der Nähe zum Crematorium.

®Maja¬ habe ich noch nicht gesehen, weil ich nicht über Florenz kam, sondern von Vanzetti in Pisa abgeholt wurde, der uns über Lucca hierher brachte. Das arme Kind ist immer viel leidend, alle Augenblicke kommen Hustenanfälle und Fieber. Sie hat sich jetzt mit Energie in ein fast zu aufreibendes geistiges Leben geworfen. In der Malerei soll sie collosale Fortschritte gemacht haben. Sie habe jetzt Edgar aus der Erinnerung gemalt, sie hat englische Stunden, Singstunden, dichtet, übersetzt, liest gegenwärtig den rasenden Roland übersetzt von Großpapa und findet, daß nur so das Leben erträglich sei. Ihr Leben ist kein glückliches, sie weiß es erst jetzt, was sie an ihrem Vater verloren hat.

Folgender Vers kann es Dir zeigen:

"Erst Vergangnes lernst Du schätzen, Erst Verstorbnes lernst Du lieben. Weise wirst Du erst im Leben, Wenn Dir gar nichts ist geblieben."
Erst jetzt hat sie Ausdauer und Energie bekomen. Sie schreibt mir oft und viel. Mir ist sie wie ein Geschenk von Edgar, aber auch um ihr Leben bange ich. Ich habe ihr die Hälfte einer großen Novelle, die sie ins italienische übersetzt hat, abgeschrieben, ich möchte sogar ihr die Freude bereiten, daß sie angenommen und gedruckt würde. Ich habe immer Hermanns Leben nicht als ein so unschönes betrachtet, da seine Jugend von einem Kreis ihm so verwandter Freunde umgeben war und sein beginnendes Alter von den jugendlichen Heyse aufgefrischt wurde. (auch von ihm die Kritik immer gerecht) Seine Briefe an Deinen Onkel waren mir immer die interessantesten, weil auch der junge Mensch darin seine Stelle hatte. Ich wollte, es wären nicht nur Auszüge aus seinen Briefen in der Süddeutschen, sondern die ganzen Briefe. - Was sagst Du von Heyse, der schon wieder einen dreibändigen Roman geschrieben hat und verschiedene Novellen. Ist nicht, als ob die Feder von selbst schriebe. Auch sei er wieder ganz vegnüngt.-

Es ist nur gut, daß überall die Natur beglückend wirkt, und Du Dir im Anblick Deiner Wälder keine höheren Reize denken kannst. Die Klarheit des Himmels, die Größe, und der im Norden nie gesehene Glanz der Gestirne, der Sonnenuntergang im Meere, und das Meer- leuchten bei Nacht, die Rosengluth auf den Marmorbergen, das sind Dinge, die man nie vergisst und nach denen man sich immer sehnt. Dennoch war ich gern in Württemberg, weil eben meine eigene Jugend mir dort entgegentrat, die glücklichen Zeiten mit meinen kleinen Kindern und die noch ungetrübte mit Hermann. Auch lieblich und heilig fand ich das kleine Ländchen, wenn nur nicht der Himmel so niedrig und die Luft so schwül wäre. Bei der brennnensten Hitze hier ist aber keine Schwüle. Wenn ich Dich nur einmal ein paar Wochen hier haben könnte. Das wäre auch für Isolde eine große Erquickung - das dumme Geld! Jetzt im hohen Alter möchte ich noch einmal reich werden, um den meinigen und denen die ich lieb habe zu helfen, aber "b`hilf de Hamersla" (?), heißt es auch da. Wenn nur Isolde leichter arbeiten würde, aber ihre Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit nimmt mit den Jahren immer zu, auch darin ist sie Hermanns Ebenbild. Kröner sagte ihr, er möchte sie so gerne noch reich machen, aber sie müßte ihm, gerade jetzt wo ihr Stern an meisten strahle, einen Roman und zwar in Eile schreiben. Ja, das kann sie nicht, wenn ihr etwas anderes, etwas lyrisches durchs Gehirn fährt, oder Unannehmlickeiten oder Gesundheitsstörungen sie überkommen.

Dein Magen- und Darmkartharr ist hoffentlich vorrüber? Sorge immer für gehörigen Stuhlgang, spare das Ricinusöl nicht, ist Dirs aber zuwider, so nehme das so sehr wirksame Magnesiumcitronat in gehöri- ger Menge. Edgar sagte immer der Frauen ewiges Weh und Ach sei nur aus einem Punkte zu kurieren: "Offener Leib". Bitte gib das Zettel- chen gelegentlich ®Luise¬, ich kann ihr nicht ausführlich schrei- ben, und sie ist so gut und anhänglich, es geht ihr ganz ordent- lich. Meiner ®alten Maja¬ muß ich auch wieder einmal wenigstens eine Karte schreiben. Sie ist auch so verwebt mit meinem Leben. Ich seh sie noch immer in ihrer Jugend Glanz, und bin ihr so dankbar, daß sie immer so viel mit meinen Kindern war, besonders mit Edgar, der mit ihrer Maja auch glücklicher geworden wäre, als er es war. Seine Majalieder haben wir nicht in seinen Gedichten gebracht, aus Rücksichten. Ob wir uns noch einmal wieder sehen werden ist zweifelhaft, aber in der Erinnerung stehst Du immer vor mir in allen Zeiten und in den Briefen der Meinen guckt überall das Waldfegerlein heraus, und Deine Briefe sind lebendiges Leben. Nimms nicht so schwer und geh doch nach Wien, das wäre Auffrischung. Jetzt noch einen Kuß
von Deiner Maja

®21. 11. 1907¬

aus München, Ainmillerstr. 18 439
Mein liebes Waldfegerlein!
Seit ein paar Tagen sind wir hier, aber erst heute habe ich mich aus dem Bett erhoben, in dem ein wüster Kartharr mich gefangen hielt. In wahrer Sommerhitze abgereist, der noch über den ganzen Oktober anhielt, selbst auf den Bergen wars noch recht warm und schön, doch beim Eintritt im Heimathland kam ein eisiger Regenguß und erneuerte meinen schon beendeten Kartharr, den ich gleich meinem Erwin anhing. Auch Isolde war damit behaftet und mußte doch tagelang nach Wohnung suchen. Vorerst ist sie in einer Wohnung schlecht untergebracht. Im Dezember kann sie in unsere Nähe ziehen. Das Wetter ist trostlos hier und wäre nicht Erwins Nähe, ich stürbe hier vor Heimweh nach meinem Sonnenland. Wie stehts bei Dir? Ist noch mit Deinem hierher kommen zu rechnen, ich glaube es kaum? Laß mich bald ein paar Worte wieder sehen von Dir und hören. Ich werde erst wieder ein Mensch, wenn ich die Sonne wieder sehe, von der kein Strahl in dieses Nebelland dringt. Mit Gruß und Kuß
Deine Marie

®17. Dezember 1907¬

aus München 441
Ohne Anrede
Du frägst mich, wies mir geht, meine Liebe? In Anbetracht, daß ich zwischen Eis und Schnee im kalten unwirtlichen Norden stecke, als Gefangene leben muß, geht es mir, dem Mangel an Verdauuung abgesehen, für mein hohes Alter sehr ordentlich. Isolde hat, um in meiner Nähe zu sein, eine sehr theure Wohnung Nr.2, parterre genommen, so daß sie ohne Zeitverlust stets nach mir sehen kann. Daß Du in diesem abscheulichen Wetter nicht hierher kommen werdest, hab ich mir wohl gedacht, aber wer mag sich leicht von der Bequemlichkeit eines eigenen Hauses im zweiten sommrigen L.., wenn alles aufs neue grünt und blüht trennen, um in winterliche Behausung einzukehren. Die Überschwemmungen in Oberitalien haben uns dann allerdings noch 3 Wochen länger aufgehalten, zudem war Isolde leidend in Florenz, wo wir auch nicht das allerschönste Wetter genießen konnten. Was es übrigens für mich ist, die ihr Leben lang die Beweglichkeit selbst war, kannst Du Dir wohl vorstellen, nicht zu lang vom Haus entfer- nen, da die intermittierenden Herz- und Pulszustände ohne jegliche Vorahnung einsetzen können, und ich dann sogleich ins Bett muß bis die Zirkulation wieder hergestellt ist. - Die vielen traurigen Nachrichten, die mich beim Eintritt in München trafen, hatten mir die erste Zeit sehr verdüstert. Am Tode Haußmanns nahm ich tiefen Antheil. Ich kannte zwar nur einen der Zwillinge persönlich, weiß nicht einmal ob es Friedrich oder Konrad war, aber als Söhne von Julius Haußmann, den alten 48er Freund, standen sie mir immer nahe, und daß Friedrich an der Lungenentzündung starb, führte mir die ganze Leidensgeschichte meines stets so schwer vermissten Edgars so sehr wieder vor die Seele. Auch ®Mühlbergers¬ Tod betrübte mich. Mit einem schweren Nervenleiden unseres Freundes ®Stockmayer¬, der mir seit Hermanns Tod meine Pensions... besorgte, wurde ich auch hier überrascht, außerdem mit schwerer Krankheit, ebenfalls complizierter Lungenentzündung eines Neffen, dem Bruder von Luise Kurz. Eine liebe Tübinger Freundin, Frau Lina ®Strecker¬, mit der ich immer in Verbindng geblieben war, auch sie war mir zuvor gestorben, dann ®Marie Schiler¬ geb. Hopf und Hedwig ®Wilhelmi¬, obgleich noch le- bend, ist geistig todt, alle zusammen viel jünger als ich. Man kommt sich dann so überlebt vor und muß sich erst nach und nach daran gewöhnen in der immer fremder werdenden Welt weiter zu leben. Was mir einestheils ja unendlich wohlthuend ist: Isoldes - ich möchte fast sagen leidenschaftliche Liebe und Sorge um mein Leben, ist mir andrerseits ein fortwährendes Weh, weil ich dran denken muß, wie schmerzlich ihr mein Tod werden wird, weil sie dann so verlassen und allein in der Welt zurück bleibt. Wäre sie ehrgeizig, dann könnte sie sich an dem Namen, den sie sich gemacht, erfreuen. Das ist sie aber gar nicht. Nach ihrem Häuschen und nach dem Meeres- strand hat sie immer Heimweh, aber einmal allein darin zu wohnen, davor graut ihr.

Von ihren neu herausgegebenen Novellen hat mir am besten gefallen: "Schlafen", "Lore und Lenobia". In letzterer hat sie ihrer eigenen Bewunderung für Napoleon eine Gedenktafel gesetzt.

Es freut mich, daß Dir der Muth kommt nach Trento zu wandern. Hier ist schon italienische Luft und italienisches Volk. Ist Dein Neffe Hauptmann ein Sohn des Pfarrers? Wie kommt denn der in österreichi- sche Dienste? Und wohin gehört jener Neffe, den ich einst bei Alfred in Venedig kennen lernte? Wenn wir nur miteianander über den Brenner fahren könnten, aber wir werden wohl sobald nicht fort können. Isolde will nicht nach Forte, bevor wieder ein Arzt dort ist. Sie denkt zuweilen daran nach Stuttgart im Frühling zu kommen, weil hier der Frühling gar zu schändlich ist. ®Kröner¬ hat uns hier besucht und dringend wieder nach Berkheim eingeladen, das aber wage ich nicht. Ich möchte ihm keine Katastrophe in sein schönes Para- dies bringen. Im übrigen stürbe ich aber gern in Stuttgart, weil es jetzt ein Crematorium hat und München, die Pfaffenstadt, keines. Verbrannt zu werden ist die einzige anständige Art aus der Welt zu gehen.-

Hast Du für Deine rheumatischen Schmerzen noch nie Aspirin versucht, was ein treffliches Mittel sein soll? Wenn Deine Wohnung nur etwas größer wäre, sie ist gar so klein, so zellenhaft. Über Weihnachten werden die Meinigen hier ins Gebirge gehen um Skie zu fahren dem ich mit Besorgniß entgegensehe. Isolde wird dann zu mir herüber ziehen und die 8 Tage hier zubringen. Die Münchner leben in ewigen Vergnügungen. Ein Fest folgt dem andern, ich begreife, daß bei so trübem Himmel die Jugend einen Ersatz haben muß.

Möge es Dir behaglich sein im warmen Stübchen hinter Blumenstöcken und auftauchenden Bildern der Erinnerung. In treuer Liebe grüßt Dich
Deine Marie

®Karte vom 3.Jan.1908¬

445
Dem herzigen Waldfegerlein meinen schönsten Gruss und herzlichen Dank! Es war ein zu lieber Einfall von Dir mir diesen Frühlingsboten mit all seiner lieben Erinnerung zu schicken. Wie freu ich mich, daß Du Deinen Pflegesohn bei Dir hattest, ein Beweis, wie liebevoll er Deiner gedenkt. Isolde wohnte 8 Tage lang mit mir zusammen, während Erwins Familie dem hiesigen Sport oblegen und in den Tiroler Alpen Skie fahren gingen. Erwin, der jedem Sport abhold ist, wurde mitgeschleppt um gesündere Luft einzuathmen und Fußtouren zu machen. Sie sind ohne Unfall zurückgekehrt, während die Zeitungen voll von Unglücksfällen sind.

Isolde wohnt zwei Häuser weiter weg von mir und ist jeden Abend bei uns. Es geht mir ordentlich, nur wenn es so schauerlich kalt ist spuken auch bei mir rheumatische Schmerzen! Ich gehe natürlich gar nicht aus, sitze hinter dem Ofen und lese, und zwar zum ersten mal ®Grimmelshausens Simplicissimus¬, der mich oft sehr erheiterte. Eine große Wohlthat ist mir geworden, dass ich nämlich so viel von meinen Kindern träume, sie so leibhaftig bei mir fühle und selig aufwache.
Dir alles Gute, liebes Waldfegerlein von
Deiner Marie

München, 21. Januar 1908

446
Liebes Waldfegerlein!
Ich habs geahnt, daß es nicht ganz sauber bei Dir aussehen wird, denn auch Isolde ist vom selben Übel befallen. Sie ist zwar jetzt außer Bett, hustet aber noch entsetzlich. Die Kälte war hier so enorm groß, ihre Kleider zeigten sich als zu leicht, die ParterreWohnung ist nicht zu erwärmen und so packte sie die Erkältung. Für Menschen, die dreißig Jahre im Süden gelebt, sind solche arktischen Winter entsetzlich. Ich sitze den ganzen Tag hinter dem Ofen mit Ausnahme der paar Schritte, die ich zu Isolde zu machen habe. - Du glaubst gar nicht, wie mich Deine Briefe immer mit einem Jugendhauch anwehen und mich aus der Altersschwäche aufrappeln, leid ists mir nur, daß wir nicht noch einmal ein paar Tage oder ein paar Stun- den zusammen von der Vergangenheit reden können. Kröner war schon zwei mal hier und hat uns dringend auf das Frühjahr eingeladen. Ich kann diese Einladung aber nicht mehr annehmen, denn in meinem Alter kann ein plötzlicher Tod doch täglich eintreffen und das darf man einem Freund doch nicht zumuten. So naiv es ist, ist es doch bei meinen Kindern schon eine so peinliche Sache für mich dies denken zu müssen, daß Ihnen solche Epoche bevorsteht. Ich würde wo gerne spurlos verschwinden, wenn ich nur wüßte wie machen. So frisch bin ich nicht wie Deine 84jährige Freundin. Schon dies stets wiederkehrende Intermittieren meines Herzens hindert mich an jedem Spazier- gang, abgesehen von der gräulichen Temperatur. Die Pracht einer Winterlandschaft hab ich in meinem Leben nie Gelegenheit gehabt zu bewundern. In Tübingen war eine solche nie zu schauen, noch weniger in Obereßlingen. Im holden Süden behält die Landschaft den Blätterschmuck. Im Januar blühen die Magnolienbäume und die Pfirsichbäume sind mit großen Knospen bedeckt. Die Rose prangt den ganzen Winter über in den Gärten und der Schnee ist nur aus der Ferne sichtbar, selten, daß einmal ein paar schnell schmelzende Schneeflocken herabgewirbelt kommen. Für alte Leute ist aber eine solche Temperatur eine Lebensverlängerung. Edgar sagte mir immer :"Geh nie im Winter in das kalte München.", nun ist es aber anders gekommen, da nur noch der einzige Sohn hier weilt.

Wie oft schon wollte ich an Maja Flattisch schreiben, habe aber ihre Adresse vergessen und immer versäumt Dich darum zu bitten, was ich jetzt nachhole mit der Hoffnung, daß ich ihrem Brief noch zuvorkommen kann. - Also durch Dich kam meine Adresse zu Gabriele ®von Loewenfels¬, die mir das Schlößchen ®Boihingen¬, wo ich die heitersten Tage meiner Mädchenzeit zubrachte, zuschickte. Ich kenne sie selbst nicht. Sie ist die Nichte meiner Jugendfreundin (einer Frau von Neubronn) und dessen Bruders einem lieben Jugendfreund ®Alfred von Thumb¬. Da ich auch ihren Vater gut gekannt hatte und sie mir schrieb als sie Isoldes Buch über ihren Vater las, kam ihr der Gedanke mir das Schlößchen, indem ich so manche heitere Tage erlebt hatte, zuzusenden, was mir eine große Freude machte. Ich bin in späteren Jahren noch einmal mit meinen Kindern auf Besuch bei Alfred Thumb dort gewesen. Von Frau von Loewenfels war die Zusen- dung eine liebenswürdige Aufmerksamkeit.

Isolde besucht, wenn sie wohl ist mal die Concerte. Die Musik ist ein verschlossener Schatz für mich. Ich liebe nur die Violine und die Flöte. Bei letzterem erinnere ich mich an Hermanns Flötenspiel, das Klavier ist mir in höchstem Grad verhasst, ein Hackbrett. Hier ist der Okysport an der Tagesordnung, so viel auch Unglücks- fälle damit vorkommen.

Die Meinigen waren auf einige Tage in die Alpen hinausgezogen, Erwin, der keinen Sport liebt, nur zum Zusehen. Inzwischen zog Isolde zu mir herüber. Wir lesen zusammen den ®Simplicissimus¬, der mich in höchstem Grade fesselt. Es war zum ersten mal, daß ich ihn las und beklage jetzt sehr, daß ich Hermanns Abhandlung über den S. nicht bekommen kann. Ich lese hier den ganzen Tag, das ist das Einzige, wozu ich überhaupt noch fähig bin, immer wieder die Alten: den Homer, Sophokles und Plutarch, dazwischen hinein auch wieder Schillers Heimatjahre, die mir so ans Herz gewachsen sind.- Ich ging eigentlich recht gern noch einmal nach Stuttgart, es hatte mich angeheimelt und die Erinnerung an die Jugendzeit machte ihre Rechte doch wieder sehr geltend, auch wars gar zu schön in Berk- heim, in diesem Rosengarten und Lorbeergebüschen, die mir Italien repräsentierten, aber es geht halt nicht mehr. Ich bin nicht mehr wie dazumal und muß mich darein ergeben. Das Baiernland war mir immer antipathisch. Nur in den Sälen der Akademie unter den Statuen der wohlbekannten Alten ist es mir eigentlich behaglich. Von meinem Erwin hab ich wenig. Er ist von morgens 8 Uhr an in der Akademie bei seinen Schülern und ab 1/2 2 Uhr an der Arbeit im Atelier. Des Abends ist er zuhause, aber in der Familie und todtmüde. Er ist überlastet von der Arbeit und mit der Zeit schweigsam geworden. Auch ich habe alle Heiterkeit der früheren Jahre verloren. Wenn aber ein Brief von Dir kommt, dann steigen die alten Zeiten herauf und ich erinnere mich wieder, daß es einst anders in mir war. Der Zustand meines Neffen ®Felix¬ scheint noch nicht befriedigend zu sein, da ®Luise¬ noch sehr festgehalten in Eßlingen ist. Der Arzt gäbe aber alle Hoffnung auf Genesung.

Wenn die Adresse von Marie Flattich noch diesselbe ist: Prinz-Eugen- Strasse 15, so brauchst Du mir nicht sogleich zu schreiben, nur wen sie sich geändert hat, bitte ich Dich darum. Auch um die Adresse von ®Martha Barei߬ möchte ich Dich bitten. Und nun lebe wieder wohl, Du mein Jungbrunnen, erhalte Dich gut und sei herzlich umarmt von
Deiner Marie

Karte vom ®24.5.1908¬

aus München 449
(an M.C. Ospizio Campo S. Angelo 358 Venezia, Italia)
Liebstes Waldfegerlein,
Ich traute meinen Augen kaum! Du in Italien in der Lagunenstadt, die ich so oft mit meinem ®Alfred¬ durchwandelt habe und wo jetzt nur noch sein Aschenkästchen auf der Todteninsel steht. Es freut mich, Dich dort zu wissen und gewiss thut Dir die Reise gut. Der psychische Eindruck wirkt auch auf den physischen. Hoffentlich ist gutes Wetter dort.

Hier ist es seit zwei Tagen winterlich kalt. Dr.Schiler, Hopfs Enkel ist gegenwärtig hier, der mich auch noch einmal begrüßen wollte. Ich kann Dir unsere Abreise noch nicht bestimmt angeben, wir sind beide nicht ganz wohl und Isolde will nicht nach Forte, bevor ein Arzt dort ist. Wahrscheinlich werden wir nicht vor Mitte Juni von hier fort gehen, doch es ist nicht sicher. Sobald ich etwas genaues weiss, schreibe ich es nach Trento in die Wohnung Deines Neffen. Es freut mich doch sehr, daß Du auch noch mein theures Italien betreten hast.

Ich hoffe, daß mir ein letztes Wiedersehen mit Dir beschieden ist. Du darfst deßhalb aber ja nicht früher pressieren, denn unsere Abreise kann sich noch verzögern.

Leb wohl, tausend Grüsse und Küsse von Deiner alten,
uralten Marie

®München 26.2.1908¬

449
Liebes Waldfegerlein!
Deine Schäden sind wohl in viel höherem Maße auch meine Schäden. Mein Gedächtniß ist durchlöchert, besonders für den Tagesgebrauch und die jüngste Vergangenheit, während das Langzurückliegende mir lebendig im Kopfe liegt und mir vor den Augen steht. Das ist nun einmmal des Alters Loos, aber beide dürfen wir noch froh sein, daß uns der Genuß des Lesens geblieben ist. Du bist um mehrere Jahre jünger, dafür bist Du auch noch mobil, kannst in die Wälder gehen und Dich an der Natur erfreuen, ich nicht mehr, wenigstens nicht hier, wo ich ®drei Treppen hoch¬ wohne, die zu ersteigen der Athem nicht mitmacht. Sogar die zwei Häuser zu gehen, nur zu Isolde, muß ich meiden, da in letzter Zeit mein Herz und Pulsschlag wieder sehr in Unordnung sind. Vielleicht wird mir wieder besser, wenn dieses abscheuliche Sturm- und Sudelwetter nachläßt. München gehört zum schlimmsten Klima. In Stuttgart soll es ganz ordentliches Wetter sein. In Tübingen sei es über Mittag schon ganz heiß gewesen, nur hier ists fürchterlich.

Hoffentlich stehts mit Deinem Ischias ordentlich, so daß Du nicht nach Wildbad, sondern nach Trento kannst. Da bist Du dann schon auf italienischem Lande und norditalienischer Himmel ist über Dir, wenn es auch ungerechterweise österreichisch ist. Um nach Wien zu kommen, mußt Du aber wieder zurück nach Kufstein. Über Pisa geht der Weg keinesfalls, das wäre ja schon Mittelitalien, nur zwei Stunden von Florenz entfernt. Ich weiß, daß es Maja Flattich sehr freuen würde, wenn Du zu ihr kämst. Du bist noch nicht so alt, daß Du es nicht wagen dürftest und Dich würde es sehr erfrischen. Unsere Briefe haben wieder den Weg zueinander gefunden und auch ihre Maja hat mir ein liebes Briefchen geschrieben, eingedenk der Zeit, wo Edgar sie liebte. Ich hatte noch viele Gedichte an Maja von ihm gefunden, habe ihr aber nur eines geschickt. Isolde meint immer, ich könne die Einladung zu Kröner ganz gut annehmen. Ich glaube es aber nicht. Wenn mir da oben in Berkheim etwas Mensch- liches passieren würde, das wäre doch sehr unangenehm für Kröners und mit meinen Herzzuständen sehr leicht möglich. ®Heyse¬ wird die nächste Woche von seinem Arzt ans Mittelmeer an die Riviera geschickt. Er hat ähnliche Zustände wie ich und da ist die Meer- luft die einzige Linderung. Ich habe Heyse nicht gesehen, da weder er noch ich ausgehen konnten, so werden wir uns wohl nie mehr im Leben begegnen. Ob ®wir¬ uns noch einmal im Leben sehen werden? Es möchte Dir diese Reise sogar gerne gönnen. So ein Wechsel der Umgebung vergnügt und erheitert. Hast Du den zuletzt herausge- kommenen "Schwabenspiegel" zu Gesicht bekommen? "Der hat den Galgen, sagt das Eichele," und verschiedene Gedichte von Hermann, nebst Auszügen aus Isoldes Buch über ihren Vater sind darin abgedruckt. Was mich sehr interessierte war auch ein Brief von Fried- rich dem Großen an den Herzog Karl. Es ist schade, daß Hermann denselben nicht kannte, er hätte noch so gut in die Heimatjahre gepasst. Höchst interessant waren mir auch was er von ®Conrad¬ ®Haußmanns¬ trefflichen griechischen Übersetzungen brachte, ich ahnte nicht, daß sich Haußmann, neben seiner großen politischen Thätigkeit so wissenschaftlich und poetisch beschäftigt hatte. Wie mag er den gleichgesinnten Bruder vermissen. (Anm.)

Inzwischen ist wieder einer der Jugendfreunde von Isolde und ihren Brüdern gestorben: Dr.Otto Geller, mit dem wir hier noch einmal vor Jahren uns trafen. Es ist uns immmer ein schmerzliches Gefühl wenn einer aus dem Kreise der Jugendgefährten meiner Kinder dahingeht. Ich bin derzeit um einen anderen Jugendfreund derselben sehr bekümmert. Ich kenne seine ganze Familie und besonders seine hochbegabte Tochter Gertrud, die nun ihr Unversitätsstudium beendet hat. Ihn selbst kenne ich seit seinem zweiten Jahr, er ist der Sohn unseres einstigen Hausarztes, der auch Dich in jenen schweren Tagen nach Deines Julius Tod behandelte. Er heißt ®Stockmaier¬, habe ein Nervenleiden, da es aber gar nicht besser wird, so glaube ich, daß noch etwas anderes dahinter steckt. Im Fall Du mit Billa Tafel zusammenkommst, so bitte ich Dich innigst befrage sie, sie wird es wahrscheinlich wissen, da die Söhne so befreundet sind. Es wäre mir ein Trost, wenn es nur die Nerven wären, aber ich glaubs nicht. Isolde geht es jetzt wieder gut, aber Erwin macht mir große Sorge. Er hat seine Influenza vernachlässigt und hustet seither fortwärend sehr hart, und das bei diesem kalten und windigem Schneewetter, bei dem er täglich in die Akademie muß. So komm ich nie aus den Ängsten heraus. ®Maja¬ hat sich für den ganzen Winter hier niedergelassen. Sie wohnt in einer Pension, macht alle Carnevalsvergnügungen mit und doch ist es eigentlich kein Jugenddrang der sie dazu führt, es ist nur, um alles was das Leben bietet kennen lernen zu wollen; ich möchte fast sagen ein wissenschaftlicher Zug. Sie hatte den Sommer und Herbst auf einer Nordfahrttour zugebracht, war in Hammerfest auf Island, sogar bis Spitzbergen und sie hat es in der Malerei sehr weit gebracht und ihre Stimme soll wundervoll sein. Ich bin zu unmusikalisch um das beurtheilen zu können, sie denkt später Konzerte zu geben. ®Luise¬ ist noch immer in Eßlingen, mit ihres Bru- ders Befinden scheint es immer noch nicht gut zu gehen, Ich habe den ®Felix¬ nur als kleinen Knaben gekannt, ihn später nie mehr gesehen, aber die Geschwister hängen alle sehr aneinander, darum nehme auch ich großen Antheil daran. Ach wenn nur dieser gräuliche Winter zu Ende wäre, mein Erwin wieder gesund, dessen Müdigkeit und so sehr schlechtes Aussehen mir neben dem Husten so bedenklich erscheint. Wie sehr wünsche auch ich von Deinem Befinden gute Nach- richten zu bekommen. Dieses Schneegestöber mit dem finsteren Himmel trägt auch noch zu meiner melancholischen Stimmung bei.

Lebe wohl und schreibe mir auch wieder, das reißt mich immer aus meinen trüben Gedanken. Am 2. März ist der Todestag meines guten Alfreds.
Lebe wohl, mit Gruß und Kuß
Deine Marie
(Anm.: Haußmann, Konrad, 1857 - 1922, Friedrich (Zwilling) 1857 - 1907, beide Rechtsanwälte und Konrad im württ. Landtag, später Reichstag für die deutsche Volkspartei, ab 1919 in Weimar Vicepräsident der Nationalversammlung. Er übersetzte "Uralte Lieder aus dem Morgen- land", 1920, in "Schlaglichter" erschienen 1924 seine Reichstags- briefe und Aufzeichnungen aus der Kriegszeit.)...

®Karte vom 3. Mai 1908¬

®ohne Anrede¬
Was ist denn mit Dir, mein liebes Herz, daß ich schon so lange keine Nachricht von Dir erhalten habe. Du wirst doch nicht ernstlich krank sein, bitte gib mir Nachricht mit ein paar Worten. Ich habe so viel Trauriges durch Stockmayers langdauerndes Leiden durchgemacht und darf jetzt nicht mehr hoffen, den mir lieben treuen Freund gerettet zu erhalten. Da er immer schwächer werde, doch ist er schmerzfrei, bewußtlos, das ist auch ein Trost. Ich selbst lag mehrere Tage krank bei Isolde, weil mich dort mein Übel gepackt, und ich nicht zu Erwin gebracht werden konnte. Jetzt bin ich wieder bei ihm und es geht mir besser.

In Isoldes Häuschen wurde inzwischen ®in Forte eingebrochen¬ und viel zertrümmert. Was geraubt wurde weiß man noch nicht. Wenn ich transportabel bin, so gehen wir nächsten Monat zurück. Mein diesjähriger Aufenthalt war ein recht trauriger. Auf ein Wiedersehn mit Dir darf ich scheints auch nicht mehr hoffen. Ach, das Ende ist so trübe. Und trübe ist immer noch der Himmel hier und kalt und unfreundlich. Das soll ein Mai sein! Möchte ich doch gute Nachricht von Dir erhalten, wonach ich mich sehne.
In alter Liebe
Deine Marie Kurz

®1. April 1908¬

453
ohne Anrede
Du ahnst nicht, mein liebes Waldfegerlein, mit welcher Sehnsucht ich Deinen Brief erwartet hatte, und doch danke ich Dir erst heute dafür. Ich wurde durch die schlechten Nachrichten die sich inzwi- schen über E. Stockmayer mehrten so abgehalten und an Frau Stockmayer zu schreiben hingetrieben, daß ich erst heute zum Schreiben an Dich gelange, so sehr michs auch immer zu Dir zog. Daß es Dir immer noch nicht gut geht ist mir so leid. Ist es der Ischias der Dich so sehr plagt und hat Dein Arzt denn kein Mittel dagegen, für Wildbad ist es noch zu früh, doch vielleicht hat es sich inzwischen, da mildere Witterung eingetreten ist, gebessert? Ich habe in den letzten Tagen auch eine Jugendfreundin verloren, eine ungemein geistig begabte Frau die beim archälogischen Atlas, zu dem Hermann den Text schrieb, sehr lang beim Verblenden (?) der Bilder mitge- holfen hatte. Sie starb an Gehirnerweichung, an derselben Krankheit leidet auch ®Hedwig Wilhelmi¬ nun schon über ein Jahr, unfähig zu lesen, zu schreiben, sich auszudrücken, ein wahres Jammerleben. Wie kann man da selbst Lebensmuth behalten? Vier Jugendfreunde meiner Kinder aus der Tübinger Zeit sind eines nach dem andern weggestor- ben und Eugen ®Stockmayer¬ der uns am nächsten geblieben war wird ihnen wohl bald nachfolgen. Die Ärzte geben keine Hoffnung mehr, da man den Herd des Leidens nicht finden kann. Er ist aber jetzt schmerzfrei und ahnt nichts von der Gefahr in der er schwebt. Möchte er wenigstens unbebewußt aus der Welt gehen können. Frau Stockmayer schreibt fast jeden Tag an Isolde, der es auch sehr nahe geht. Er war ihr immer ein treuer Freund geblieben.

Die Hoffnung auf unser Wiedersehen habe ich verloren. Du sagst, ich solle nicht immer an meinen Tod denken, aber wenn man so häufig einen intermittierenden Pulsschlag bekommt, der nur durch Strophan- tintropfen und Bettlage wieder in Ordnung zu bringen ist, so muß man solche Umstände, die auch einen plötzlichen Tod zur Folge haben können, bei der anmahnenden Einladung wohl in Betracht ziehen. Vor zwei Jahren war das noch etwas ganz anderes. Da war mein Herz noch gesund mein Athem nicht beschwert und ich konnte es noch wagen. Gerne käme ich noch einmal in die alte Heimath, von der ich ganz anders ergriffen wurde als von dem mir fremd gebliebenen München, dessen Klima so barbarisch ist. Hier ists mir nur wohl in der Akademie und dort in Erwins Atelier und dahin kam ich trotz der Nähe nur zwei mal.- Hermanns Briefe habe ich in der letzten Zeit wieder und wieder gelesen und die, die ich ihm geschrieben hatte und die von ihm aufbewahrt waren, und oft mußt ich mir sagen, es waren doch glückliche Zeiten, wie viel Glück hab ich doch genossen, es strahlt noch zurück in mein jetzt verkümmertes Leben. Wie oft bist Du genannt in diesen Briefen! - Warum hast Du Deine Lebensge- schichte nie niedergeschrieben, da Dir der Reiz der Schrift gegeben ist? So manche Lücke in meiner Erinnerung an Dich möchte ich ausgefüllt wissen und freute mich, wenn wir noch einmal beisammen sein dürften, aber ich fürchte es kommt nimmer zu Stande. Lichtpunkte hatte ja auch Dein Leben, schon in dem was Du Dir in Dir selbst warst und von andern erkannt wurdest. Du kannst das Versäumte noch nachholen.

Ich weiß nicht bis wann wir nach Forte zurückkehren. Es sei wunderbar schön jetzt am Meer, schreibt mir ®Heyse¬, der in Santa Margherita ist, während in den Städten Italiens überall Regen herabströmt. Isolde will aber nicht dahin, bevor ein Arzt dort ist, was immer erst später sich ereignet, denn sie wäre in fortwährender Angst wegen mir. Es war beschlossen, daß auch Erwin hinkommen sollte mit Frau und Tochter, aber jetzt hat ihn der Hausbesitzer so gesteigert, daß die Reise unmöglich werden wird. Er hat immer noch nicht den vollen Gehalt, den seine Stellung mit sich bringt, weil diese erst von der Kammer genehmigt werden muß und noch nicht auf der Tagesordnung erscheine. Die überall herrrschende Theuerung wirft auch uns überall Prügel in den Weg. ®Isolde¬ arbeitet ganz wie ihr Vater langsam, überarbeitet oft 10 mal alles um, bis sie dann zufrieden ist, und die andern schreiben und schmieren mit Telegraphengeschwindigkeit und sammeln sich Reichthümer, und Isolde geht es auch hierin wie ihrem Vater. Wie kam man doch früher gut mit Wenigem aus, und jetzt ist alles so theuer geworden.- Jeden Morgen fürchte ich die Nachricht von ®Eugens Tod¬ zu bekommen. Weißt Du, sein Vater war unser Arzt, der auch Dich in Deiner Schreckenslage nach Julius Tod wieder zum Leben brachte. Am 27. April jährt sich wieder Edgars Todestag und da ists mir schon immer den ganzen April hindurch so schmerzlich zu Muthe. Laß michs wissen wenn es Dir wieder gut geht. Du glaubst nicht, wie viel Du mir bist und wie ich an Dir hänge und um Dich bange.
Lebe wohl. Es umarmt Dich innigst
Deine Marie Kurz
455

®Karte vom 3. Mai 1908¬

®ohne Anrede¬
Was ist denn mit Dir, mein liebes Herz, daß ich schon so lange keine Nachricht von Dir erhalten habe. Du wirst doch nicht ernstlich krank sein, bitte gib mir Nachricht mit ein paar Worten. Ich habe so viel Trauriges durch Stockmayers langdauerndes Leiden durchgemacht und darf jetzt nicht mehr hoffen, den mir lieben treuen Freund gerettet zu erhalten. Da er immer schwächer werde, doch ist er schmerzfrei, bewußtlos, das ist auch ein Trost. Ich selbst lag mehrere Tage krank bei Isolde, weil mich dort mein Übel gepackt, und ich nicht zu Erwin gebracht werden konnte. Jetzt bin ich wieder bei ihm und es geht mir besser.

In Isoldes Häuschen wurde inzwischen ®in Forte eingebrochen¬ und viel zertrümmert. Was geraubt wurde weiß man noch nicht. Wenn ich transportabel bin, so gehen wir nächsten Monat zurück. Mein diesjähriger Aufenthalt war ein recht trauriger. Auf ein Wieder- sehn mit Dir darf ich scheints auch nicht mehr hoffen. Ach, das Ende ist so trübe. Und trübe ist immer noch der Himmel hier und kalt und unfreundlich. Das soll ein Mai sein! Möchte ich doch gute Nachricht von Dir erhalten, wonach ich mich sehne.
In alter Liebe
Deine Marie Kurz

®10. Mai 1908¬

456
Mein geliebtes Waldfegerlein! Dein Zeitungsausschnitt war die erste ®Todesnachricht¬, die ich über ®Eugen¬ erhielt, doch war ich vorbereitet darauf, denn seiner Frau letzte Nachricht ließ nichts Besseres hoffen. Mit ihm ist der letzte aus dem Tübinger Jugendkreis meiner Kinder dahingegangen, der uns über dreißig Jahre in treuer Freundschaft verbunden blieb. Nach dem Tod meiner beiden Söhne hatte er mir in so inniger Weise geschrieben, daß er alles aufbieten werde die Brüder meiner Isolde so viel möglich sei zu ersetzen und daß sie immer auf ihn rechnen könne. Er hatte immer in Briefen Anhänglichkeit an sie behalten, denn er hatte sie in seiner Jugendtagen geliebt, und ihrethalben thut mir der Verlust doppelt weh. Fünf nacheinander der Jugendgefährten die dahin starben, seit wir hier sind. Es war ein Trost, daß Erwin gar nicht gelitten hat, in den letzten Zeiten fast immer schlief, und wie ich hoffe auch ahnungslos gestorben ist. Frau Stockmayer schrieb mir längere Zeit nicht, da ihr Isolde schrieb, daß ich krank sei und man mir jede Aufregung ersparen müsse. Ich bat ja gestern um direkte und wahre Auskunft. ®Vier Kinder¬ hat er hinterlassen. Der Älteste ist bereits Doctor med., das zweite, ein sehr hübsches Mädchen, macht eben den Doctor philologicae, der dritte ist Referendar und die Jüngste kunstgewerblich beschäftigt. Die Mutter ist eine sehr gute Frau, die nur für ihre Familie lebteund viel ist ihr in ihren Kindern geblieben.-

Nun aber zu Dir, mein liebes theures Herz, durch das mir nun gleich wieder eine Sorge erwächst. Also ist es immer noch nicht besser mit Deinem Zustand? Hast Du denn auch einen guten Arzt? Und was hält er von Deinem Zustand? Ist es Ischias? Dafür gibt es doch so viele Mittel. Moorbäder usw. Ischias ist keine gefährliche Krankheit, langwierig aber heilbar. Voriges Jahr that Dir Wildbad gut.... Die Müdigkeit theilst Du mit uns allen, die kann von dem langandauerden Winter herühren. Du bist um so viele Jahre jünger als ich und darfst an einem Besserwerden nicht verzweifeln aber auch nicht versäumen mit einem tüchtigen Arzt Rücksprache zu nehmen. Wenn Du wüßtest, wie Du mir und Isolde nöthig bist und so wie Du bist, ein großer Trost für uns geblieben, Du würdest nicht so pessimistische Äusserungen thun. Könnte wir Dich nur bei uns haben. Du solltest sehen wie trostreich, wie nöthig Du uns bist, doppelt jetzt, wo Du meiner Isolde einen sich täglich verändernden Geistesgaben ersetzen könntest. So oft ich diese Herzzustände bekomme leidet mein Gedächtniß aufs empfindlichste. Doch gibt es sich wieder bis neue Anfälle kommen. Daß ich bei den sich jetzt so oft wiederholenden Anfällen nicht nach Berkheim kann wirst Du wohl einsehen. Vor zwei Jahren da war ich noch sehr rüstig, konnte noch große Spaziergänge mit Kröner machen, das ist jetzt ganz anders, ich wäre ihm nur eine Last. Isolde will jetzt auch nicht hin, weil sie mich nicht verlassen will und keine Ruhe dort hätte. -

"Wir alle unbegabt", sagst Du. Ich habe Deine Brüder nicht ge- kannt, aber von Dir darfst Du es nicht sagen. Du warst immer ein hochbegabtes Geschöpf. Was Du Dir selber warst und bist, Deine reiche R...tivität für alles Hohe und Schöne, mußt Du doch selbst fühlen. Du warst jung in einer Zeit, wo es noch nicht Sitte war dem weiblichen Geschlecht eine wissenschaftliche Bildung zu geben, aber Du nahmst sie Dir aus der Dich umgebenden Atmosphäre. Dir ward die Gabe famose Briefe zu schreiben, Dein Leben war auch nicht so ganz freudlos, denn die Liebe gab Dir doch auch schöne Stunden. Es ist ja überhaupt nur der Augenblick zum Glück geschaffen. Und wie viel mehr hast Du genossen als die Mehrzahl der stumpfen Weiber, die die geistigen Genüsse der großen Todten, die so lebendig ins Leben hineinragen, nie gekannt haben.- Daß Du jetzt in Deinem Zustand alles pessimistisch ansiehst ist natürlich, und daß Dich da Dein Frauenheim auch nicht aufheitern kann, ist begreiflich. Thue alles um gesund zu werden, suche vor allem einen tüchtigen Arzt, und hast Du Dich erholt so gehe zu Deinem Neffen nach Trient. Andere Umge- bungen reißen Dich heraus. Wo ist Deine Freundin Amalie? Lebt sie denn nicht mehr in Stuttgart nachdem sie curiert ist? - Sitzest Du einmal hier in der Bahn, so darfst Du bis Trient nicht mehr aus- steigen und hast keinerlei Beschwerden. Laß mich bald bessere Nachrichten hören. >s88
Du fragst, ob Erwin seinen ®Auftrag Bismark zu modellieren¬ ange- nehm ist? Der Künstler steht auf einem ganz anderen Standpunkt als unsereins. Der ethische Standpunkt kommt gar nicht in Betracht. Ihm gilt nur, ob der Gegenstand künstlerisch zu behandeln ist, was ja der Fall ist, und dann kommt in Betracht, daß es von Nutzen für ihn ist, eine Arbeit in die ®Walhalla¬ zu liefern. Wäre ihm der Auftrag vor 30 Jahren geworden, so wäre ®es mir¬ unleidlich gewesem, jetzt bekümmere ich mich überhaupt nicht mehr um deutsche Anschauungen, und so leide ich nicht mehr darunter, und pekuniär kommt recht viel dabei heraus. Erwin war, wie überhaupt alle Künstler, ziemlich gleichgültig in der Politik, nur war ihm das Preußenthum immer antipathisch. Ich wäre sehr gern noch einmal nach Stuttgart gekommen, hatte mich so gesehnt nochmals mit Dir persönlich zusammen zu sein, muß mich aber eben in die Nothwendigkeit fügen. ®Jole¬ war 8 Tage hier. Sie wollte die alte Nonna auch noch einmal sehen. Sie hat nun ausstu- diert, muß nur noch die laurea nehmen, das ist so viel als wie Doktorexamen machen.

Und nun lebe wohl und lebe gerne. Ich will Dich nicht missen, Du mußt mir bleiben. Mit Dir bleibt mir noch ein gutes Stück Erinnerung.
In innigster Liebe umarmt Dich
Deine Marie

Karte vom ®24.5.1908¬

aus München 459
(an M.C. Ospizio Campo S. Angelo 358 Venezia, Italia)
Liebstes Waldfegerlein,
Ich traute meinen Augen kaum! Du in Italien in der Lagunenstadt, die ich so oft mit meinem ®Alfred¬ durchwandelt habe und wo jetzt nur noch sein Aschenkästchen auf der Todteninsel steht. Es freut mich, Dich dort zu wissen und gewiss thut Dir die Reise gut. Der psychische Eindruck wirkt auch auf den physischen. Hoffentlich ist gutes Wetter dort.

Hier ist es seit zwei Tagen winterlich kalt. Dr.Schiler, Hopfs Enkel ist gegenwärtig hier, der mich auch noch einmal begrüßen wollte. Ich kann Dir unsere Abreise noch nicht bestimmt angeben, wir sind beide nicht ganz wohl und Isolde will nicht nach Forte, bevor ein Arzt dort ist. Wahrscheinlich werden wir nicht vor Mitte Juni von hier fort gehen, doch es ist nicht sicher. Sobald ich etwas genaues weiss, schreibe ich es nach Trento in die Wohnung Deines Neffen. Es freut mich doch sehr, daß Du auch noch mein theures Italien betreten hast.

Ich hoffe, daß mir ein letztes Wiedersehen mit Dir beschieden ist. Du darfst deßhalb aber ja nicht früher pressieren, denn unsere Abreise kann sich noch verzögern.

Leb wohl, tausend Grüsse und Küsse von Deiner alten,
uralten Marie
461

Karte vom ®30. Mai 1908¬

aus München
An Frl. M. Caspart bei H.Hauptmann Caspart, Via Grazioli 14 Trient
Ohne Anrede
Deiner Karte nach, meine Liebe, wirst Du jetzt bei Deinem Neffen sein. Ich bin so froh, Dich aus Deinem trübseligen Frauenheim erlöst zu wissen und bin überzeugt, daß die Reise Deiner Gesund- heit förderlich ist. Ich hatte inzwischen Besuche auf Besuche. Ein Enkel des alten Hopfs, Dr Schiler mit Frau von Eßlingen waren mehrere Tage hier und jetzt liebe Freunde aus Florenz, die in ein Bad reisen. Es geht mir jetzt nach meiner wackeligen Gesundheitszeit wieder ganz ordentlich. Isolde pressiert so gar nicht in ihr zerstörtes Heim zu kommen, daß Du mich sicherlich noch in München treffen wirst. Nun hast Du auch das Meer gesehen, hast sogar vielleicht drin gebadet, was ich ebenfalls thun werde, wenn ich wieder in Forte bin. Und Deine Phantasie ist nun auch angefüllt mit neuen Bildern, die Dir in Deiner Einsamkeit die Zeit erfüllen werden. Hoffentlich geht es Dir gut?
Also auf Wiedersehen,
Deine Marie Kurz

Karte vom ®3.6.08¬ von München nach Trient

®ohne Anrede¬
Jetzt bist Du zum Meerfegerlein geworden, wer hätte das gedacht!! Es hat mich unendlich gefreut, daß Du mein süßes Italien geschaut, aber deßhalb kann ich Dich doch nicht lieber haben als ich Dich mit all den Jugenderinnerungen schon hatte! Trotz meines hohen Alters ist mir die alte Fähigkeit zu lieben und zu empfinden doch geblieben. Seit es so warm ist geht es mir auch wieder viel besser. Ich bin ein Sonnenkind, das nur in der Wärme leben kann. ®Emmy¬ ®Becher¬ ist derzeit hier wegen der Anstellung. Ich erzählte ihr von Dir. Es freute sie, Dich in Italien zu wissen. Sie sagte, sie werde anstreben nun öfters mit Dir zusammen zu kommen. Isolde muß noch eine begonnene Arbeit hier beenden. Ich glaube deßhalb nicht, daß wir gleich zur Hälfte des Monats abkommen. Es kann sich gut noch weitere acht Tage verzögern. Du warst auf dem ®campo santo¬ in Venedig, wohl aber nicht ®im Crematorium, wo Alfreds Urne steht.¬ Wie hätte es ihn gefreut Dich herum zu führen. In treuer Liebe grüßt Dich
Deine Marie

®27. Augsut 1908¬

467
Ohne Anrede
Nun will ich versuchen, Du Liebe, ob die Götter mirs vergönnen noch einmal einen Brief zustande zu bringen trotz meiner Aschenbrödelei, die ich nothgedrungen treibe, da wir ein so dummes Ding aus den Bergen haben, die absolut nichts begreift. Ich habe nun schon wieder ganz ordentlich kochen gelernt. Eine ganze Anzahl unbeant- worteter Briefe und Karten liegt umher und warten auf Beantwortung, die wohl nie kommt. Es war mir ja die Erfüllung eines so großen Wunsches Dich noch einmal in Ruhe um mich zu wissen und er ist befriedigt worden. Nun dachte ich aber, so gut Du nach Trient fahren könntest, hättest Du auch nach Forte gekonnt! Und obgleich ich wohl weiß, daß das nie geschehen wird, seh Ich Dich doch oft in Gedanken des morgens früh mit mir im Garten herumwandeln, von alten Zeiten redend und die Schatten der Dahingegangenen heraufbeschwörend. Es ist so wunderbar schön hier, die lauen Sommernächte mit dem aufleuchtenden Meer und dem Sternenheer darüber, ist ein so überaus wohlthätiges Gefühl. Am Entzückensten aber ist der Sonenuntergang, wenn der Riesenball untergetaucht ist in das flutenkalte Wasserbett und plötzlich den roten Purpurmantel emporwirft und so Himmel und Meer in Gluten getaucht sind, da muß man trotz allem traurig Erlebten sagen: "Das Leben ist doch schön." Und ich hätte es noch einmal genießen können, da ich mich so wohl hier fühle, wenn ich aus dem Bad steige, um 40 Jahre verjüngt zu sein scheine, wenn nicht Isolde so sehr elend gewesen wäre. Obgleich die Bäder jetzt gut thun, herrscht bei ihr eine solche Depression, die ihr das Leben zur Last macht, hauptsächlich deßhalb, weil sie ganz unfähig zur Arbeit ist. Wenn sie arbeiten kann ist alles recht, aber es kommt ihr kein Gedanke mehr und da glaubt sie ihr Talent sei erloschen. Ich bin überzeugt, daß das nur Folgen ihres langen Unwohlseins sind. Sie sieht sehr schlecht aus, ist abgemagert, aber schläft doch endlich wieder, was sie lange nicht that, und so will ich hoffen, daß sie wieder physisch und psychisch genesen wird. Sie war nicht gern in München und doch bleibt nichts anderes übrig als wieder hinzugehen in dieses Eis- und Schneeland, denn in Florenz wird sie auch verlassen sein, da alle andern Freunde sich verzogen haben, aber ich darf noch gar nicht daran denken. An Erwin habe ich, so lieb er ist, wenig, denn er steckt immer in der Arbeit. Die junge Welt, die sich um ihn bemüht ist entsetzlich oberflächlich. Bedeutende Menschen scheint es gar nicht mehr zu geben. -

Wie gerne hätte ich das ®Luftschiff¬ auch gesehen. Natürlich nehme ich den schmerzlichsten Antheil am Unglück und freute mich, daß man dem genialsten Erfinder durch die ungeheuren Operationen den Schmerz gelindert hat. Die Beilage der Allg. Zeitung brachte eine Beschreibung warum es hatte so gehen müssen. Es waren Blitze, die sich inwendig entzündeten, der Sturm war gar nicht schuld daran. Jetzt muß etwas erfunden werden, diese Entzündbarkeit zu hemmmen. Und das wird auch geschehen. Die Opferwilligkeit der Leute bis in die untersten Schichten hat mich sehr gefreut, nur ärgert es mich, daß so viel deutscher Nationalismus getrieben wird. Eine solche Erfindung gehört der ganzen Welt und die italienischen Journale brachten alle auch mit Rühmen und Preissen den Ballon und ®Zeppelins¬ Bild.- Mein Enkel ®Jole¬ steckt gegenwärtig in der Eisregion von Spitzbergen, ich wollte diese Wickingerfahrt wäre zu Ende.

Erwin ist ganz allein, da seine Frau und Irene in Murnau sind, einem kleinen Moorbad in der Nähe von München. Was treibst Du? Das Wetter soll schlecht in Deutschland sein. Hier ist es herrlich. Wenn nur die Tage nicht schon so kurz würden. Wenn ich morgens 6 Uhr in den Garten gehe kommt die faule Sonne erst hin- ter den Bergen herauf. Daß es dem Winter entgegen geht ist mir nur zu leid. Im Winter bin ich kein rechter Mensch. Wo hast Du denn ®Maja¬ gesehen, wahrscheinlich bei ihrer Großtante. Sie schrieb mir, sie komme nicht hierher, weil ihr Häuschen erst gebaut ist, dagegen geht sie in ein sehr elegantes Modebad, 2 Stunden von hier ®Viareggio.¬

Wenn Du mir einmal schreibst, erwähne Isoldes Zustand nicht näher. Ich hoffe, es geht vorrüber, denn sie soll nicht daran erinnert werden. Wenn nur der Arbeitsstoff wieder kommt, dann wird sie das Leben auch nicht mehr so schwer nehmen. Wäre ich doch noch nicht so sehr alt. In ihrer Einsamkeit braucht sie mich noch, und doch kann die Katastrophe täglich eintreten. Wie ruhig würde ich sonst den Tod erwarten, und jetzt muß ich vor dem bangen, den ich bis vor kurzem so sehr erwünscht hatte.

Lebe wohl, liebes Waldfegerlein, und wenn mein Stündlein bald schlagen sollte, so nehme Dich ihrer an.
In treuer Liebe,
Deine Marie

®27. Augsut 1908¬

467
Ohne Anrede
Nun will ich versuchen, Du Liebe, ob die Götter mirs vergönnen noch einmal einen Brief zustande zu bringen trotz meiner Aschenbrödelei, die ich nothgedrungen treibe, da wir ein so dummes Ding aus den Bergen haben, die absolut nichts begreift. Ich habe nun schon wieder ganz ordentlich kochen gelernt. Eine ganze Anzahl unbeantworteter Briefe und Karten liegt umher und warten auf Beantwortung, die wohl nie kommt. Es war mir ja die Erfüllung eines so großen Wunsches Dich noch einmal in Ruhe um mich zu wissen und er ist befriedigt worden. Nun dachte ich aber, so gut Du nach Trient fahren könntest, hättest Du auch nach Forte gekonnt! Und obgleich ich wohl weiß, daß das nie geschehen wird, seh Ich Dich doch oft in Gedanken des morgens früh mit mir im Garten herumwandeln, von alten Zeiten redend und die Schatten der Dahingegangenen heraufbeschwörend. Es ist so wunderbar schön hier, die lauen Sommernächte mit dem aufleuchtenden Meer und dem Sternenheer darüber, ist ein so überaus wohlthätiges Gefühl. Am Entzückensten aber ist der Sonenuntergang, wenn der Riesenball untergetaucht ist in das flutenkalte Wasserbett und plötzlich den roten Purpurmantel emporwirft und so Himmel und Meer in Gluten getaucht sind, da muß man trotz allem traurig Erlebten sagen: "Das Leben ist doch schön." Und ich hätte es noch einmal genießen können, da ich mich so wohl hier fühle, wenn ich aus dem Bad steige, um 40 Jahre verjüngt zu sein scheine, wenn nicht Isolde so sehr elend gewesen wäre. Obgleich die Bäder jetzt gut thun, herrscht bei ihr eine solche Depression, die ihr das Leben zur Last macht, hauptsächlich deßhalb, weil sie ganz unfähig zur Arbeit ist. Wenn sie arbeiten kann ist alles recht, aber es kommt ihr kein Gedanke mehr und da glaubt sie ihr Talent sei erloschen. Ich bin überzeugt, daß das nur Folgen ihres langen Unwohlseins sind. Sie sieht sehr schlecht aus, ist abgemagert, aber schläft doch endlich wieder, was sie lange nicht that, und so will ich hoffen, daß sie wieder physisch und psychisch genesen wird. Sie war nicht gern in München und doch bleibt nichts anderes übrig als wieder hinzugehen in dieses Eis- und Schneeland, denn in Florenz wird sie auch verlassen sein, da alle andern Freunde sich verzogen haben, aber ich darf noch gar nicht daran denken. An Erwin habe ich, so lieb er ist, wenig, denn er steckt immer in der Arbeit. Die junge Welt, die sich um ihn bemüht ist entsetzlich oberflächlich.
468
Bedeutende Menschen scheint es gar nicht mehr zu geben. - Wie gerne hätte ich das ®Luftschiff¬ auch gesehen. Natürlich nehme ich den schmerzlichsten Antheil am Unglück und freute mich, daß man dem genialsten Erfinder durch die ungeheuren Operationen den Schmerz gelindert hat. Die Beilage der Allg. Zeitung brachte eine Beschreibung warum es hatte so gehen müssen. Es waren Blitze, die sich inwendig entzündeten, der Sturm war gar nicht schuld daran. Jetzt muß etwas erfunden werden, diese Entzündbarkeit zu hemmmen. Und das wird auch geschehen. Die Opferwilligkeit der Leute bis in die untersten Schichten hat mich sehr gefreut, nur ärgert es mich, daß so viel deutscher Nationalismus getrieben wird. Eine solche Erfindung gehört der ganzen Welt und die italienischen Journale brachten alle auch mit Rühmen und Preissen den Ballon und ®Zeppelins¬ Bild.- Mein Enkel ®Jole¬ steckt gegenwärtig in der Eisregion von Spitzbergen, ich wollte diese Wickingerfahrt wäre zu Ende.

Erwin ist ganz allein, da seine Frau und Irene in Murnau sind, einem kleinen Moorbad in der Nähe von München. Was treibst Du? Das Wetter soll schlecht in Deutschland sein. Hier ist es herrlich. Wenn nur die Tage nicht schon so kurz würden. Wenn ich morgens 6 Uhr in den Garten gehe kommt die faule Sonne erst hin- ter den Bergen herauf. Daß es dem Winter entgegen geht ist mir nur zu leid. Im Winter bin ich kein rechter Mensch. Wo hast Du denn ®Maja¬ gesehen, wahrscheinlich bei ihrer Großtante. Sie schrieb mir, sie komme nicht hierher, weil ihr Häuschen erst gebaut ist, dagegen geht sie in ein sehr elegantes Modebad, 2 Stunden von hier ®Viareggio.¬

Wenn Du mir einmal schreibst, erwähne Isoldes Zustand nicht näher. Ich hoffe, es geht vorrüber, denn sie soll nicht daran erinnert werden. Wenn nur der Arbeitsstoff wieder kommt, dann wird sie das Leben auch nicht mehr so schwer nehmen. Wäre ich doch noch nicht so sehr alt. In ihrer Einsamkeit braucht sie mich noch, und doch kann die Katastrophe täglich eintreten. Wie ruhig würde ich sonst den Tod erwarten, und jetzt muß ich vor dem bangen, den ich bis vor kurzem so sehr erwünscht hatte.

Lebe wohl, liebes Waldfegerlein, und wenn mein Stündlein bald schlagen sollte, so nehme Dich ihrer an.
In treuer Liebe,
Deine Marie

®1.September 1908¬

469
ohne Anrede
Endlich hast Du Deine Waldfegerlein Flügel wieder angezogen und bist in Deine alten vier Mauern zurückgekehrt, wo es Dir nach Deinem schönen Heidelberg nicht behaglich sein wird, doch die Erinnerung schmückt die Gegenwart aus. Ich kann Dir nicht sagen, wie mich Dein letzter Brief aufgefrischt hat und mir wohl that, zugleich aber wieder den Wunsch wachgerufen, daß wir Dich hier haben könnten, um meine letzten Lebenstage noch mit Dir zu ver- leben. Es geht mir ordentlich, aber die Kräfte werden schwächer, am meisten sind es die geistigen, die nach dem so schlimmen Anfall von Tag zu Tag mehr schwinden. Nur wenn ich lese kehren die alten Geister wieder und lassen mich die Last der Jahre vergessen, indem ich mich selbst vergesse. ich habe nach Deinem Brief auch gleich wieder Isoldes Buch in die Hand genommen und mich hauptsächlich an meiner Kinderstube und der Entwicklung des kleinen Volkes erfreut, an ihrem geistigen Wachsthum und dem Ausspruch meines Schwagers: "Du glückliche Cornelia". Es kam mir wieder alles recht lebhaft in den Sinn. Und wie falsch ist die Annahme, daß geistig große Männer nicht auch bedeutende Kinder bekämen, freilich bei Göthe und Schiller war es nicht der Fall, aber ®die Meinigen¬ haben ein Stück ®von dem Genius ihres Vaters bekommen,¬ Edgar und Isolde am meisten. Daß Isolde nun am meisten durch mein hinfälliges Alter zu leiden bekommt, ihre Gebilde, die wir zusammen begonnen, wie Rauch zerfließen, ist mir ein täglicher Jammer. In fortwährender Angst um mein Leben ist sie zu keiner geistigen Arbeit mehr fähig. Wenns doch vorrüber wäre! Die Zeit lindert ja alles und die Muse käme wieder und sie knüpfte an das Leben an. Sie hat noch so viele geistige Embryonen in sich, die zu entstehen verlangen und entstehen würden, wenn sie Gemüthsruhe hätte und nicht Krankenwärterin und Aschenbrödel wäre. Wie hat sie ihre Natur überwinden müssen, den Ekel, der ihr so zu eigen war. Sie muß jetzt noch täglich 2-3 Klystiere mir machen, weil ich selbst noch nicht damit zurecht komme, denn mein Hauptleiden ist jetzt eine nicht zu bannende Verstopfung. Isolde schläft nicht mehr bei Nacht, sieht elend aus, und bis jetzt helfen alle Verordnungen ®Vanzettis¬, unseres aufopfern- den Arztes, Edgars intimsten Freundes, der mir zulieb bis jezt hier blieb und seinem Vorhaben, nach San Martino die Cashio (?) zu gehen, entsagte, nichts. Sie muß Sonnenbäder und darauf Meerbäder nehmen, alle Tage 1/2 bis 1 Stunde wandern, aber die bleichen Wangen wollen die früheren Rosen nicht wieder annehmen..."
470
die früheren Rosen nicht wieder annehmen. Sie verbirgt mir jeden- falls auch noch kranke Zustände von denen ich keine Ahnung habe. Sie fühlt sich unendlich schwach. In all dem, welch großes Glück war es, diesen theuren Freund und Arzt bei uns zu haben, denn jeder seiner Besuche ist auch ein Trost und wenigstens augenblickliche Auffrischung für Isolde. Für den Fall seiner Abreise hatte uns Hildebrand seine Villa zur Verfügung gestellt, aber bei dem neuausgebrochenen ®Erdbeben,¬ würden wir nicht hingehen. Du hast es doch gelesen, daß der Boden fast unter der ganzen Toskana wieder erschüttert war, obgleich nur ein Opfer zu verzeichnen ist. Auch in Rom hat der Seismograph wieder ausgeschlagen. Wir haben auch hier schon kleine ®Erdstöße¬ erlebt, aber der tiefgehende Sandboden ist doch einigermaßen ein Schutz. ®Das schöne Italien ist arg heimgesucht,¬ aber es fängt ja auch in Deutschland unterirdisch zu rumoren an. Ich glaube, es denken wohl die meisten Menschen wie Du und ich, nur ich zweifle öfter, weil die Nagation in meiner Natur liegt, demnach will mirs oft scheinen, daß etwas Unzerstörbares in uns ist, das nach Entrückung drängt. Die Zweifel, die in mir immer wieder aufsteigen sind folgende: "Daß eigentlich nur der bildungsfähige Mensch dies Begehren hat, der Australier, der Feuerländer, der nur Pescheré sagen kann, hat es nicht und welche Stufen hätte ein solcher noch zu durchlaufen, bis er auf die Höhe eines Göthe-Schiller-Humbold käme, nur bis zu uns! Und dann die hochentwickelten Thiere. So gut ein Australier etwas Unsterbliches in sich hätte, müßte es auch ein Affe haben, der sich mit den weiblichen Menschen paaren kann, wie es doch bei den menschenähnlichen Affen in Afrika häufig vorkommt. Diese Bedenken haben ®Göthe in einem Gespräch mit Falk¬ zu der phantastischen Annahme gebracht, daß es auch Vögel und ..... Fischp.. geben könne. Flammerion gibt sogar einem Planeten das Dasein, wo nur geistig entwickelte Pflanzen, denen eine Sprache zu eigen, in des unermesslichen Weltalls Fernen sich bewegt. (
Schluß fehlt)

®Forte, 20. September 1908¬

(ohne Umschlag) 471
Liebes Waldfegerlein! Dein Brief war mir eine wahre Erlösung von meinen Gedanken an Dich. Nichts ist wohlthätiger nach einem großen Schmerz als eine Reise, ein Wechsel anderer Gegenstände, anderer Menschen, das glättet den Sturm im Innern und träufelt Balsam auf die Wunden. Ein langes Leben bringt ein fortwährendes Verlieren mit sich, aber kein Ver- lust ist so qualvoll, als der von erwachsenen Kindern, die auf der Höhe ihrer Entwicklung stehen. Das gräbt und grölt fortwährend, und doch hänge ich wieder am Leben, aber nicht für mich, sondern nur Isoldes halber, die sich mit meinem Verlust überhaupt nicht aussöhnen will und der es so graut allein in der Welt dazustehen. Die ®große Anerkennung¬ die sie erworben und täglich dazu Beweise bekommt, sie geben ihr kaum Trost, sie sagt sie freuten sie nur momentan, weil sie meinem Ehrgeiz gut thäten. Nun geht es mir leider besser als ihr. Ich habe schwere Wochen hinter mir, denn sie war sehr krank und erst jetzt geht es besser, ogleich ihr durch ihren langanhalten Husten sich entwickeltes Emphysem nicht weichen will und mir unendliche Sorge macht. Ich solls zu keiner Ruhe mehr bringen in meinen lezten Lebenstagen. Sonnenbäder, die ihr ver- ordnet waren, und die sie zur Unzeit in der brennenden Mittagshitze nahm, hatten eine so üble Wirkung, daß einestheils der Körper aufgeschwollen und es lange Zeit währte bis der Arzt wieder Herr darüber wurde. Jetzt aber geht es damit wieder besser, aber das Emphysem zu heilen ist noch eine schwere Frage. Sie nimmt die Sonenbäder jetzt zu besserer Zeit und gleich darauf Meerbäder, die auch mir trotz meiner ®81¬ Jahre sehr gut thun. Seit meiner letzten schweren Krankheit in FLorenz ist mein Herz nicht mehr in Ordnung. Es zeigt sich immer von Zeit zu Zeit eine Intermittierung des Herzens und Pulsschlags, sonst aber ist mirs ganz ordentlich, doch lange nicht mehr so, wie bei meinem Aufenthalt in Stuttgart. Da fühlt ich mich wieder ganz jung und freute mich am Anblick der alten Freunde und Bekannten und an den Straßen und dem ganzen Schauplatz meiner Jugend. Ich bin froh, noch einmal dort gewesen zu sein.

Wie sehr würde ich mich freuen, noch einmal mit Dir zusammmen zu sein aber ich fürchte daß die Reise für Dich zu großen Opferkosten würde, dennoch will ich mich in diesen Träumen wiegen. Für mich ist Stuttgart unmöglich. Erstens ist ®Kröner¬ immer leidend und jetzt nicht mehr in Berkheim und für Isolde würde die Reise mit mir gar zu ängstlich sein. Vor Ende Oktober können wir nicht nach München kommen, denn so lange es hier so sommerlich ist, muß Isolde ihre Sonnenbäder nehmen.

Während sie gerade so elend war mußte sie einen Artikel über Hildebrand schreiben, der im Oktoberheft der "Rundschau" kommt. Zwei meiner Jugendfreundinnnen stehen im Begriff aus der Welt zu scheiden. Beide hingen mit ihrer Liebe an Herman und Edgar. Die eine ist ®Hedwig Wilhelmi,¬ die nach einem Schlaganfall schwer in Wildbad darniederliegt. Ihre Tochter wird nun bei ihr sein, sie wollte sie nach Granada holen, es ist aber zu spät. Die andere, eine Tochter des alten Hopf, ®Frau von Schiler,¬ viel jünger als ich, liegt seit Monaten an den Folgen einer Bauchfellentzündung hoffnungslos darnieder, die dritte, Frau Prof.®Weißer,¬ zwei Jahre jünger als ich, ist blödsinnig geworden, auch sie war innig mit Hermann befreundet. So geht eins nach dem andern. Bleibe nur Du mir noch, so lang ich noch lebe!

Auch ®Heyse¬ scheint aushallen zu wollen, obgleich viel leidend, ist er immer noch produktiv. In meinem Kopf ist es noch klar wie zuvor, nur fühle ich plötzlich, daß im Verkehr mit nicht so bekannten Personen, die klar in mir sind, ich dies nicht mehr richtig in das Sprachorgan fortleiten kann, die Benennungen ausfallen, und ich nicht weiter reden kann. Auch die Gabe, die ich hatte bis zu meiner letzten Krankheit, die mir so viel Trost gewährt, mich mit meinen lieben Todten in Versen zu unterhalten sie ist verschwunden. So zerfällt der Mensch stückchenweise und nur die Allernächsten können noch Freude an einem haben.

Wie Du Dich an der alten ®Römerstadt Augusta Trevirorum¬ erfreut hast, ®Trier¬ las ich mit Vergnügen und mußte nur schmerzlich bedauern, daß Du die in so reichem Maße aufgethürmten antiken Alterthümer, die Museen in Florenz nicht geschaut hast. Und waren die Römer schon Übermenschen in der Kunst den Germanen gegenüber, was erst die Griechen, von denen die Römer es ja nur abgespickt! Das Amphitheater ist wohl auch in Trier noch erhalten? Hier hat fast jeder kleine Ort noch ein solches aufzuweisen, Schön für die Epigonen, aber für die, die in solchen Räumen bluten mußten minder angenehm. Du hast wohl mit Deinem Pflegesohn alles besucht und betrachtet und die Erinnnerung wird noch lang einigen Glanz über diese Zeit werfen. Daß Dir noch große Unannehmlichkeiten bevor- stehen, entnehme ich Deinem Brief. Gewiß sind es Geldgeschäfte durch Deines Bruders Tod veranlaßt. Da solltest Du einen männlichen Helfer zu Rath ziehen. - Ich war inzwischen einige Wochen in der Sorge. Es schien, als wollten sie mir meine Pension entziehen, da es zweifelhaft scheine, ob ich noch ein Recht als Staatsangehörige habe, doch hat Stockmayer die Sache ins Reine gebracht. Es wär sehr peinlich gewesen, denn diese fortwährenden Krankheitssanfälle haben sehr viel Geld gekostet und Isolde konnte nicht arbeiten, wie sie gehofft und es nöthig gewesen wäre.

Ich möchte aus Deinem Munde noch so gerne so Vieles aus Deinem Leben hören, wo ich Lücken habe, z.Bsp. Deinen Aufenthalt, bevor Du in den Norden zu den 2 Kindern gingst. Das war in einem ®alten Schloß, aber ich weiß nicht wo und bei wem. Auch von Deinen sämtlichen ®Brüdern¬ möchte ich Näheres wissen. Der ®Pfarrer¬ war doch der, der über Hermann schrieb? Persönlich kannte ich nur den ®Notar.¬ In einem so langen Leben verwirren sich die Erinnnerungen und man möchte sie doch zusammenhalten.-

Was macht denn Maja, die alte nämlich. Ich kam nicht, wie ich so gern wollte zum Schreiben, denke ihrer aber immer in treuer Liebe. Hast Du Deine Freundin Amalie nicht um Dich? Die ist doch auch noch eine Zeugin Deines ganzen Lebens. Deine Briefe sind immer eine Labsal für uns, sei dessen eingeden.
In treuster Liebe grüßt und küßt Dich
Deine Marie
Isolde grüßt.

®4. 10. 1908¬

(aus Forte) 475
ohne Anrede
Zu sagen gäbe es immer genug und zu erzählen, aber zu schreiben, mein liebes Waldfegerlein, wenn man so uralt wurde, da stotterts. Übrigens mußt Du wissen, daß ich Dir zuletzt geschrieben und zwar einen großen Brief aber abrechnen thue ich nie. Ich Gedanken wollte ich Dir alle Wonne erzählen, die ich hier in diesem gottvollen Sonnenwetter, wo es nie gewittert, nur einmal eine Nacht durch geregnet, und in des blauen Meeres Wellen gegossen, aber die Hand will nicht mehr recht Dolmetscherin meiner Gedanken sein. Ich befand mich bis vor etwa 8 Tagen auch so sehr wohl. Da aber kam wieder einmal ein solcher Herzanfall stärker als je. Isolde war zwei Nächte fortwährend an meinem Bett, der arme Schelm - jetzt ists wieder vorrüber, möchten auch Deine Schmerzen vorrüber sein, armer Schelm. Bei den heißen Säcken müßte er doch schnell verschwinden. Unser Freund Vanzetti ist jetzt da und hat Maja hierher gebracht. So lange er bleibt, bleiben wir auch. Schwer wird das Scheiden aus einem Paradies besonders wenn man fühlt man kommt nicht wieder. Jetzt ist zweiter Frühling, daneben schlagen die Reben wieder aus, ebenso die Bäume. Ach, das kalte wüste Deutschland!

Schreib wenigstens Karten. Was meinst Du denn mit Erwin? Wir verstehen das beide nicht: "Der sonderbare Kauz"
Gruß! Kuß!
In Liebe und Treue Marie

®10. Oktober 1908¬

aus Forte 477
ohne Anrede
Wer denkt noch seiner heute an seinem Sterbetage. Wie bald ist der Mensch vergessen. Freilich ist es schon 35 Jahre, daß er geschieden ist und das Häuflein der Seinen ist klein geworden, aber wenn eins noch an ihn denkt, so bist Du`s, sein Waldfegerlein. Drum drängt michs Dir ein paar Worte zu sagen vom fernen Meeresstrande her. Meine Karte wirst Du bekommen haben, und so bitte ich Dich, laß wieder von Dir hören. Hoffentlich sind Deine Schmerzen wieder weg, denn wenn es auch kein so paradiesischen Sonnenwetter bei Euch ist wie hier, so soll es wenigstens trocken sein und das thut den Gliedern wohl. Es geht mir gut. ®Isolde badet täglich.¬ Mich lassen sie jetzt nicht mehr baden, so brühwarm auch das Meer ist. Was mühst Du Dich mit Putzerei? Das ist so unnöthig, ich thäts nicht.
Gruß und Kuß
Deine Marie

®Karte 1.11.1908¬

aus Forte
Mein liebes Waldfegerlein!
Das ist ®die letzte Karte,¬ die ich Dir aus meinem Tropen schreibe. Es ist ein solches Götterwetter, wie ihr Euch da droben im Norden keinen Begriff machen könnt. Bis sie untergeht, brennt die Sonnme wie im August, dann wirds plötzlich ganz kühl. Die Nacht ist wieder warm und um 8 Uhr morgens strahlt sie wieder in voller Kraft. Aber die Trennungsstunde hat doch geschlagen, denn unser Freund und Arzt kann nicht länger hier bleiben und so ®reisen wir am 4. November¬ mit ihm ab. Dann kommt die große Reise ins Eis und Nebelland vor der uns beiden graut. So schwer wurde mir noch kein Abschied, weil es wohl ein letzter ist. Wir gehen in Florenz in eine Pension, und da kann man, wegen der Kosten, nicht lange bleiben. Wie würde der warme Sonenschein Deinen Gliedern gut thun. Hülle Dich nur noch in Wolle und Wolle ein und bleibe an kalten Tagen im Bett. Von München schreibe ich wieder, wenn ich lebend ankomme, wenn nicht, so lebe wohl und schreibe oft meiner Isolde. Ich grüße Dich in alte Liebe
Deine Marie

®Karte vom 1. 12. 1908¬

aus München 478
Mein liebes Waldfegerlein!
Seit ein paar Tagen sind wir hier angekommen, und ich sende Dir heut nur einen flüchtigen Gruß und hoffe, Daß es Dir gut geht und Deine Gelenkschmerzen nachgelassen haben, an die ich mit großem Antheil fortwährend gedacht habe. Das Schächtelchen mit den papierenen Restchen und Hermanns Brief hat mir große Freude gemacht sie hier im Hause zu finden. Irene zeigte sie mir gleich mit großem Triumphe. Wir sind in so warmer Sommersonne abgereist, die uns bis zum Brenner begleitete, wo dann der Winter begann. Hier herrscht abscheulicher Nebel der mich ins Zimmer bannt. ®Isolde¬ wohnt wieder ®neben mir.¬ Laß mich bald wissen, daß es Dir gut geht.
Mit Gruss und Kuss
ohne Unterschrift

Karte vom ®20. Dezember 1908¬

aus München
Mein liebes Waldfegerlein!
Ich hätte Dir längst wieder eine Karte geschrieben, um Nachricht über Dein Befinden zu erfahren, aber es war ein allgemeines Spital bei uns, zuerst lag ich zwei Tage bei Isolde am alten Übel, dann wurden Irene und Tille krank, am erschreckensten aber mein ®Erwin,¬ dessen altes Magenübel sich so heftig zeigte, daß man auf Gallenstein schließen konnte. Der Arzt konnte keine klare Diagnose stellen. Als sich Erwin endlich entschloß, sich an einen Universitätsprofessor zu wenden, hörten die Schmerzen plötzlich auf, jetzt will er natürlich wieder nicht daran, obleich das Leiden ja da ist, und immer von Zeit zu Zeit heftig ausbricht.

Das Wetter ist ja scheußlich: Nebel und Regen und Dunkelheit, kein Sonnenstrahl, das vollkommene "Niflheim". Isolde ist auch wie immer ungern hier und es geht gar nichts. Es war ein Paradiesesleben am Meer.

Du hast auf Deiner letzten Karte kein Wort über Deinen Ischias geschrieben. Ist es ein gutes Zeichen? Ich hoffe es. Gewiss steckst Du in lauter Weihnachtsarbeiten? Warum machst Du Dir diese Last. Bei ®Erwin feiert man Weihnachten nicht mehr.¬ Sie gehen in die Berge zum Skie fahren. Ich lese jetzt wieder einmal den Herodet.
Lebe wohl und lass Gutes von Dir hören
Deine Marie Kurz
Aus München nach Stuttgart ins Frauenheim 479

®3. Januar 1909¬

Liebes Kirchenfegerlein! Hätte ich Dir doch ein Bäumchen anzünden können in Deinem kleinen Zimmerchen und mit Dir in Deine Kindheitstage zurückfliegen. Du glaubst nicht wie michs schmerzlich berührte Deine Verlassenheitsempfindung, die Dich ... in die Kirchen führte. Wir haben in der Kindheit mit meinen Kindern niemals das Christfest gefeiert, sondern am 21. Dezember, dem Geburtstag meiner Isolde den Baum angezündet, daher kam es auch, daß Isolde an diesem Tag nie ihr Bäumchen missen wollte und ich ihr auch hier immer ein kleines Bäumchen mit Lichtern schmückte, das zum Nachtessen heimgetragen wurde. In Italien, wo die Sitte der Weihnachtsfeier nicht existiert und nur von den Fremden theilweise beachtet wird, hatte ich den 21ten nur in ausgiebiger Weise geschmückt, und so blieb auch ihr die Erinnerung an jene besseren Zeiten theuer. Die Meinigen, d. h. Tilla und Irene feiern jetzt im Skiefahren auf den hohen Schneebergen ihr Weihnachtsfest. Ich bin aber mit Erwin allein und habe in der Einsamkeit Zeit an Dich zu schreiben. Erwin wird vielleicht in den nächsten Tagen auch ein paar Tage zu ihnen fahren, dann kommt Isolde zu mir und ich bin nicht allein. So schrecklich mich das Schicksal gezaust hat, so erkenne ich doch immer in Dankbarkeit, daß mir diese beiden Kinder geblieben sind, gleichzeitig aber erfüllt mich auch ein unsäglicher Jammer, wenn ich an Isoldes Verlassenheit denke, wenn ich todt bin. Sie leidet jetzt schon so furchtbar darunter. Kein Mensch ahnt wie sehr sie der Liebe bedarf, weil sie eine verschlossene Natur ist, die ihr Liebesbedürfniß nur mir ganz offenbart. An Erwin wird sie nicht viel haben, denn obgleich er der beste Mensch von der Welt ist, der nicht nur das Hemd, sondern die Haut herunter thäte, so lebt er so in seiner Kunst ver- sunken, im übrigen hat er selbst Familie, daß er ihr sich nicht so widmen wird, wie sie es bedürftig wäre. Je länger man eine Mutter besessen hat, desto weniger kann man sie mehr missen und so suche ich jetzt mein eigenes Leben zu schützen, wies nur immer möglich ist. Wie gern wäre ich nach meines Edgars Tod gestorben, jetzt denke ich nicht mehr an mich selbst und meine Verluste, sondern nur an sie. Ach wärst Du nur nicht auch schon so alt, so könnte ich beruhigter sterben. Die fürchterliche Kälte bekommt uns Beiden nicht gut. Ihr nach Stuttgart zu entfliehen erlauben unsere Mittel nicht und wird durch das zweimallige Reisen im Jahr nach Italien schon gehörig erschöpft. Isolde muß für ihre Parterre - Wohnung 70 M alle Monat bezahlen, dann kommt noch das Essen, das warme Wasser und da die größte Finsterniß in ihrer Wohnung herrscht, muß sie die dunkle Tapete herunter reißen und durch eine helle ersetzen lassen, jetzt auch noch einen Ofen in ihr Zimmer kaufen, da der jetzt befindliche ganz erbärmlich ist und nicht heitzt. Ich will doch auch nicht ganz umsonst hier im Hause sein, ich thu was ich kann. Erwin darfs nicht wissen, denn er würde recht leiden, auch Tilla will es nicht, aber ich bestehe darauf, was Du begreifen wirst. Aber ein Reise und ein Aufenthalt in Stuttgart ist für uns beide gemeinschaftlich eine Unmöglichkeit.- Es geht meinem Erwin wieder ordentlich, die Magenschmerzen die ganz rasend waren, haben aufgehört. Da dies Leiden aber schon öfters sich einstellte, bin ich nicht sicher, ob es nicht doch Gallensteine sind, die sich zeitweise bilden. Sein Ver- sprechen sich von einem Spezialisten der Universität untersuchen zu lassen (was er Hildebrand versprochen hatte) hält er nun nicht, weil die Schmerzen weg sind, so will er warten bis sie wieder kommen. - Daß auch Du zeitweise an Deinen alten Beinen zu tragen hast, ersah ich ... aus Deinem Brief. Daran ist auch nur die Kälte schuld, denn im Sommer waren sie weg. Ich fürchte immer, daß Du keinen guten Arzt hast. Hoffentlich wickelst Du Dich ganz in Wolle und Watte ein und bleibst jetzt fein zu Haus hinter dem Ofen sitzen, wie ich es machen muß.

Emmi Becher war einige Tage hier um die Marreesche Ausstellung in der Bastion zu sehen. (Anm.) Ihr heiteres muthiges Wesen that Isolde sehr wohl. Sie steht jetzt auch in der Welt allein da, doch heitern sie die 6 Kinder ihrer Nichte und ihre große künstlerisch literarische Thätigkeit auf. Sie sagte sie werde Dich nächster Tage besuchen. Sie habe dies schon so lange gewollt und sei immer wieder abgehalten worden.

Wie furchtbar schmerzlich uns das entsetzliche Unglück, das über Süditalien gekommen ist bewegt, kannst Du Dir denken. Jedes Jahr wüthet das ®Erdbeben¬ in diesen holdselligen Gefilden so schrecklich. 100 000 Todte waren in wenig Stunden unter Trümmern begraben und diese herrliche Stadt, ein Denkmal des grausten Alterthums noch von der M... erbaut, ist jetzt für immer vernichtet, und wenn die Zukunft auch den Muth hat sie wieder aufzubauen, ist sie nicht mehr dieselbe. Diese Erdbeben kommen nun Jahr auf Jahr und entvölkern das Land. Man muß suchen, sich die gräßlichen S... fern zu halten, aber in der Stille der Nacht drängen sie sich einem dennoch auf.
481
Das große Überhandnehmen der Erdbeben und jetzt auch in Gegenden, wo sie nie früher waren - in Dresden, Leipzig usw. machen die Annahme sehr wahrscheinlich, daß unser ganzer Planet durch das innere Feuer in Stücke gerissen wird und meist in Asteroidenschwärmen die Sonne umkreisen wird, wie jetzt einer seinen Lauf in dem einer neue ... lehren umdunkelt werden, wie denn die Astronome es fest annehmen, daß sie einstens einem großen gewaltigen Körper angehörten. es wäre doch jammerschade um unsere Erde, um all die Kunst und Wissenschaft, die neuen Entdeckungen all unseres Menschengeschlechts, die dann verloren wären und daß Tod und Vergehen allem Entstandenen bestimmt ist, dessen sind wir ja gewiß. Ich habe nur immer gehofft, daß wenn die Vernichtung einmal unserer Erde eintreffen würde, das Menschengeschlecht schon zuvor erloschen wäre, jetzt zeigt sich aber auch bei den Beben wie es zugleich hingerafft werden kann und dann kommt wieder die mißliche Frage zuvor, war es das?

Wenn Du einmal Martha Bareiß sehen solltest, könntest Du mir einen Gefallen thun und sie fragen, ob sie nichts über ®Hedwig Wilhelmi¬ wisse. Diese ist schon seit zwei Jahren geistesschwach und war in Wiesbaden zur Pflege eines treuen Freundes der mir oft Nachricht von ihr gab. Zuletzt blieben alle meine Fragen vergeblich, und ich möchte doch wissen, ob sie noch lebt.

Verzeih mein abscheuliches Gesudel, aber meine Finger sind im geheitzten Zimmer so steif, daß ich nicht anders schreiben kann. Lebe wohl, Du Liebe, einzig mir aus alter Zeit gebliebene und pflege Dich in treuer Liebe
Deine M. K.
(Anm.: Hans von Marées, 1837 - 1887, bdt. Maler)
482

Karte vom ®29. 1. 1909¬

Liebes Waldfegerlein!
Von Emmi wissen wir, daß sie Dich wohlauf, heiter und jugendlich getroffen hat und es ihr bei Dir sehr wohl und behaglich gewesen sei, somit bin ich über Dein Befinden beruhigt. Wir, denen Italien die eigentliche Heimath und so lieb ist, haben inzwischen traurige Zeiten durchgemacht. Die hiesigen Blätter brachten die Ereignisse, den entsetzlichen Jammer gar nicht so ausführlich, die italieni- schen, die mir zugeschickt wurden, umso mehr. Die Natur ist noch viel grausamer als Mensch und Thier.

Heute schreibe ich Dir hauptsächlich um Dir Nachricht zu geben, daß unser junger Schmetterling sich ®verlobt¬ hat und bald heiraten wird. ®Er heißt Becker¬, ist Architekt und Ingenieur-Assistent am Poli- technikum in Darmstadt. Die Freude darüber ist sehr gemischt mit dem Weh der Trennung von den Eltern. Sie kommt in sehr gute Ver- hältnisse und ist kreuzfidel. Wir leben wie Eisbärenkleine, das sich hinter den Ofen bannt. In den nächsten Tagen wird Maja hieher- kommen. Sie hatte auch jede Nacht in Florenz Bebenstöße, auch in Siena ist es erschienen und wer weiß, ob wirs nicht auch in Forte bekommen. Sei froh, daß Du die Reise nach Trento gemacht hast, denn auf dem ganzen Brenner spukt es.
In Liebe Deine Marie
483

®Karte vom 7. 2. 1909¬

Mein liebes armes Waldfegerlein!
Von Luise habe ich gehört, daß Du wieder zu Bett liegst, Dich nicht genug in Acht genomen und nun abermals Trübsal blasen mußt. Hoffentlich ist Deine barmherzige Schwester wieder bei Dir und bringt Dich bald auf die Beine. Es ist kein Wunder bei diesem enorm kalten Winter. Menschen die nicht mehr ganz jung sind erkranken. Mein Leben hinter dem Ofen birngt mir auch manches Ungemach. Der Sturm hat 8 Tage lang hier gewüthet, daß ich nicht einmal bis zu Isolde hinüberkonnte. Seit gestern ist der Bräutigam da, der alle vierzehn Tage für zwei Tage von Darmstadt herüberfährt. Die Trauung ist auf Mai bestimmt.

Heute ist der Todestag meines Balde, der alle alten Schmerzen wieder auffrischt. Der März hat meinen Alfred genommen, der April meinen Edgar, und doch hab ich mich wieder darüber angenommen, weil mir noch zwei geblieben sind aber dennoch ists wahr, was schon die Alten sagten, das beste wäre, nicht geboren zu sein.- Maja wird in diesen Tagen hier ankommen. Jede Nacht gibts in Florenz noch Erd- bebenstöße.
Völlige Genesung wünscht Dir
Deine alte Marie.

Karte vom ®22. Febr. 1909¬

484
Ohne Anrede
Ich habe schon so lange nichts mehr von Dir gehört, mein liebes Waldfegerlein. Die letzte Nachricht brachte mir Luise, daß Du aufs neue im Bett lägest. Ich weiß nun nicht mehr, ob ich Dir gleich geschrieben habe oder nicht, denn mit meinem Gedächtniß wird es täglich schlechter. Ich war inzwischen auch wieder unwohl, der unruhige Puls spukte wieder und zwang mich ins Bett... Die abscheuliche Kälte hier thut mir natürlich nicht gut. Ich komme nicht aus dem Zimmer. Hoffentlich bist Du wieder außer Bett, hüte Dich nur fein. Der Winter ist für alte Leute schlimm. Irene ist mit ihrem Bräutigma Skie fahren auf den beschneiten Bergen. Die Hochzeit wird schon im Mai sein. Seit einigen Tagen ist auch Maja hier, die sich nun ausschließlich dem Gesang widmen wird. Sie hat eine starke prächtige Stimme. Edgars Villa ist nun verkauft, sehr unter dem Preiß. Bei dieser Erdbebenperiode müssen sie aber froh sein, sie hergeben zu können, denn der Boden wackelt noch immer unter Florenz. Maja schlief immer in den Kleidern in den untersten Zimmern, um gleich fliehen zu können. Mein armes, armes Italien. Wie grausam hat die Natur hier gehaust! Isolde wird wahrscheinlich nach Stuttargt kommen zu Kröner, ich wage es aber nicht. Wie geht es wohl Maja Flattich? Ich komme nicht dazu ihr zu schreiben. Das Alter macht faul. Gehts Dir gut, so lasse mir ein paar Worte hören. Mit altem Herzen aber müder Seele
Deine Marie

®Karte vom 13. April 1909¬

483
Liebes Waldfegerlein!
Es ist eine Ewigkeit, daß wir uns nicht mehr geschrieben haben, doch hat mir Isolde von Dir erzählt und Emmi Becher hat mir geschrieben, daß Du ihr so sehr gefallen habest und sie Dich so gerne mit nach ®Buoch¬ nehmen würde. Gehe doch hin, wenn sie Dir den Antrag macht. Dort muß es Dir in der Erinnerung an die Deinen Onkel wohl werden. Isolde war sehr gerne in Stgt.. Es that mir leid, daß sie zurück eilte. Gestern habe ich den ganezn Tag Hermanns Briefe wieder gelesen und das genossene Glück in der Erinnerung noch mehr durchgemacht. Was war er für ein zärtlicher Vater und wie waren wir doch glücklich in unserem Kreise. Er ®war¬ doch einmal und die Erinnerung bleibt auch im hohen Alter, in dem einem die Welt sonst immer fremder wird. Heute ist Erwins Geburtstag. Ich durfte noch die Freude erleben, daß es mit seiner Gesundheit viel besser jetzt geht. Wir haben eine recht widerwärtige Nachricht erhalten. In der Schweiz ist ein junger Poet (...) Unter seinen Schriften erschienen ebenfalls die Gesammmelten Werke von Hermann. Das Fatale ist, daß er auch ®Hermann Kurz¬ heißt und sich scheints den Ruhm seines Vorgängers zu Nutzen machen will. Hast Du nie etwas von ihm gehört oder gelesen? Das kann einen Prozeß geben.
Laß auch wieder von Dir hören
Deine Marie Kurz

®Karte 22. Juni 1909¬

aus München 486
M.C. Wildbad Pension Belvedere (nachgeschickt vom Frauenheim)
Mein liebes Waldfegerlein!
®Sonnwende¬
Obgleich ich nicht weiß nach welcher Gegend zu ich meine letzten Abschiedsworte richten soll, sende ich sie dennoch aufs Geradewohl, einem guten Zufall zutrauend Dir nach. Erhältst Du sie, so bitte ich Dich mir noch ein paar Worte zu schreiben. Am 27. reisen wir wahrscheinlich ab, doch kann es auch der 28. oder der 30. werden. Ich kann nicht annehmen, daß Du bei diesem sintflutartigem Wetter im Mai in Wildbad warst? Wahrscheinlich bist Du jetzt dort und so grüße ich Dich denn von hier zum letzten mal. Emmi Becher war noch einmal hier, sonst habe ich von den alten Stuttgarter Freunden niemand gesehen. Mit ®Maja¬ bin ich täglich zusammen. Sie war leider einige Zeit recht krank. Mit ihrer ®Stimme steht es vortrefflich¬. Isolde und ich grüßen Dich herzlichst
Deine M.K.

®o. D.¬ ®Sommer 1909¬ (Umschlag Stempel aus Forte dei Marmi)

487
Es ist uns im Alter, zwar Du bist mir gegenüber noch ein jugendliches Wesen, die Gabe geblieben an allem Schönen, an Poesie und Wissenschaft uns zu erfreuen, die Natur ist nur jung und schön, aber wie viel alte Menschen, besonders Frauen sind abgestumpft, des Aufschwungs nicht mehr fähig und vegetieren bloß noch, was ists mit denen, wenn sie jung erlöschen? Als ich so schwach, der Sprache nicht mehr fähig, schon wie eine Tote in Vanzettis Armen hing, war mein Bewußtsein noch ganz stark. Ich habe alles mögliche durchdacht und mir gesagt: Ist das der Tod, so ist er sehr leicht, und mich dabei erinnert wie mein Edgar sagte das Sterben sei meistens sehr leicht und im letzten Augenblick unbewußt. Als ich wieder reden konnte sagte ich: Ich lebe doch noch gerne. Auch that es mir recht wohl, daß ich alle die Freunde Edgars an meinem Bett hatte, die aber an ein Aufleben nicht geglaubt hatten. Daß dieses Erlebte ein arger Schock für ®Isolde¬ war, der hauptsächlich noch nachwirkt, ist begreiflich. Was nun, wenn uns ein güthiges Geschick diesen Vanzetti bis Ausgang Oktober hier erhält, was aus uns werden wird, wissen wir vorerst nicht. Am Liebsten stürbe ich in Florenz. Ich habe mich schon in die ®Kremationsgesellschaft eingekauft¬ und würde so ohne weitere Kosten zu der ®Asche meines Edgars¬ in das liebliche ®Trespiano¬ hinaufbefördert. Isolde hat Angst, die weite Reise nach München mit mir allein zu machen, da ein solcher Zustand wie ich ihn hier hatte wieder eintreten könnte, und die Dinge in einer Pension abzuwarten übersteigt um vieles unsere Verhältnisse. Also vorerst gar nicht daran denken ist das Einzige. Bisher war es im Hause meines Edgars kein großes Hinderniß, jetzt ist es anders, und da möchte ich um keine Welt wieder hin, denn vorerst schwierig ist´s bei einem verheiratheten Sohn, aber mehr bei der Schwiegertochter als beim Sohn. Vorerst will ich, solang das noch geht die hiesige herrliche Natur genießen, denn wenns auch einmal nach zwei Monaten Dürre eine Nacht und einen Tag regnet, so blaut der Himmel gleich wieder über dem glücklichen Lande!

Ich stehe jetzt wieder um 1/2 6 Uhr des Morgens auf, mache den Kaffee, und ergehe mich im Garten, der zur Hälfte Pineta zur andern Hälfte Weingarten ist. Jedes Pflänzchen ist mir theuer und interessant. Nach Mittag bin ich direkt am Meer und lasse mich durch die rauschenden Wogen ansingen. Morgens und abends kommt mein dunkelbrauner Doktor, der immer halbnackt die Pracht seiner Glieder zeigt. Das ist überhaupt so schön hier diese Schaar brauner Gestalten in Adams Kostüm hier herum tummeln zu sehen. Die Frauen sind dann meist im Badecostüm oder in weißen wallenden Gewändern. Hegemonie (Anm.) existiert nicht an diesem Gestade.

®Maja¬ schreibt mir oft. Sie war einen Monat lang im holländischen Bad Scheveningen, jetzt im belgischen Ostende. In München kam sie jeden Tag zu uns. Ob ich sie noch einmal sehen werde, ist zweifelhaft. Ende des Monats wird sie ihren Gesang- und Mimikunterricht in München wieder beginnen. Ich hoffe, daß es ihr gelingen wird als ®Opernsängerin¬ ihr Glück zu machen. Ach wärst Du um zehn Jahre jünger, um wie viel leichter ginge ich aus der Welt, ich wüßte dann Isolde nicht so verlassen. Gelt, mein theures Herz, wenn der Tag meines Scheidens kommt, so schreibe ihr oft und überlasse sie nicht sich selbst, sage ihr auch, wie dankbar ich ihr gewesen und ermuntere sie zur Arbeit, die einzige Retterin im Unglück. Sie will mich nicht hergeben und doch muß ich ihr eine Last sein. Die arme ®Luise¬ ist noch sehr betrübt, es wird ihr wohlthun, wenn Du nach ihr siehst. Zwei Monate ist mein Erwin mit seiner Frau in Tirol umhergewandert, ich glaube es hat ihm wohlgethan, denn der Arzt hatte es ihm dringend angerathen. Er wollte mich nach der Krankheit hier besuchen, ich ließ es aber nicht zu, denn die große Hitze hätte ihm nach der Tiroler Kälte geschadet. Du konntest ja jetzt auch noch nicht nach ®Buoch¬ wandern. ®Isolde¬ war so gerne dort und sah ihren Vater im Geiste die dortigen Wälder durchziehen. Das war als ich 80 Jahre alt war, wie war ich doch da noch jugendlich kräftig, aber alles muß vergehen, des Todes Keim liegt im Entstehen. Sage mir auch, was macht Deine arme Freundin Amalie, der das Sterben zu lange dauert?

Ich habe auch alle Novellen und Gedichte Hermanns wieder gelesen und die von Isolde ebenfalls.
Lebe wohl, liebes Waldfegerlein und schicke mir öfters eine Erguickung.
ohne Unterschrift
Anm.: Hegemonie = Oberbefehl (grch.)

®Karte vom 18.8.09¬

aus Forte 490
An Frl. M.C. bei Frau Mündler Reinfelder Anlage 33 ®Heidelberg¬

Daß Du Dich in dem schönen Heidelberg, der Vaterlandstädte ländlich schönste Dich aufhälts freut mich sehr für Dich. Vor etwa 50 Jahren war ich auch einmal dort.- Du hast mir meinen lieben Hölderlin ins Gedächniß gerufen, jetzt will ich ihn wieder lesen, nachdem ich mit der ®Odyssee,¬ die ich jedesmal am Meeresstrand lese zu Ende bin. Isolde hat mir eine ®Hütte direkt am Meer¬ anbauen lassen, damit ich den ganzen Tag Meerluft einathmen soll. Die bannt aber die ®83 Jahre¬ nicht mehr. Ich fühl es zu deutlich es geht jetzt zu Ende. Ich wäre glücklich in dem herrlichen Italien in den Äther auszuströmen, wenn nur mein armes Kind nicht so allein zurückbliebe; aber bitte erwähne solche Worte nicht, wenn Du mir nochmals schreibst was wieder wohlthun würde, denn der Abschied thut mir von allen die ich liebhabe leid. Wie oft denke ich an alles zu- rück. Viel Leid und viel Freude hab ich genossen und freue mich jetzt noch alle Tage an unserm schönen Garten und Pinienwald und an den blauen Fluten des Meeres. Es regnet nie, ewig blauer Himmel über mir. Genieße, so lang Du genießen kannst.
In treuster Liebe
Deine Marie
Dienstag

Deine Karte aus Heidelberg heute erhalten. Aus Wildbad hab ich keine bekommen. Du machst mich jünger als ich bin, denn mein Geburtstag war schon am 6. August. Ich war sehr krank, kränker als je in meinem Leben, ein Wunderarzt, der treue Freund Vanzetti, der mich nach drei Kampfereinspritzungen wieder ins Leben brachte, ich konnte schon nicht mehr reden... Es ist nicht zu sagen, was meine arme Isolde an Angst ausgestanden und alles mußte sie sein: Krankenwärterin und Köchin, denn unser dienstbarer Geist kann nicht kochen. An ein Arbeiten ihrerseits ist nicht zu denken! Was bin ich für ein Hinderniß für sie und doch hängt sie so an mir und will mich nicht verlieren. >s5 gedr verb.28.9.99

Mittwoch ®6. Oktober 1909¬

(aus Forte) 491
Meine liebe Lebenskünstlerin! Wenn Schopenhauer Dir auf seinem Lebensweg begegnet wäre, so hätte er seine pessimistische Philosophie nicht geschrieben. Deine Frische thut mir im Innersten wohl und ich gebe mir Mühe selbst Lebensfreudigkeit daraus zu schöpfen, was mir auch oft gelingt, da es auch in meiner Natur liegt. Aber hie und da, wenn ich sehe, daß ®Isolde¬ durch mich in der Schöpfungskraft gehemmt ist, daß sie den längst Faden geschlagenen Roman nicht zu Ende bringt, so kommt mir auch der Wunsch, ach wäre es doch mit mir vorrüber. So weh ihr auch mein Scheiden thun mag, sie wirds überstehen, denn es liegt in der Natur, daß Kinder die Eltern verlieren müssen, und sie wird in der Arbeit Trost und Erheiterung finden. Ich sehe meinen hiesigen Aufenthalt noch als eine güthige Gabe des Schicksals an, denn ich habe noch viele gute Stunden ge- habt. Das Wetter war und ist so göttlich, und ich genieße diese strahlende Sonne die ich jeden Tag aufgehen sehe, jeden Morgen, denn um 6 Uhr bin ich schon im Garten, bin auch kräftig genug noch den Kaffee zu machen und das Frühstück herzurichten, während das Mädchen im Dorf die Einkäufe macht. Dennoch ist mein Befinden seit dem letzten Schreck den es erhielt nicht mehr wie zuvor. Mein Magen ist recht gut, doch es ist ein Erlahmung in den Gedärmen, denen durch fortwährende Klystiere abgeholfen werden muß. Das ist das einzige Vorbeugungsmittel, das angewandt werden kann, und ich kanns noch allein machen, denn eine 3/4 Ellen lange Spritze muß in den Leib getrieben werden um Erfolg zu haben. Daß ein solches Leben nicht angenehm ist, wirst Du einsehen. Und doch welch ein Glück, daß wir diesen treuen aufopferunsvollen Freund zur Seite haben, der auch bei ®Isoldes Zuständen¬ hilft, denn sie ist durchaus nicht ganz wohl. Er führt sie weite Strecken, dann fährt er mit ihr aufs Meer, er hat sie wunderbar gelehrt was für ihre Zustände von größ- tem Nutzen sei und so leben wir beide eigentlich nur durch ihn. Jeden Abend kommt er und bleibt bis 10 Uhr. Bis dahin wird Astro- nomie getrieben. Aber alle meine Sinne nehmen erschreckend ab. Wenn mehrere Personen reden verstehe ich kein Wort, nur das Lesen geht noch recht gut und das ist ein großer Genuß im Alter. Wie viele alte Weiber thun nichts mehr als stricken und Karten schlagen. Daß es in Deutschland gar so übel mit der Witterung geworden ist, ist gar zu fatal. In München regnet es in einem fort. Wie recht hast Du gehabt, daß ®Isolde¬ nicht auf lange ihr eigentliches Heimathland Italien meiden kann. Ich hoffe auch, daß wir, wenn wir hier scheiden müssen noch zwei Monate in ®Florenz¬ bleiben können, wenn wir eine nicht zu theure Unterkunft finden. Wir hatten in der letzten Zeit den ®Dr. Schiler¬, Enkel unseres alten Freundes Hopf hier, der war ganz selig über die Schönheit der Gegend und riß sich nur mit Mühe los, um nach Rom weiter zu reisen. Bald darauf kam mein ®Enkel Jole¬ auf der Rückreise von Rom, dem gings ebenso, er fühlte sich ganz gehoben hier. So wirkt der Zauber des Südens, dabei ist hier ein ganz schlechter Menschenschlag, verstohlen und betrüge- risch. Eine Stunde weiter nach ®Spezia¬ zu sinds die anständigs- ten gebildetsten Seeleute, unter denen wir vor vielen Jahren lebten, jeden Sommer einige Monate. So ungleich sind die verschie- denen Regionen hier getheilt.

Der Wunsch zu sterben Deiner Freundin Anneliese ist mehr ein platonisches Bedürfniß, tritt der Tod zu ihr, wo wird sie sich wehren so gut sie kann, wie jenes Bäuerlein das ihn bat ihm sein Holz aufzuladen nachdem er ihn zurückgerufen. Wir sind alle so, vor dem Unbekannten graut es dem Menschen. Mein Wunsch wäre auch in ®Florenz¬ zu sterben, weil ich mich dort ins ®Crematoriun eingekauft¬ habe, und ®meine Verbrennung nichts mehr kostet¬, ob ich ihn aber festhalten kann, wer kanns wissen?

Du schriebst von dem unruhigen Stuttgart. Weßhalb ist es unruhig für Dich? Kannst Du Dich denn nicht ins Schneckenhaus zurückziehen? Allein nach Wien reisen kannst Du freilich nicht, aber es kann sich doch eien Reisegesellschaft finden lassen, und dann wäre der Aufenthalt bei einer Jugendfreundin doch erfreulich. Das Schreiben wird mir sauer, ein bedenklicher Altersfortschritt. Isolde grüßt Dich herzlichst. Kannst Dir denken wie wohl ihr Dein Brief that. Laß am 10. unsere Gedanken bei ihm sein!
In alter treuer Liebe
Deine Marie
Karte aus Forte nach Stgt.

®28.10.1909¬

aus Forte 493
Mein liebes Waldfegerlein!
Mich hatte Deine Erzählung des Traumes in dem Du Deine Mutter und Hermann in Barons Nachen sahst so wunderbar ergriffen, daß ich Dir sogleich schreiben wollte, aber da bekamen wir einen 4tägigen Besuch von ®Dr. Schiler¬ aus Eßlingen, der von seiner römischen Reise heimkehrte und da war ich abgehalten. Als er abreiste befiel mich ein heftiges Fieber, an dem ich einige Tage zu leiden hatte und so kam ich nicht dazu. Nie hattest Du mir früher etwas davon erzählt, denn das wäre mir geblieben. Der Traum ist wunderbar vollständig, ein Böklinisches Bild.- Nicht nur Du hattest viel an Hermann gehabt, auch ich war einst die Lebensfreundin geblieben und der Onkel Rudolf hätte zwischen Euch fortgelebt, aber der Tod zerreißt alle Bande! - Das Wetter blieb göttlich schön bis vorgestern wo ein heftiges Gewitter mit Schloßen kam das abkühlte. Unser Aufenthalt geht zu Ende, da unser Arzt auch endlich fort mußte. Ach wie wun- derbar schön ist es hier. Die Pappelbäume sind noch grün belaubt und daneben sprossen die jungen Knospen auf, so ists auch bei den Trauben und den andern Bäumen. Aus dieser Fülle der Natur zu scheiden thut weh, besonders wenn man weiß, daß man nicht wiederkehrt. Wir bleiben in Florenz. Auch der Arzt zweifelt, daß ich die weite Reise noch machen könnte, es muß sich in Florenz zeigen. Ich schreibe Dir von dort wieder. Am 4. werden wir wahrscheinlich abreisen. Es wird mir schwerfallen, obgleich das Wetter auch in Florenz ebenso schön sei. Aber ein eigenes Haus ist eben ein gar so angenehmes Gefühl. Ich ließe mir das Weiterleben schon noch ein wenig gefallen, obgleich ich arg hinfällig bin, aber wenn die Tochter nicht weiter macht, so muß es halt sein, und was dann weiter wird, ich weiß es nicht, seis wie es kommt, auch das Auf- hören ist so schlimm nicht, denn die andern leben dieselben Triebe und dasselbe Streben fort. Ich nehme noch nicht Abschied von Dir, und vielleicht hält die Maschine noch eine kurze Weile zusammen.
In treurer Liebe bis zum Tod
Deine Marie

®18. 11. 1909¬

aus Florenz, Pension i.d. via Fra Bartholomeo 494
Mein liebes Waldfegerlein!
Ich lebe noch immer und habe seit 8 Tagen unser noch immer heißes Meeresufer verlassen und es hier in Florenz kühl getroffen. Vanzetti reiste mit und so ging alles gut ...Auch hier besucht er seine alte Patientin täglich. Er ist aber gegen ein Zurück nach M., wo es so kalt sei und so bleiben wir vorderhand hier. Die Pension in der wir untergebracht sind ist in der Via Fra Bartolomeo I p. Sie hat leider keinen Ofen, bis jetzt ist es auch noch nicht nöthig. Es geht mir ordentlich. Die Kur aber, die mit mir vorgenommen werden muß ist unangenehm und für Isolde sehr beschwerlich. Ach, das Altwerden ist scheußlich und man kann den liebsten Menschen nichts mehr sein. Von ®Maja Flattich¬ bekam ich gleich hier einen sehr lieben Brief. Ich antwortete ihr sogleich darauf, sonst vergesse ich es wieder. Es geht ihr recht ordentlich, und sie hat den 80. Geb. ganz vergnügt mit den Ihrigen verlebt. Mit 80 war auch ich noch ein anderer Kerl als jetzt, konnte noch die größten Spatziergänge machen und jetzt ists aus mit meiner Kraft und ich bin ganz zusammengehutzelt. Du bist die Jüngste und erhälts Dich hoffentlich noch lange aufrecht in deiner Lebenskunst. Sehen werden wir einander nicht mehr, aber ich lege Dir Isolde ans Herz, hab sie lieb weil sei Hermanns Tochter ist, nur von seinem Geist beseelt und sie wirds nöthig haben Liebe zu empfangen, wenn ich sie nicht mehr lieben kann. Erwin schreibt immer ich solle kommen Tilla sei jetzt wieder so ziemlich wohl, aber Isolde hat das Herz nicht mit mir allein zu reisen; so bleiben wir also hier, wie lang weiß ich nicht.
Leb wohl und sei liebend umarmt von
Deiner alten Marie

Karte ®26. November 1909¬

(aus München, Ainmillerstrasse 18) 495
ohne Anrede
Die Kälte und der Schnee, die mir ebenfalls einen Ischias gebracht und einen Kartharr daneben, mahnt mich mit Sorge an Dein Leiden. Ich fürchte, daß es sich nicht verloren hat. Ich konnte gerade noch Isolde täglich in ihrer Influenza besuchen. Es geht ihr wieder ordentlich. Der Schnee hat nun ein Bollwerk zwischen mir und Venedig aufgerichtet. Der Brenner ist unpassierbar. Die Züge gehen nur bis Innsbruck. ®Rosa¬ wollte bis Mitte Dezember fort, jetzt geht das auch nicht. Verzeih die schlechte Karte. Ich habe keine andere und wollte Dir doch einen Gruß senden und Dir sagen, daß ich vom gleichen ... bin. Meine linke Seite ist auch schmerzhaft steif. Gedenke ®seiner¬ und unser am 30. November. Es war ihm nicht vergönnt seiner Kinder hohe Entwicklung zu erleben.
Herzlichen Kuß.

Karte, ®8.2.1910¬

aus Florenz 496
Liebes Waldfegerlein
Ich komme heute mit einer Bitte von Isolde zu Dir im Falle, daß Du wohl bist und nicht im Bett liegen mußt. Sie bittet Dich um ein Exemplar des Stuttgarter Tagblatts vom 4. Februar, falls Du eines hättest oder im Haus ein solches liegen geblieben ist. Mühe darfst Du Dir natürlich nicht damit machen. Wir hatten noch zwei heiße Sommertage, eine Reihe recht kalte Tage mit eisigen Temperaturen. Der ®Komet¬ hat sich hier nur einmal sehen lassen, während er in Rom täglich zu sehen war, weil dort das Wetter immer klar war, indessen es hier viel geregnet hat. Mir geht es in der letzten Zeit wieder weniger gut, auch Isolde fühlt sich gar nicht wohl. Ich fürchte, daß das Wetter in Stgt. schlecht gewesen sein wird und Dir Dein altes Leiden wieder zu schaffen machte. Der Winter ist für alte Leute ein widerlicher Geselle. Du wirst wohl gelesen haben, daß der ®Halleyische Komet¬, dessen Schweif noch an unsere Atmosphäre stossen soll, gesellige Stürme im Gefolge haben wird.- Weißt Du nicht, wie es Maja Flattich geht? Ich habe ihr von hier aus einmal geschrieben. Hoffentlich behalten wir endlich hier schönes Wetter. Es gelüstet mich gar zu sehr auch noch einmal in die Umgebung von Florenz zu kommen, wenn auch nicht zu Fuß, so doch zu Wagem.

Ich sehne mich sehr gute Nachricht von Dir zu erhalten, möchte wissen was Du treibst und womit sich Deine Gedanken beschäftigen.
Lebe wohl, liebes Herz, und sei innigst gerüßt von
Deiner Marie

Karte ®3.3.1910¬

aus Florenz 497
(ohne Anrede) (Edgar 6 J.tot, Alfred 5 J.,Balde 28 J.tot)
Wie schrecklich ist es mir, meine Liebe, daß Du inmitten so grauenhafter Ereignisse bist. Da hättest Du Dir nicht die Mühe mit den Zeitungen geben sollen für die Dir Isolde tausendmal danken läßt, es war das Stuttgarter Tagblatt das Rechte.- Wäre doch die arme Frau gleich todt gewesen, aber so zerstümmelt noch leben müssen ist schrecklich! Ich hoffe. daß sie es bald überstanden haben wird. Wenn nur da die deutschen Ärzte so barmherzig wären wie hier und sie fort und fort betäubt hätten! Wie hatte mein Edgar einem Ster- benden den Tod leicht gemacht durch fortwährende Morphiuminjek- tionen, seine nächsten Collegen thun es jetzt auch. Die Kranke ... wird nun auch gestorben sein? Heute den 2. März ist der Todestag meines Alfreds, der 7. Februar der von Balde, am 27. April kommt dann der von Edgar. Diese Tage liegen immer besonders schwer auf mir.- Es waren im Februar wunderbar warme Tage, jetzt ists viel kühler geworden, sodaß man nicht ins Freie kann. Hast Du gelesen, daß auch ®ein dritter Komet¬ an der Sternwarte von Genf entdeckt wurde? ®Drei Kometen in einem Jahr¬, das ist ganz unerhört. Es geht mir ordentlich, wie es eben einer alten Frau gehen kann, wenn die Jahre so zunehmen. Wenn Du mir von Zeit zu Zeit eine Karte schreibst, so machst Du mir ein großes Vergnügen. Hoffentlich geht es Dir gesundheitlich gut und Du hast Dich jetzt von dem Schrecken erholt. Alte Leute sollten nie allein ausgehen. Nochmals besten Dank. Wir grüßen Dich herzlich
Deine Marie

®o.D.Samstag¬ (wohl März 1910)

aus Florenz 499
Liebes Waldfegerlein!
Nicht nur einem ®Kometen¬, sondern zwei bekommen wir zu sehen. Der jetzt sichtbare ist seit letzten Sonntag gut erkennbar am Himmel, ist der in Transval von einem Amerikaner entdeckte, von dessen ebenfalls rießigem Schweif nicht so viel Schlimmes gesagt wird, als vom ®Halleyischen¬. Gesehen habe ich ihn leider nicht von meinem Bett aus, aber Gausbezahmer (?) kann ich vom Bett aus erblicken. Dieser Komet hat sein drohendes Vorzeichen gehabt. In Turin hat er winterliche Witterung gebracht, zwei Grad unter Null, den andern Tag waren es 17 Grad über Null, leider unklar, aber auch in verschiedenen Städten scheint im Innern der Erde der unterirdische Seismos dem strafenden Reisegott da oben eine Option bringen zu wollen. Den ®Holbergschen¬ Kometen soll man nach einigen Journalen am 1. April, den andern erst am 18. Mai zu sehen bekommen. Auch hier gibts die verschiedensten Prophezeihungen über die Schädlich- keit seines Schweifes, da er aber schon oft der Erde einen Besuch abgestattet hat und nirgends ähnliches verzeichnet ist, so wird er sicherlich ohne Schaden zuzufügen seine Reise in das Weltall fortsetzen, um nach 74 Jahren abermals der Erde einen Blick zu gönnen. Ich freue mich unsäglich, die Pracht eines solchen Anblicks zu bekommen, bevor ich die Erde verlasse und mich ins All ergieße: Wenn es den Menschen vergönnt wäre mit Geisteraugen diese Wunder des Weltalls schauen zu können, dann wäre ein 2tes Leben nicht erfreulich. Aber wie wenige sind es nur, die ein Interesse dafür haben, die überhaupt eine Weiterentwicklung anstreben möchten. Was thäte die Masse unseres feurigen ... mit einem Folgeleben im Sinn führende Entwicklung, deßhalb nahm Göthe auch die Unsterblichkeit nur für sich angelegter Geister an. Da aber eine solche Geistesaristokratie gegen die Gerechtigkeit verstößt, habe ich mich mit dem Aufhören unseres Seins versöhnt, sollte es anders sein, so ists mir auch recht. Ich bleib nur immer dem Geist der Natur vereint. Spicht mir jemand mit Gewissheit von einer Jenseitsseligkeit, so setze ich mich auf den Standpunkt. Als reiner Naturalist sage ich mir aber ein solches: "Es ist nichts vorhanden außer der Materie" so sage ich:" Nix Gewisses weiß man nicht." Könnt ich sagen bald werde ich es wissen, aber ich werde eben nichts wissen. Aber Du mußt nicht meinen, daß mich diese Gedanken beunruhigen, ich habe sie mein ganzes Leben lang gedacht und durchgedacht, habe bei den Meinigen allen den Tod als Sirius erscheinen sehen, und das ist die Hauptsache. Ich habe nur einen namenlosen Schmerz beim Scheiden und das ist, daß ich ®Isolde¬, die nun trotz ihrer fortwährenden Aufgaben noch mit inniger Liebe an mir hängt, daß ich ihr einen unendlichen Jammer damit bereiten muß. Sie braucht mich, weil ich mit ihr in ihren Arbeiten lebe, weil unsere Gedanken fortwährend ineinanderleben. Ach könnte ich Dir nur 10 Jahre Deines Lebens aufrichten, das wär mir ein großer Trost. Sie hat jedesmal eine große Freude an Deinen Briefen, Du könntest ihr an meiner Statt viel sein, spächest ihr von ihren Eltern und sie fühlte sich nicht so ganz allein wie es jetzt der Fall sein wird. Du bist ja 5 Jahre jünger als ich. Das macht schon etwas aus, der Gedanke tröstet mich, auch wenn ich gehen muß. Mir eilts absolut nicht wie Deiner Freun- din Amalie. Selbst hinfällig und alt bleiben der Freuden noch viele, solange die Augen den Dienst thun, vor allen Dingen das Lesen. Ich habe nun den 2. Theil des Faust gewiß zum 100ten mal durchgelesen und diesmal mit Erläuterungen von Erich Schmidt (Anm.) der mir aber nicht viel geben kann, da ich mir zuvor schon so viel ausgesucht hatte. Das Zwischenspiel "Helene" ist mir immmer wieder ein unendlicher Genuß. Jetzt weiß ich, daß es schon zu Göthes Lebzeiten ins Italienische überstzt war. - Das Leben hier in Italien ist sehr rührig geworden. Es existiert hier nur Univer- sita populare für die unteren Klassen, an der die Professoren der rechten Universität alle Vorlesungen halten. Sie ist äußerst be- sucht, und so wird die Kultur nach und nach in diese unteren Schichten sich verbreiten. Es gibt hier sehr viele weibliche Professoren und Doktors, und auch die weibliche Kindheit strömt in die Gymnasien. - Es freut mich von der Bille ®Tafel¬, daß sie so bemüht ist ethischen Geschmack zu verbreiten. Sie wird selbst dadurch sehr angeregt bleiben. Grüße sie herzlich von mir. Ich denke noch immer ihres Großvaters, Vaters und Bruders in herzlicher Liebe. - Wie viele Gedichte hat mir der alte ®Mayer¬ gemacht. Ich habe alle noch. Die Erinnerung ist in alten Tagen auch eine erfrischende Beschäftigung, die einem Strahl der Jugend wiedergibt. - Es gibt mir immer einen Stich ins Herz, als ich in Deinem Brief las, es werde Dir in Deinen letzten Erdentagen nicht so gut gehen wie mir, dasselbe sagt mir auch Isolde so oft, wenn sie von ihrer verwaisten Zukunft spricht. Ich hoffe, daß es nicht so sein wird. Wo ist denn Fräulein oder Frau Doktor, die Dich einmal in einer Krankheit so gut gepflegt hat? Hoffentlich ist sie Dir nicht in unerreichbarer Ferne?
501
Ich vergaß Dich zu fragen, ob ich Dir das letzte mal eine Photographie von mir geliehen hätte? Ich weiß es nimmer. Wenn Du mir aber sagst es war so, so fällt es mir vielleicht ein. Im Besitz einer solchen bin ich übrigens nicht. Dagegen habe ich eine von Dir, der Du heute noch ganz ähnlich bist. Du hast eine Pelzjacke an, ein Geschenk Deines Julius. Du bist Dir in Deinen alten Tagen sehr ähnlich Deinem Jugendbilde geblieben.-

Es geht mir ordentlich. Schmerzen habe ich nicht, schlafe gut, habe Apetitt, aber die Gedärme sind erlahmt, so daß sie nur durch Zwangsmittel ihre Pflicht thun und meine arme Isolde, der solche Dinge immer so fremd waren, hat nun die unangenehme, vom Arzt auferlegte Pflicht jeden Morgen mir zwei Klystiere zu geben und damit geht der ganze Morgen herum, denn sie muß länger bleiben bis es wirkt. Ein langer Schlauch muß in den Leib getrieben werden und dies zweimal nacheinander. Der arme Schelm muß auch selbst die Petroleumöfchen putzen und stutzen, denn unsere Pensionsgebäude haben keine Bedienung. Da kannst Du Dir denken, wie es mit der literarischen Beschäftigung aussieht.-

Die Preise sind seit dem letzten Erdbeben vom vorigen Jahr mächtig gestiegen, und wir konnten keine von den theuren Pensionen nehmen. Unser Leben ist aber nicht trübselig. Vier theure Menschen sind immer um mich beschäftigt, mein Kind, mein lieber Doktor und die beiden Davidsohn, der Professor und seine Frau. Der Arzt kam an- fangs vier mal des Tages und blieb stundenlang des Abends bei uns; jetzt kommt er nur einmal, Frau Davidsohn kommt täglich eine Stun- de, dann noch viele andere, mittags Patienten von Edgar in treuer Anhänglichkeit an ihren einstigen Arzt. Alle sind bemüht Isolde zu erheitern und etwas abzulenken von ihren täglichen Opferungen wenn es mir gerade gut geht.

In vielen Städten Italiens lassen sich Erdstöße vernehmen und es wird noch nicht ganz ruhig. Wenn die Nacht kommt wissen wir nicht, ob wir ruhig im Bett bleiben können oder nicht vom Seismos herausgeworfen werden, aber man gewöhnt sich an alles und hofft das Beste. Was später aus uns wird, im Fall ich noch länger lebe, weiß ich nicht. Nach ®München¬ können wir schwerlich mehr reisen, nach ®Forte¬ können wir nicht, wenn Vanzetti nicht mit kann, und so läßt man eben die Zukunft an sich herantreten und wartet, was sie sagt. Ist das denn Gicht, was Du hast? Da gibt es ja doch viele Mittel, kein Fleisch essen. Isolde hat sie auch. Leb wohl mein Herz und bleibe uns gut. Es umarmt Dich das Überbleibsel,
Deine Marie
Darf ich Dich bitten beiliegendes Brieflein an Luise zu besorgen. (Anm.: 1853 - 1913, Literaturhistoriker, Dir. des Goethearchivs in Weimar und Professor in Berlin ab 1887, 1915 die 8. Auflage. Beide Teile des Faust veröffentlichte ®Schmidt¬ textkritisch in Bd.14/15 der Weimarischen Goethe - Ausgabe (1887/88) und mit Erläuterungen in Band 13 und 14 der Cottaschen Jubiläumsausgabe 1903 - 1906)

Karte vom ®30.3.10¬

von Florenz nach Stgt. 503
Ohne Anrede
Viel habe ich inzwischen an Dich gedacht und mit Dir gefühlt über das grausame erregende Ereigniß. So lange mußte dieses arme Wesen leiden, wo bleibt da die Allbarmherzigkeit?

Seit vielen Wochen scheint hier ununterbrochen die Sonne und alles blüht und duftet. Gestern sind sogar die ®fliegenden Menschen¬ in der Luft erschienen. Aber Frühling ist es noch mehr in mir geworden, als mein lieber guter Erwin seine kurze Frühlingsvakanz benützend zu mir geeilt kam und fand statt einer Kranken zwei. Isolde hat die lange Pflege krank gemacht und sie leidet an einer Nervenüberreizung, die mich an die Zustände ihres Vaters erinnert. Sie ist in ®Fiesole,¬ einem nahegelegenen Bergstädtchen, um in der Einsamkeit auszuruhen. Erwin ist inzwischen bei mir, heute ist er zu ihr, denn übermorgen muß er schon abreisen, dann kommt wohl eine eine Wärterin zu mir, wenn Isolde droben zu halten ist. Alfreds Tochter ®Jole¬ hat auch nach mir gesehen, auch ®Maja¬ ist hier, d.h.in ®Forte¬, aber ich bin nur noch ein Schatten. Das ist das hohe Alter, keine Krankheit. Da es mir jetzt wieder ordentlich geht, kann ich auch einige Stunden auf die sonnige Piazza gehen. Ich kümmere mich nicht um meinen Zustand, aber um den von Isolde. Was aus uns in nächster Zeit wird, weiß ich nicht.

Rapple Dich auf und nimm den Reisestock und folge dem Ruf der al- ten Maja, bestell ihr meine Grüße und schau Dir die Welt wieder an solang sie im Frühlingsschmuck dasteht. Auch Jole war hier ist ist aber schon wieder fort.
Ich grüße Dich tausendmal, liebes Waldfegerlein, halte mich auch lieb.
Deine alte Marie Kurz

Karte ®o.D.¬

aus Florenz 504
(ohne Anrede)
Die ®lange Reise¬ ist gewagt worden. Es geht mir ganz ordentlich, folglich werde ich sie überstehen. Vor dem 20. möchte ich nicht gehen, denn ich will das Erscheinen des ®Kometen¬ hier noch sehen können. E.B(echer) hat von Frankfurt aus an Isolde geschrieben, herzlich liebevoll. Über das sonderbare Schweigen sagt sie, es sei besser es nicht erklären zu wollen, es muß also in ihrem Befinden gelegen haben. ®Isolde¬ muß zur Erholung ihrer sehr angegriffenen Gesundheit irgend wohin in die Höhe, aber wohin, das wissen wir noch nicht, und ich denke mit Schrecken daran. Luises Bruder ®Felix¬ hat mich auch hier besucht, überhaupt eine ganze Karawane von Verwandten kam, dies alte Überbleibsel noch einmal zu sehen. Ich würde ja ganz gern noch leben, hätte ich nicht das Bewußtsein andern zur Last zu fallen, denn Tilla ist fast immer auch krank und doch kann ichs nicht hindern.

Jetzt laß mich wissen wie es Dir geht und nehme die herzlichsten Grüße von uns beiden
Deine M.K.

Karte v. ®1. 4. o.J.¬

Liebes Waldfegerlein!
Isolde, die wieder aus ihrer Hitze zurückgekehrt ist, kommt wieder mit einer Bitte an Dich. Sie ist so sehr in Sorge um ®Emmi Becher¬, der sie schon drei Karten oder Briefe geschickt hat und keine Antwort, um die sie dringend gebeten, erhalten hat. Wenn Du wohl genug bist und ausgehen kannst, würdest Du so gut sein in ihrer Wohnung nachzufragen. Um diese Zeit ist sie noch nicht in ®Buoch.¬ Gestern hat mich mein lieber Erwin wieder verlassen, denn seine Vakanz ist zu Ende. Du wirst jedenfalls noch nicht nach Wien abgereist sein und noch bessere Witterung abwarten. Die letzten Tage des März waren auch hier nicht lieblich, fortwährend starke Winde und auch ®heute am 1. April¬ toben sie mit Heftigkeit. Der April ist sonst der ital. Wonnemonat, wo die Rosen in voller Pracht stehen und die Leuchtkäferchen die Nächte wie fliegende Sternchen erleuchten. Die Natur ist stiefmüttelich geworden.

Isolde ist gar nicht wohl und macht mir große Sorge. Das ist kein Heilmittel für meinen Zustand.
Es küßt und grüßt Dich herzlich
Dein altes Sorgenweiblein

®8.4.1910¬

Karte aus Florenz 505
Liebes Waldfegerlein!
Wenn man das hätte ahnen könnnen, daß das Stillschweigen auf dreimaligen Anruf nur Schreibfaulheit war, dann hätte Isolde Dich bestimmt nicht mit der Bitte gequält. Sie läßt Dir auch noch tausendmal danken. Ihre Nerven haben sich noch nicht beruhigt, obgleich es etwas besser geht. Da sie aber lauter schlaflose Nächte hat, so kann man vorderhand an keine Besserung denken. Leider ist das Wetter auch nicht so, daß sie große Touren machen könnte, um durch Ermüdung in den Schlaf zu kommen. Es ist der kälteste Monat den wir hatten: Gewitter, Wind, Schlossen, während der November, Dezember, Januar und Februar warme Sommermonate waren. Sicher ist der vermaledeite ®Komet¬ daran schuld, oder die ®fünf¬ Kometen die unserer Erde einen Besuch machen.

Habe ich Dir geschrieben, daß ®Erwin¬ 10 Tage bei mir war, solange seine Vakanz dauerte, auch ®Jole¬ war da, die immer ganz toll ver- narrt in Florenz ist, auch Erwin hats die Blumenstadt angethan; er wäre am liebsten hier geblieben. Was aus uns wird wissen wir noch nicht.

So sehr sich ®Isolde¬ auch nach ihrem Häuschen in Forte sehnt, so will sie doch nicht dorthin, weil kein Arzt erreichbar ist und ihre einzige Sorge nur ich bin. Ich ginge gleich hin, denn ich kann auch ohne ärztliche Hilfe sterben wenn die zündende Kerze endlich meinen Lebensfaden abschneiden will.

Die Reise nach ®München¬ steht dagegen wie ein Grauen vor mir, weil ich weiß, in welcher Angst sie Isolde unternimmt, und hier bleiben können wir auch nicht wenn es so sehr heiß wird, das können ihre kranken Nerven nicht aushalten, auch ist es furchtbar theuer hier geworden. So leben wir einem unbekannten Ziel entgegen. Wenn nur Isolde endlich wieder wohl und heiter wäre! Sie sollte den Sommer an einen nervenstärkenden Ort, aber wohin, das weiß kein Mensch. In München hat sie keine Ruhe und ganz ohne Menschen kann sie auch nicht sein. Ich lese den ganzen Tag, um meine Gedanken auf einen anderen Punkt zu richten. Wenn Du doch noch nach Wien reisen solltest, so schreibe mir vorher noch einmal. Ich thäte es an Deiner Stelle. Hoffentlich findet sich eine Reisegesellschaft. Ein Wechsel des Aufenthaltes verjüngt. Wie gelüstet es mich hinaus und doch muß ich immer zuhause sitzen, wegen des Wetters, das so tückisch ist.

Lebe wohl Liebste, Beste und behalte mich lieb
Deine Marie
Karte ®19.5.10¬ von Florenz nach Stgt. (betr. Komet) 506 Mein liebes leider nicht Reisefegerlein. Wie michs freut, daß Du nochmals Dein Pflegekind bei Dir hattest, das kann ich Dir gar nicht genug sagen. Der ersetzt Dir doch einen eigenen Sohn! Ich begreifs, daß Du nicht allein reisen willst, auch ich könnte es nicht. Es ist nicht ganz so wie ®Felix¬ meinen Zustand schildert, aber weil ich noch so weit lebhaft bin, bemerken die Leute nicht mein leichenhaftes Aussehen, auch bin ich schrecklich traurig mein geliebtes Florenz verlassen zu müssen und klammere mich noch an jeden Tag Verlängerung. Auch Isolde geht es nicht beser, aber die Angst mit mir allein in ®Forte¬ zu sein, kann sie nicht überwinden, und so sei`s denn halt in dreiteufels Namen. ®Den Kometen¬ aber, den sie schon lang in Rom sehen, muß ich hier noch sehen. An den 58iger erinnere ich mich noch recht gut, da der keine Kalamitäten brachte wird auch dieser das Gift seiner nuclei (ich weiß nicht was es auf deutsch heißt) bei sich behalten. Seit Wochen thue ich nichts als über den ®Kometen¬ lesen. Es sind aber immer so viele mathemathische Besprechungen dabei, daß ich nicht viel davon habe. Zu den Vorlesungen über ihn kann ich nicht, dazu bin ich zu miserabel. Ja wenn man etwas Gutes für ®Isolde¬ fände, sie hats in hohem Grade nöthig, aber sie müßte auch Bekannte dort finden, sonst wird sie zu traurig.- Also heute Abend soll der ®Zusammenstoß mit dem Kometen¬ stattfinden. Wahrscheinlich bleibt alles in gewohnter Ordnung und der leuchtende Wanderer tritt wieder seine 74jährige Reise an. Wenns schlimm kommen sollte, so finden wir uns vielleicht alle zusammen im All. Das wäre auch nicht so schlimm, wenn wir bei Bewußtsein bleiben, die Lust des Wunderdings beschauen! - Mit Deiner Gicht scheint es gut zu gehen, da Du nicht nach Wildbad gehst. Von München, wenn ich hingelangen sollte, schreibe ich dann ausführlich. Es ist sehr heiß hier. Herrlich duften die Orangen- und Zitronenblüthen. Oh dieses Italien ist ein Götterland. Deine Marie

Karte ®19.5.10¬

von Florenz nach Stgt. (betr. Komet) 506
Mein liebes leider nicht Reisefegerlein. Wie michs freut, daß Du nochmals Dein Pflegekind bei Dir hattest, das kann ich Dir gar nicht genug sagen. Der ersetzt Dir doch einen eigenen Sohn! Ich begreifs, daß Du nicht allein reisen willst, auch ich könnte es nicht. Es ist nicht ganz so wie ®Felix¬ meinen Zustand schildert, aber weil ich noch so weit lebhaft bin, bemerken die Leute nicht mein leichenhaftes Aussehen, auch bin ich schrecklich traurig mein geliebtes Florenz verlassen zu müssen und klammere mich noch an jeden Tag Verlängerung.

Auch Isolde geht es nicht beser, aber die Angst mit mir allein in ®Forte¬ zu sein, kann sie nicht überwinden, und so sei`s denn halt in dreiteufels Namen.

®Den Kometen¬ aber, den sie schon lang in Rom sehen, muß ich hier noch sehen. An den 58iger erinnere ich mich noch recht gut, da der keine Kalamitäten brachte wird auch dieser das Gift seiner nuclei (ich weiß nicht was es auf deutsch heißt) bei sich behalten. Seit Wochen thue ich nichts als über den ®Kometen¬ lesen. Es sind aber immer so viele mathemathische Besprechungen dabei, daß ich nicht viel davon habe. Zu den Vorlesungen über ihn kann ich nicht, dazu bin ich zu miserabel.

Ja wenn man etwas Gutes für ®Isolde¬ fände, sie hats in hohem Grade nöthig, aber sie müßte auch Bekannte dort finden, sonst wird sie zu traurig.-

Also heute Abend soll der ®Zusammenstoß mit dem Kometen¬ stattfinden. Wahrscheinlich bleibt alles in gewohnter Ordnung und der leuchtende Wanderer tritt wieder seine 74jährige Reise an. Wenns schlimm kommen sollte, so finden wir uns vielleicht alle zusammen im All. Das wäre auch nicht so schlimm, wenn wir bei Bewußtsein bleiben, die Lust des Wunderdings beschauen! -

Mit Deiner Gicht scheint es gut zu gehen, da Du nicht nach Wildbad gehst. Von München, wenn ich hingelangen sollte, schreibe ich dann ausführlich. Es ist sehr heiß hier. Herrlich duften die Orangen- und Zitronenblüthen. Oh dieses Italien ist ein Götterland. Deine Marie ®Karte vom 11.6.1910¬ aus München 507 Mein theures Waldfegerlein! Spät komme ich dazu Dir Kunde von meiner Ankunft zu geben. Ich habe die Reise sehr gut überstanden. Die erste der uns einige Tage drauf entgegen trat war ®Emmy Becher.¬ Sie lud ®Isolde¬ zu sich nach ®Buoch.¬ Die Einladung nahm Isolde ja nicht an, aber es kam ihr der Ent- schluß auf einige Zeit ins Wirthshaus dort oben zu ziehen und die Wälder zu durchstreifen, wie es ihr Vater früher mit dem Försters- töchterlein durchzogen. Ich hoffe, daß der dortige Aufenthalt Ruhe in ihre erregten Nerven bringen wird. Es ist nöthig, daß sie ihrem Angstgegenstand etwas entrückt wird. Und so weh mir die Entfernung thut, so bin ich doch zufrieden sie dort zu wissen, wo jeder Baum noch sie an ihren Vater erinnert. Doch bevor sie hingeht soll sie mit Prof.R.Weltey nach Weimar zu der dortigen .... sein, da es von Nutzen für sie sein werde. Sie wird etwa 4 bis 5 Tage dort bleiben und dann nach Buoch kommen. Diese Reisen aber machen mir Sorge, aber ich muß mich eben drein fügen.- Hier ist jeden Tag ein Gewitter, wohl die Auswirkung des ®Kometen¬, den ich immer vergebens zu sehen bemüht war. Jetzt soll er zwei Kreise (?) haben wie in Barcelona entdeckt wurde. Du wirst ihn wohl auch nicht gesehen haben? Tillas Befinden ist nur zeitweise gebessert, dann treten die Schmerzen wieder auf. Sie muß ins Bad nach Murnau, bis wann steht noch nicht fest. Wahrscheinlich muß ich mit, weil sie schließen will. Erwin muß dann im Wirthshaus essen! Laß von Dir hören, wie es Dir geht. In treuer Liebe Deine Marie
508

Karte vom ®28.6.1910¬

(an M.C. bei Marie von Flattich geborene Tafel, Wien - Oberdöbel.)
Liebes Waldfegerlein!
Wenn einmal die Reise nach Murnau bestimmt ist werde ich es Dir melden. Vorderhand sind Erwin und Tilla auf zwei Tage nach Tirol gegangen. Sie sollen heute abend zurückkehren. Isolde reist morgen nach ®Buoch¬ ab, schlief die zwei Nächte, wo ich allein gewesen bei mir. Die Reise nach ®Weimar¬ und der dortige Aufenthalt haben ihr gut gethan und sie erfrischt. Sie war ganz entzückt von allem was sie sah, von den alten Heiligthümern und Göthes Geist, den man über allem ausgegossen fühlte. Auch war des Wetter klar und schön, sodaß das Singspiel an den Ufern der Ilm aufgeführt werden konnte, während es hier fortwährend regnete. Wenn ®Isolde¬ nur in Buoch besseres Wetter trifft als hier, damit sie die Waldeinsamkeit zur Stärkung ihrer immer noch leidenden Nerven benützen kann. Ich weiß wie nothwendig sie es hat, um von der Sorge um mich nicht immer aufgenagt zu werden, mir thut aber diese Trennung schrecklich weh. Ich habe so wenig an meinem lieben guten ®Erwin¬, der immer in der Akademie steckt. Mein armer Sohn hat in den letzten Tagen einen lieben ja einzigen Freund verloren, den Maler Prof. Rudolph ®Seitz¬, was ihm sehr nachging.- Jedes Jahr reist einem ein Stück von seinem Leben ab.- Ob diese Karte wohl ankommen wird, da Du mir als Adresse bloß Oberdöbel angegeben hast und es früher Prinz-Eugen-Str. hieß? Mir gehts ordentlich. Mein einziges Leiden sind jetzt nur noch meine ®84 Jahre.¬ Grüße alle, vor allem meine alte Maja. Was sind wir doch nun für ein altes Völkchen, doch wir zwei bleiben ewig verbunden.
In treuer Liebe,
Deine Marie

®Karte 1. 8. 1910¬

nach ®Wien¬ Prinz-Eugen-Str.15 bei M.von Flattich 509
Liebstes Reisefegerlein!
Sonntag
Es freut mich von ganzem Herzen, daß Du so schöne Zeit erlebt hast, in Jugenderinnerungen geschwärmt und doch auch die Gegenwart ge- nossen. Und jetzt willst Du sogar wieder Italien zu. Mich willst Du auf Deiner Heimreise sicher auch wieder treffen.- Tilla ist die ganze Zeit recht krank gewesen. Ihre Nerven sind furchtbar erschüt- tert. Sie soll jetzt ganz in Ruhe, ohne Haushaltung leben, aber am Dienstag reist sie mit Erwin nach Tirol in die Nähe von Bertesgaden, wo auch ihr Bruder hinkommt, mit dem Erwin Touren machen kann, was er sehr bedarf. Ich bleibe hier im Haus und Isolde, die seit 8 Tagen ®von Buoch zurück¬ ist, bleibt vorderhand auch. Sie muß später aber auch noch ins Hochgebirge, denn ihre Nerven sind noch immer leidend. Wohin ist noch unbestimmt. ®Irene¬ kann nicht hier- her kommen, denn sie steht vor einem Ortswechsel. Sie ziehen nach Mainz, worüber sie sehr erfreut ist, denn Darmstadt ist sehr lang- weilig. -

Es geht mir sehr ordentlich, und wenn es so bleibt, so kehren wir im Herbst wieder nach ®Forte¬ zurück. Ich freue mich sehr, Dich noch einmal wiederzusehen, dann kannst Du mir erzählen von den beiden Majas. Es freut mich sehr, daß meine alte Maja ein so schönes glückliches Alter hat. Grüße sie sehr herzlich von mir. Ich freu mich auch über den Genzianengruß.

Wir hatten fast immer schlechtes Wetter und einmal sogar ein Erdbeben. Seit zwei Tagen ist es auch schön geworden.
Wie gehts mit Deinen Gichtschmerzen?
Es umarmt Dich innigst
Deine Marie

Karte ®23. 8. 1910¬

510
Mein liebes Waldfegerlein!
Dank für Deine Karte. Es war mir eine große Freude, Dich noch einmal gesehen zu haben. Körperlich habe ich mich von diesem letzten Anfall schneller wieder erholt. Es geht aber jedesmal wieder ein Stückchen abwärts und das Gedächtniß wird immer erbärmlicher. Es ist jetzt auch mein Wunsch immer größer bald aus der Welt zu gehen, weil ich fühle, wie ich noch bin. Um mit Anstand so alt zu werden gehört Geld und ein eigenes Haus dazu.

Bei Isolde ists auch immer schlimmer und schwächer geworden. Sie ist nun endlich gestern allein nach Meran abgereist, von dort auf den Eggerhof, wo Prof. Wellerich (?) sie erwartet, um Paßtouren mit ihr zu machen. Von dort wollte sie mit Prof. Vanzetti zusammentreffen, da aber die Malaria in Italien ausgebrochen ist, weiß man nicht, ob er kommen kann. Erwin hätte mich dann zu ihnen gebracht und wir wären wieder nach Forte, jetzt ist aber alles unbestimmt. Die Tiroler Reise hat Erwin und Tilla wohl gethan; sie sind aber mir zulieb früher zurückgekehrt, und so steht ein altes Wesen überall den Jüngeren im Weg. Könnte ich doch noch einmal nach Forte. Italien ist eben doch meine wahre Heimat, und dort möchte ich sterben, aber erleben möcht ichs noch, daß meine arme Isolde wieder gesund und arbeitsfähig wird. Sterbe ich bald, dann, mein liebes Herz, schreibe ihr oft, sie hat Dich lieb und Du bist ihr von großem Werth. Es ist mir eine Freude, daß Du mir in meinen uralten Tagen geblieben bist.
Es umarmt Dich herzlichst
Deine Marie Kurz

Karte, ®27. 10 1910¬

aus Forte 512
ohne Anrede
Das letzte mal sahst Du mich tief im Bett. Du würdest Dich wundern, wie ich hier herum wandle mit rothen Backen. Vanzetti gestand mir, daß er eine solche Wiederherstellung nicht erwartet hätte. Du fragst warum er hier nicht bleiben könne. Er hat aber seine ganze Praxis in Florenz. Diesen Herbst vernachlässigte er aber seine Klassenkameraden in San Martino die Cort., so ist Isolde zur Alpinistin geworden und kam sehr gestärkt hierher. Die fünf Wochen mit meinem Erwin war eine Götterlabung! Wie ein Afrikaner gebräunt ist er zurückgekehrt. Thole ist von seiner Afrikareise zurück, ganz entzückt von Tanger, behauptet, in einem Haren gewesen zu sein, ob er schwindelt, weiß ich nicht. Dieses Sonnenland ist göttlich aber schrecklichst heimgesucht von den ®Naturgewalten.¬ Das schöne Iskia fast ganz zerstört. Dieses Jahr kosten die Reperaturen an die 10 000 Lire, das ist eine harte Nuß.- Isolde ist so vergnügt über ihre wiedergefundene Gesundheit und sagte schon hundert mal: "Oh Königin, das Leben ist so schön." Ich lebe gern und beklage nur mein hohes Alter.
Bleib auch Du so lebensfreudig. Mit Gruß und Kuß
Deine Marie

Karte, ®30. 11. 1910¬

aus München
ohne Anrede
Schon 12 Tage sind wir hier meine Liebe. Der Tod meines armen Neffen ®Felix¬ und der Schmerz der einsamen Luise...Inzwischen hat auch Tilla ihren Bruder verloren. Den ganzen Monat dachte ich, daß irgendwann Dein Geburtstag war, an das Datum kann ich mich aber nicht mehr erinnern. Du schriebst mir das letzte mal, daß Du Dich an "St.Urbans Krug" nicht mehr erinnern könntest, dieses Kapitel stand schon in Heyses Ausgabe, in Heyses Werken, aber unser alterndes Gedächtniß hat ein Loch...

Karte, ®27. 12. 1910¬

aus München
Dein Neffe ®Rudolph¬ ist inzwischen bei Erwin auf der Akademie und hat ihm noch gedruckte und schriftliche Arbeiten von Hermann gebracht, die einst im Besitze seines Vaters waren, was uns alle sehr erfreut hat.- An Isoldes Geburtstag kam ein Schächtelchen mit einem großen Lebkuchenherzen, worauf Isolde in Zucker geschrieben war an, ohne Unterschrift, aber die Adresse hatte eine merkwürdige Ähnlichkeit mit Deiner Hand, wie mag das kommen?

Ich wohne seit ein paar Tagen bei Isolde, weil Erwin mit seiner Frau nach Mainz zu Irene sind, wo sie bis zum 8. Januar bleiben. Ich gebe mich noch der Hoffnung hin, daß meine Furcht, Du seist unwohl unwohl, unbegründet ist.
Deine Marie

®18. Februar 1911¬

517
Mein liebes Waldfegerlein!
Wie bin ich froh, daß Du nicht krank bist und die Gewohnheit des Lebens ruhig genießest. Ich habe Dir diese Zeit her nicht geschrieben, nicht ®deßhalb¬, weil Du mir einen Brief schuldig bist- es fällt mir nie ein mit meinen Lieben abzurechnen - sondern weil wir beide, Isolde und ich von einer Influenza ergriffen waren und zudem eine neue doppelte Einquartierung ins Haus fiel. Tilla hat aus Mainz Irene mitgebracht, die in einem sehr elenden Zustand ist, acht Tage darauf folgte ihr Mann nach, ließ sich auch bei den Schwiegereltern nieder und will die neue Anstellung in Dresden abwarten. Du kannst Dir denken, wie sehr ich mich zuviel im Haus fühle, und ich kann es nicht ändern. Zu Isolde kann ich nicht, ihr Bett ist zusammengebrochen und ich kann bei ihr nicht unterkommen. Hätte ich das nöthige Geld ginge ich in ein Sanatorium, aber ich habs nicht und auch Isolde hats nicht, die ewig von ihrem Arbeiten unterbrochen wird und da ists kein Wunder, wenn man sich zuviel fühlt in der Welt.

Tilla ist immer leidender und zum Nutzen kann ich ihr auch nicht sein. Erwin schafft sich halb todt und ist auch nie ganz wohl. Im April werden wir nach Italien abreisen, aber vorher gehts nicht. Es ist ein großes Glück, wenn man im Alter hinreichend Mittel hat, und da begreif ichs wohl, daß einem das Alte, auch ohne Sonnenschein, eine recht unliebe Gewohnheit wird, aber nichts ist peinlicher als sich sagen zu müssen, Du bist andern eine Last, wenn sie es auch nicht zugestehen.- Isolde ist jetzt wenigstens wieder so weit, daß sie an angefangenen Arbeiten weiter machen kann. Das Wetter ist höchst ungesund, bald thauts, es weht ein warmer Wind, bald kommt schneidende Kälte. Die ganze Stadt ist voll Influenza. Das ®Lorle¬ hat mir drei Karten geschickt, sie blieben aber liegen, da alles krank war. Zudem gehe ich nie in ein Conzert, ich bin nicht musikalisch und finde mich auch unter Menschen nicht mehr zurecht. ®Maja¬ ist verheirathet, aber nicht nach meinem Geschmack. Ich begreife nicht, wie ein Mädchen einen Mann nehmen kann, dem sie sich überlegen fühlen muß. Ich glaube nicht einmal, daß sie ihn liebt. Das beste ist, daß sie ihren ®Musikerunterricht¬ beibehält, um im Fall der Noth eine Einnahme zu haben, denn ein Ereigniß kann über Nacht kommen. Sie hatte so viele und schöne Talente, aber mit des Vaters Tod sind auch sie dahingeschwunden. Denk ich ihrer so empfinde ich einen tiefen Schmerz. Es ist nicht alles wie es mich freuen kann.

Den Artikel von Dr.Ackermann will ich natürlich nicht wieder. Ich habe ihn zweimal erhalten. Er hat mich gefreut und ich begreife es sehr gut, welchen Genuß Dir die Lebenserinnerungen von Lazarus verschaffen. Ich möchte wohl wissen ob das der Prof.Lazarus ist, welcher der intimste Freund von Paul Heyse war?-

Ich weiß nicht, ob es Dir bekannt ist, daß das Mißgeschick meinen armen Mann auch jetzt noch verfolgt, nachdem die Welt angefangen hatte ihn zu verstehen. Da taucht in der Schweiz ein Pseudo-Hermann ®Kurz¬ auf, der miserables Zeug schmiert und es geschickt dazu gebracht hat, daß sein Schund untermischt mit den Werken des ächten Hermann Kurz bei den Sortimentern erscheint. Da der Kerl wirklich Hermann Kurz heißt, so ist es sehr schwer von ihm zu erreichen, daß er den Namen seiner Frau, wie das ja Sitte in der Schweiz ist, seinem beifügt. Das hatte gerade jetzt noch gefehlt, eine solche Verwirrung ins Publikum zu bringen. Die Gebildeten werden sich nicht irre machen lassen, aber wie viel gebildetes Publikum gibt es denn überhaupt!

®Kröners Tod¬ (Anm.) hat auch mir sehr leid gethan. Er war ein äußerst liebenswürdiger und bedeutender Mensch und uns sehr herzlich zugethan, nur hatte er keine Begabung als Verleger. Darin sind sich alle gleich. Millionen hat er hinterlassen, aber die Schriftsteller bezahlte er schlecht.

Ich lese den ganzen Tag unausgesetzt, um mir das was mich drückt fernzuhalten. Es ist sehr wahrscheinlich, daß ich doch zu Isolde hinüberziehe. Tilla will ein Bett hinüberschicken, weil der Raum hier für den Schwiegersohn zu klein ist.Ich bitte Dich deßhalb, wenn Du mir wieder schreibst, adressiere an Isolde und in ihre Wohnung.- Meine arme ®Luise¬ thut mir bitter leid, dieser ®Bruder¬ war ihr ein und alles. Lebe wohl und lebe so zufrieden fort. Ich denke Deiner in treuer Liebe bis mein letztes Stündlein schlägt.
Deine Marie
Anm.: ®Adolf Kröner¬, 1836 - 1911, Verlagsbuchhändler in Stgt. übernahm mit seinem Bruder die Cottasche Buchhdlg. in Stgt.,

®Posthumes.¬

Ich bin bei Dir, wenn ich auch längst vermodert,
Die Liebe, die so heiß in mir gelodert,
Sie konnte mit dem Tode nicht vergehn.
Nicht suche mich in fernen Himmelsräumen,
Ich komme nachts zu Dir in Deinen Träumen
Als Hauch der Liebe werd ich Dich umwehn.

Ich bin bei Dir, Du kannst mich immer halten,
Ich folge keinen höheren Gewalten
In Dir nur such ich die Unsterblichkeit.
Geliebtes Kind, verbanne Deine Klagen,
Denn das was sie von mir hinausgetragen
Das war ja längst schon ein verbrauchtes Kleid.
Marie K u r z
(Dieses letzte gedich fand Isolde nach dem Tode der Mutter 1911 mit den 7 Tagebüchern im Strandhaus in Forte dei marmi.)

Wenige Auszüge aus

Kurz Isolde Briefe an Caspart, Marie

zwischen 1911 und 11.12.1923
(aus München, Florenz und Forte) DLA: Nr. 53.1457

®Karte vom 28. Juni 1911¬

520
Karte an M.®Caspart Frauenheim Stuttgart, Bismarkstrasse 6¬
o.D.
Liebe Marie
Am 26. nachmittags ist das Mütterlein nach schweren Kämpfen von uns geschieden. Freitag vormittag findet in Ulm die Einäscherung statt
Deine Isolde
Theile es Du den Freunden mit, wir verschicken keine gedruckte Anzeige.
(Marie Caspart notiert: beantwortet)

®Karte aus Karlsbad vom 13.Juli 1911¬

nach Stuttgart
(nachgeschickt nach Heidelberg bei Frau Rath/Mündler - Allee 33)
Liebe Marie!
Aus deinen Briefen zu schließen musst du die Karte die ich Dir am 27. schrieb nicht erhalten haben.

Mama war drei Monate lang schwer krank; da sie aber fast nie den ganzen Tag zu Bette lag und auch sonst ihre ganze Spannkraft bewahrte, konnte man sich über ihre Kräfte täuschen. Wiederholte Besserungen ließen mir nahe Genesung und Reise nach Italien hoffen. Daß das lang Gefürchtete, endlich kaum mehr geglaubte, doch geschehen ist, kommt mir jetzt nach 14 Tagen erst ganz langsam zum Bewusstsein und ich zittere vor dem Augenblick wo es ganz von mir Besitz ergriffen haben wird. Die ersten, in tiefster Erschöpfung verbrachten Tage waren noch die erträglichsten. Wie sich jetzt einrichten? Die Erde ist ein fremder schauerlicher Ort geworden. Schreib mir, ob Du diese Karte erhalten hast. Ich bin noch bis zum 24. hier in Karlsbad, wohin mich meine treuen Freunde mitgenommen haben. Wenn ich den Mut finde so schreibe ich Dir wieder und mehr.
Deine Isolde.

®6.8.1911¬

Ostseebad Zingst bei Stralsund villa Ceestern 525
Liebe Marie!
Heut ist Mütterleins Geburtstag. Dies war sonst das grösste Fest im Jahr. Während der Nacht verwandelte ich das Haus in einen Festtempel mit Blumengirlanden, Ehrenpforten, geschmückten Altären. Sie hielt sich dabei mäuschenstill, that als schliefe sie und am Morgen, wenn sie früh herunterkam, war dann alles eitel Wonne. Sie freute sich über jede närrische Kleinigkeit die auf dem Geburtstagstisch aufgebaut war und hinterher passte sie auf, wochenlang durfte man ihren Geburtstag nicht wegnehnmen. Da kamen die befreundeten Nach- barn mit Blumen oder Kuchen um zu huldigen, die Hildebrandtsfamilie in großer Prozession, denn ®die "Nonna" war die Königin von Forte¬ dei Marmi.- Voriges Jahr verbrachten wir den Tag in der Ainmiller- strasse, wo ich nicht dekorieren konnte. Da blieb nichts übrig als ihr das ganze Fest mit Worten und Reimen aufzubauen - nun hättest Du sie sehen sollen wie sie beseligt mit leuchtenden Augen zu den hohen Pinienzweigen und wehenden Schilfrohren hinaufblickte, die nur in der Phantasie vorhanden waren! Sie fand dieses Fest sei noch schöner als die früheren je gewesen. Sie wußte sich ja so grenzen- los geliebt und hatte ein so reiches Leben, einen ungeschwächten immer umfassenderen Geist, ungeschwächte Sinne, und bei ihren hohen Jahren noch das seltene Glück interessanter bedeutender Männer- freundschaften. Sie mochte sich wohl einmal überdrüssig fühlen, wer hat nicht solche Augenblicke auch in jüngeren Jahren, aber dann schrieb sie sich von der Seele und als der Brief ankam, war es bei ihr vergessen. Im April, als sie schon recht krank war, sah ich einmal, ein einziges mal während der ganzen Krankheit als sie in ihrem Lehnstuhl saß, daß in einem Anfall großer Körperschwäche ihre Augen sich mit Thränen füllten, und sie gestand auf mein Drängen, daß sie ihren Zustand für gefährlich halte, und es sei ihr so schwer vom Glücke zu scheiden. Gleich darauf, als ich ihr eine Stärkung gebracht hatte wurde sie wieder ganz fröhlich. Denn das war eine ihrer schönsten Gaben: sie liebte innig das Leben, und war ganz ohne Furcht vor dem Tod. Von ihren letzten Tagen werde ich Dir einmal mündlich erzählen. Das war wie ein Märchen.- Sie hat schwer gelitten, aber ihre selige Kindernatur verwandelte auch die Todesnot in ein Spiel bis zum letzten Aufbäumen ihrer Kraft. Sie konnte nicht erlöschen wie andere. Völlig sie selbst, als ein unlösbares Ganzes ist sie dann plötzlich pfeilschnell weggeschwunden. Ich fühle wohl wie schwer gerade Dich ihr Scheiden getroffen hat. Sie war ja der letzte Zeuge Deines eigenen Lebens. Goethe sagt einmal, irgendwo sei das grosse Unglück des Alters, dass es eines der höchsten Menschenrechte einbüsse, von seiner eigenen Generation beurteilt zu werden. Auch wer in der Stille lebt und gar keiner Beurteilung unterwofen ist, wird doch empfinden, wie anders es vor seinesgleichen verstanden war. Und das ist hart. Mama hat auch hierin eine Ausnahme gemacht, weil sie den Wandel der Zeit nicht spürte, sondern immer mit den Jüngsten weiter lebte ohne recht zu merken wie völlig verschieden diese sind. Ihr standet ja neben uns schon wie ein halb sagenhaftes glücklicheres und stärkeres Menschengeschlecht. Der Unterschied zwischen uns und den Nachfolgenden ist noch viel grösser. - Aber ihre Liebe soll Dir doch nicht fehlen, so lange ich da bin und ihre Schätze verwalte! Ich weiss ja so viel von Dir, dass ich glauben konnte, ich sei schon damals dabei gewesen. Nur soviel Briefe werde ich Dir nicht schreiben können, dazu reicht meine Zeit nicht. Dafür möchte ich es so einrichten, dass wir uns im Spätherbst sehen.- Ich bin nach Zingst gekommen auf Erwins Wunsch der sich hier mit seiner Familie niedergelassen hatte. Heute aber sind sie nach Rügen weiter gereist, weil es ihnen hier nicht mehr gefiel. ich warte ab, ob sich auch für mich dort Unterkunft findet, und suche am Schreibtisch meine zerschmetterte Welt wieder aufzurichten. Ich hatte mich im Juni, gerade als es ihr besser zu gehen schien, einem Verleger verpflichtet und muss jetzt sehen, wie ich nachträglich mit der Arbeit zurecht komme. Wenn die Hitze nachlässt, muss ich nach Italien. Ob ichs dann über mich bringen kann, die kürzer werdenden Tage und die langen Abende allein in Forte zu sein weiss ich noch nicht. Aber hin muß ich! Sie hat so viel Schriftliches dort zurückgelassen und das Häuschen braucht Reperaturen. Wie dankbar bin ich dem Häuschen, dass es ihr so viel Glück gegeben hat. Auch der Garten den sie liebte muss gepflegt werden. Wenns nur mit der Arbeit vorwärts ginge, das wäre das Beste für mich. Oft befällt mich mitten im Schreiben eine wilde Angst, ich hätte sie wo verlassen, sie brauche mich, rufe nach mir. So wars in den letzten Jahren immer. Ob ich je die grenzenlose öde Freiheit ertragen werde? Du wirst jetzt wieder zu Hause sein, deshalb adressiere ich dorthin...
Sei herzlich umarmt von
Deiner Isolde
>s104

Karte ®ohne Datum¬ (wohl Ende ®1911¬)

aus München 527
Liebe Marie!
Dies ist die letzte von einem Häuflein Postkarten die ich in Mütterleins Schublade fand und die ich, ihre Absichten ausführend an ihre nächsten und theuersten Freunde nur schreibe. Diese letzte hab ich für Dich aufgehoben, sie wartet schon lang, daß ich einen freien Augenblick für sie finde. Luise schrieb mir kürzlich, daß Du unpässlich gewesen seist, Dich aber schon wieder zu alter Frische und Regsamkeit erholt habest. Auch E. Becher die vorgestern hier war, wußte Gutes von Dir sagen. Ich habe ein großes Verlangen Dich zu sehen um mit Dir von ihr zu sprechen. Aber ich fühle, daß ich jetzt nicht mehr die Kraft dazu habe. Auf der Reise ging mirs recht gut. Es schien mir nichts zu schwer die letzte Lebensstrecke vollens zu durchlaufen, wenn man nur schaffen und wirken könne, aber seit ich zurückkam in die alten Räume wird es täglich schwerer und die Sehnsucht nach ihr unerträglich. ®In Forte hab ich ihre Gedichte¬ ®gefunden.¬ Viele Hefte, ein ganzer Stoß nach Jahrgängen geordnet, ®herrliche Sachen¬, ich ahnte nicht, (und sie selber wußte es nicht!) daß sie eine so große Dichterin war. Es ist fast alles an mich gerichtet um mich zu trösten, wenn sie nicht mehr sein würde. Deshalb hielt sie alles zu Lebzeiten versteckt. Wenn Du einmal hieher kommst müssen wir zusammen darin lesen. In Forte hatte ich den Mut dazu; dort war sie immer lebend zugegen und hatte an allem ihren Theil. Sie war innerlich eingezogen, wie sie mirs in einem ihrer Gedichte ankündigte. Aber hier ist ihrs bang und mehr in mir, es ist ja das Land in dem ®sie¬ nicht leben wollte. Das fühl ich jetzt immer wie einen körperlichen Schmerz am Herzen. Im Übrigen arbeite ich krampfhaft den ganzen Tag um nicht an mich zu denken.
Sei herzlich umarmt von
Deiner Isolde.

®ohne Datum¬

So lang mein Mütterlein lebte hatte ich nur Zeit für sie; mit den Freunden sich zu beschäftigen war ihre Sache. Sie brauchte mich täglich, stündlich, zeitlebens. Nicht zur Pflege, das kam erst zuletzt. Aber ich war der Brunnen in dem sie baden mußte um immer wieder jugendfunkelnd dazustehen. So gab ich ihr meine beste Zeit und Kraft und behielt kaum noch etwas für das Schaffen, geschweige für alle Freundschaften. ®Ihren ersten Geburtstag,¬ nachdem ich sie verloren hatte widmete ich ®Dir¬. Ich weiß noch es war auf ®Rügen,¬ in dem brennenden Sommer 1911...Ich schrieb einen langen, langen Brief, er sollte Dir ein Zeichen sein, daß sie in mir fortfuhr Dich zu lieben ...

Karte vom ®5.August 1913¬

528
Liebe Marie!
Ja, hast Du denn Mohls Schreiben nicht empfangen. Ich befand mich vor der Abreise in solch einem Wirbelsturm, daß ich ihn bitten mußte mir einen Theil der Korrespondenz abzunehmen. Deine westfälische Adresse war verlegt, daher adressierte er nach Stuttgart. Deine Aufzeichnungen sind ®gut¬! wie alles was aus Deiner Feder kommt. Ich glaube Du könntest sie zur Festzeit als Erinnerung an H.K. drucken lassen mit ganz kleinen Änderungen über die wir in Stuttgart sprechen werden. Hebe das Manuskript gut auf, Du hast es doch noch? Für meine Zwecke ist es nicht zu verwenden, weil es nur von Dir, d.h. von Deiner Stellung zu ihm, nicht von ihm selber handelt. Man lernt da ein kleines eigenwilliges Ding kennen das sich eigentlich nur mit sich selbst beschäftigt, und in einer dunklen triebhaften Weise die ganze Welt auf sich bezieht, da läuft H.K. auch so mit. Aber es ist ein putziges kleines Ding das sich sehen lassen kann und die äußere Form ist wie gesagt unanfechtbar.

Vielleicht aber gehst Du noch einmal drüber und läßt auch Deinen Onkel (Rudolf Kausler)in deutlicherer Beziehung zu ihm auftreten. An dem, daß Du die Mühe. An dem Faden, den Du gezogen hast, ließe sich nämlich noch viel mehr aufreihen ohne daß Du die Mühe hättest einen neuen zu ziehen. Jene tolle Kompanie die an jenem Abend in Obereßlingen einbrach, ist in Deinen Erinnerungen sehr verblaßt. Mama hat mir die Sache viel bunter und romantischer erzählt. Papas Vetter Heinrich Mohr war auch mit einem Schatz dabei. Vielleicht fällt Dir, wenn Du nachdenkst auch noch mehr ein. Ich glaube die Leser würden Dir diese Erinnerung, wenn Du sie etwas retuschieren kannst danken, und in der Zeit jener 100 Jahrfeier würde sie gewiß ein schwäbisches Blatt gerne bringen.

®Ihr¬ Bild ist Dir nicht so schön und großartig herausgekommen, wie sie doch sonst in Deiner Seele lebt, es sind Stellen drin die der Alltagsleser nicht deuten könnte und vor allem müßte der Pinsel noch ein wenig inhaltlich angesetzt werden. Am 6.August war ihr Ge- burtstag. An diesem Tag theilt sie auch jetzt noch Freude und Sorgen aus wie da sie lebte. Zur 100 Jahrfeier komme ich nach Stuttgart, dann sollst Du von Ihren Gedichten kennenlernen.
Grüße Deine Gastfreunde, die sich so freundlich... beschäftigen.
Deine Isolde

®9.September 1913¬

529
Liebe Marie!
Du irrst Dich wenn Du glaubst, daß ich mit Deinen Aufzeichnungen unzufrieden sei. Du bist die geborene Schriftstellerin und was Du schreibst wird ganz von selber gut. Aber Deine Gabe ist eine rein subjektive, daher ihr natürliches Gewand die Briefform. Deine Briefe haben mir schon in meiner Jugend imponiert, wenn Mütterlein mich gelegentlich einen lesen liess, und sie imponieren mir noch heut. Wenn Du in einem größeren Kreis gelebt oder Dich mehr be- schäftigt hättest, so wärest Du vielleicht eine der berühmten Briefschreiberinnen geworden. Deine Aufzeichnngen spiegeln Deine Innenwelt. Was für meine Zwecke dazu fehlt das ist das gegenständ- liche charakteristische für die andern: eine Anekdote, ein Wort, eine Geste, die so nur zu diesem einen Menschen gehören kann, um damit sein Bild in meinem Buche zu bereichern.

Heut möcht ich Dich um einen anderen Dienst für meine Anekdoten bitten. Zur 100Jahrfeier rüsten alle grossen deutschen Blätter Festartikel, auch die Deutschen im Ausland bleibem nicht zurück. Chicago ist schon voran gegangen mit einer recht guten und lebendigen Festschrift, worin auch Ihrer sehr warm und lebendig gedacht ist. Nur in Österreich regt sich nichts, wenigstens hab ich von dort her keine Anfrage, kein Zeichen irgend welcher Art erhalten. Nun möchte ich Dich bitten, bei Familie Flattich anzuklopfen, ob sie niemand von der Wiener Journalistik kennt, dem sie einen Anstoß geben könnte. Es wäre doch schmählich wenn Oesterreich selbst hinter Russland zurückbliebe!

Du kannst Dir denken, daß ich auf diese Ehrungen für ihn gar nicht den großen Wert legen würde, wenn es nicht eben diese einzige Gele- genheit wäre, die Menschen auf seine Werke hinzuweisen. Es scheint wirklich, dass dieses Jahr zu einem Wendepunkt für ihn werden soll. Aber Österreich sollte sich noch anschliessen.

Ich würde selber an Frau Flattich schreiben weiss aber ihre Adresse nicht, auch ist es besser wenn es von wo anders als von der Familie ausgeht. Ich brauche doch Dir und Frau Flattich nicht zu sagen, dass sein Geburtstag auf den 30.November fällt?

Ich sage Dir noch herzlichen Dank für Deine guten Worte, muss aber sonst schweigsam sein, weil eine schwierige und dringliche Arbeit vor mir liegt, die durch meinen unvernünftigen Magen so oft ins Stok- ken gekommen ist, daß ich mir immer wieder einen Ruck geben muss....

Ja, die Gedichte! Wenn ich Zeit finde schreib ich Dir eins oder das andere ab. Sie haben Hildebrand, dem ich einige vererbt, tief ergrif- fen. In Stuttgart wird doch wieder der Trubel gross werden. Halte Dich so frisch und sei herzlich umarmt von
Deiner Isolde
Forte dei Marmi, Prov. Lucca Italien

®25.10.1915¬

530
Meine liebe Marie!
Es war sehr lieb von Dir an mich zu denken und an Ihn. Du hast Dich zwar um einen Tag verrechnet: der 10. wars. - Ich wollte Dir seiner Zeit noch aus Geislingen einen Gruß senden, aber die Stunden waren zu knapp. Wir hatten dort noch gute Tage und haben viel gesehen, Dein Stötten freilich nur aus der Ferne von einer schönen Hochfläche aus. ....Während ich Deinen Brief noch einmal überlese, muß ich lachen über Deine Skrupel wegen Winnenden. Deshalb ging ich ja hin, daß Du die alten Orte wiedersehen sollst. Mir wars eine Freude, daß ®Papa in einem so schönen Hause¬ gewohnt hat und daß er so starken Schönheitssinn hatte.... Winnenden... Ich habe jetzt von der Landschaft meiner Heimat eine klare Vorstellung und kann nunmehr mit gutem Gewissen mit dem Kyrios Reisepläne donauabwärts schmieden und von Konstaninopel bis Mesopotanien wo der deutsche Geist sich künf- tig eine neue Heimat schaffen wird. Jawohl, den Frieden den wollen wir alle noch erleben, schon aus Neugier wie es nachher sein wird. Ein wenig bang ist mir darauf, aber auch in mancher Hinsicht hoff- nungsvoll: "Von Osten kommt das Licht".... Dieser Tage endlich Nachricht vom italienischen Freund....als Militärarzt in einem Lazarett tätig...die Überwachung wäre streng...schreibt vorsichtig .... von den Ausgerückten sind die Nachrichten bis jetzt gut. Thole ist in Valanciennes, Irenes Mann in Polen.

Karte ®15.10.1917¬

(
vollständig) 531
Liebste Marie!
Nun wäre ich also wieder eingelebt, muß aber schauderhaft frieren, weil ich ®keine Kohlen¬ bekommen kann und das bisschen Holz das ich habe sparen muß. Ich schreibe soeben die biographische Einleitung zu einer Erzählung Papas die hier in der "®Weltliteratur¬" erscheinen soll. Seit unserm letzten Gespräch steht sein Bild immer wie ein schmerzlicher Vorwurf vor mir, daß er sich die politische Meinungs- verschiedenheit mit der Familie ®so¬ zu Herzen genommen hat wußte ich nicht. Ein wenig war er ja mitschuldig, weil er sich zu den Seinen so gar nicht äußerte, nichts mit uns durchsprach, überhaupt immer erraten sein wollte. Und wie wenig errät die brausende Jugend die mit sich selbst zu schaffen hat. Wenn ich die heutige Generation ansehe im Verhältniß zu den Eltern, muß ich dennoch sagen: Wir kannten die Ehrfurcht und die Rücksicht. Aber es war keine rechte Brücke da. Ich dachte ja über die großen Fragen (so weit sie ein junges Ding denken kann) fast ganz wie er, aber das wußte er nicht einmal. Möchte mir es doch gestattet sein durch Herausgabe seines Nachlasses und Einführung der Leser in seinen Geist ein wenig von dem gut zu machen was zu seinen Lebzeiten an ihm versäumt wurde. Wie hast Du den ersten Schritt in den Winter hinein gemacht... Laß mich Deine Handschrift bald wieder sehen. In großer Liebe
Deine Isolde

Brief vom ®28.7.1917

532
Liebe teure Marie!
Ich habe mit tiefer Bewegung meines Mütterleins Briefe gelesen, gesichtet, datiert, so weit es möglich war und nach Jahren gebündelt. Sie war plötzlich wieder um mich, aber nicht in der herrlichen Abklärung ihres noch immer jugendlichen Greisenalters, sondern im brausenden Nordoststurm. Welch ein unbegreiflicher Mensch ist sie gewesen. So groß, so rein, so ureigen und dabei so wunderlich. Kann es auf der Welt etwas Sonderbareres geben als dieses stürmische Liebeswerben für den eigenen Geliebten, damit er von der legitimierten Liebe eine Abwechslung habe! Ich habe sie ganz wiedererkannt, aber manches geht noch über das mir Bekannte hinaus. Die feurigen Freundschaftstöne die oft geradezu wie Verliebtheit klingen, eine niedere Seele könnte sie arg mißverstehen. Es war groß und schön von Dir gedacht, Du Edle, daß Du diesen Schatz in meine Hände legtest und ein Stück Deines eigenen Lebens dazu. Du darfst mich aber in diesen Dingen auch ruhig als eine Fortsetzung von "Ihr" ansehen. Und schließlich hab ich ja alles selber miterlebt. Es ist schade um jedes Blättchen das Du doch vertilgtest.

Ich werde verschiedene Kapitel umschreiben müssen, weil sich andere Daten und damit andere Zusammenhänge ergeben haben.

...Und daß Du packenweise unsere zerrissenen Strümpfe geflickt hast! Solche Freundschaft hat es schon in unserer Generation nicht mehr gegeben und gar in der heutigen Jugend..... Gar zu gern wüßte ich auch, was aus jenem Gotthold ®Knapp,¬ dem Neffen des Dichters Albert Knapp, geworden ist, über den ihr auch einmal zanktet. Ich erinnere mich des Bedauernswerten sehr gut. Aber es stimmt nicht ganz was sie da erzählt: daß ich mich vor ihm gefürchtet hätte. Ich würde mich vielleicht heut vor einem solchen Irren fürchten, aber damals war ich zum Fürchten viel zu jung und unerfahren. Überhaupt ist es merkwürdg und wirft mir nachträglich Licht auf manches Räthsel, wie sie mir immerdar ganz andere Empfindungen, Neigungen und Abneigungen unterschiebt als ich wirklich habe. So erklärt sichs, daß sie bei ihrem übermächtigen Freiheitskult mich so oft in Gefühlssachen ®zwingen¬ wollte, und mit einer Gewaltsamkeit, vor der selbst dispotische Eltern zurückgescheut wären. Sie meinte, ich empfinde wie sie und wolle es nur nicht Wort halten. Da gab es dann blutige Tränen. Ach, was hat die Arme gedarbt und gerungen in den erbärmlichen Verhältnissen. Die Kirchheimer Briefe mit der hoffnungslosen Sehnsucht nach München sind herzzereißend. Gut, daß aus der Übersiedlung nichts wurde, es wäre eine arge Entäuschung gewesen.

Die Briefe sind mir für mein Buch eine unendliche wertvolle Ergän- zung, teilweise auch eine Berichtigung meiner Erinnerungen.....

Ich habe nach diesen Briefen mehr als je das Verlangen Dich diesen Sommer zu sehen. Was hast Du vor? Wirst Du still in Deinem reizenden Puppenstübchen sitzen? Oder gehst Du wieder nach Ludwigsburg, wo sie Dich so schön gepäppelt haben? Oder wohin sonst? Ich habe für den größten Teil des August mich in der Nähe von Rosenheim am Fuß des Wendelstein eingemietet um dort in Stille und Einsamkeit mein Buch ein gut Stück zu fördern.

Der Kyrios geht unterdessen zu Besuch wenn der Rheumatismus, der ihn plötzlich befallen sich bessert. Aber Ende August denken wir nach Württemberg zusammen aufzubrechen. ®Emmy Becher¬ hat mich für ®September nach Buoch¬ engeladen. Vorher wollen wir in Tübingen alle Wege nach einmal miteinander gehen. Und von dort aus oder am Schluß der Reise einen Abstecher nach Stuttgart machen.

Meine Luise und ®Therese Köstlin¬ schlagen mir einen Aufenthalt in Degerloch vor, was mir gar nicht ohne scheint, wenn sich die richtigen Bedingungen finden lassen. Von dort aus könnte ich Dich in aller Behaglichkeit besuchen, weil ich dann an kein Freundes- haus gebunden ganz mein eigener Herr wäre.

Von nächsten Dienstag ab ist meine Adresse bei: Frau Mangold, Villa Schrei ®Degerendorf¬ bei Brauenburg, Linie Rosenheim Bayern. Ich bitte Dich schreib mir ein paar Zeilen dorthin. (darfst aber nicht mein Degerendorf mit unserem Degerloch verwechseln, das später dran kommt!) damit ich weiß, was Du vorhast und befriedige meine Neugier. Wenn Du aber nichts gestehen willst, so werde ich Dich künftig doch immer in Lederhosen sehen, wie Du Deine bösen Buben- oder Mädlesstreiche verübst, denn wozu zogst Du sonst die Lederhosen an?

Der Kyrios legt sich Dir zu Füßen, so wie ihm dies sein Ischias gestattet.

Und ich küsse Dich in Liebe und tiefer Dankbarkeit für alles was Du meinen Lieben gewesen bist.
Deine Isolde

®23.11.1917¬

(im Umschlag)
München, 23.Nov.1917 534
Geliebte Marie!
Nun ist es doch wieder später geworden als ich dachte. Nein, Dein Brief hat mich nicht in einem andern Gedanken unterbochen, sondern mich aus lästiger aber unaufschieblichen Unterbrechungen zur Hauptsache zurückgebracht. Wir berühren uns viel näher als Du denkst: Stellen aus Deinem Brief klingen wie Erläuterungen zu dem was ich kurz zuvor geschrieben habe z. Bsp. über die politischen Gegensätze die ich wenigstens prüfend berühren mußte. Auch darin gebe ich Dir recht, daß in jedem Menschen Gutes ist, ich füge sogar hinzu daß man jeden nicht nach seinem inneren Durchschnitt sondern nach seinem Höchstpunkt beurteilen sollte. Nun laß mich aber vor allem ein Wort ......... sagen. Ich fand unlängst den letzten Brief meines Vaters, mir nach ®Vierzon¬ geschrieben im Herbst ®1872,¬ worin er mir erzählt, daß er mit Heyse gute Tage in Lorch gehabt und dann zu Fuß nach Reutlingen gewandert sei, unterwegs aber noch "Kausler aufgesucht, den man fälschlicherweise tot gesagt, was ihm ein langes Leben bedeuten möge!" Das muß jener Besuch gewesen sein, wo er die von Dir mitgeteilte Äußerung tat. Sie ist nur erklärlich in jener Zeit meiner Abwesenheit von zu Hause, denn das wußte er ganz genau, daß ®ich¬ nicht zur "Pariser Kommune" gehörte; ich habe ja auch jede Werbung abgelehnt worüber die Mama in ihren Briefen Andeutungen machte. Und soviel steht fest, daß wenn ich auch Mütterleins und der Brüder revolutionären Überschwang nicht dämpfen konnte doch durch mich ein wirksamer Gegendruck ausgeübt wurde, indem ich bei politischer Gleichgültigkeit andere Interessen in den Vordergrund schob. Freilich im Augenblick wo ich das Haus verließ müssen die roten Wogen darüber zusammengeschlagen haben. Denn da waren ®Pfau,¬ Hedwig, der rote Philipp Reiter ? alle kommunalen... und ebenso die Mehrzahl der jungen Hausfreunde. Und da muß der arme Papa sich wohl einsam in seinem Dachstübchen gefühlt haben. Wohl fand er auch in mir kein starkes Echo für seinen nationalen Glauben und Hoffen, aber dessen bin ich mir bewußt, daß ich das heimische Reich mit allem Bemühen zusammenhielt, und dafür war meine voll- kommene Neutralität nur günstig. Mama ihrerseits schalt mich bismärckisch und reaktionär, woran sich die Hausfreunde noch wohl erinnern, bloß weil ich nicht mit ihr und den Brüdern ging. - Es ist mir nicht eingefallen ihm das Recht zu dem was geschehen ist zu bestreiten ich wußte ja von je, daß er eigentlich der Geschobene war. Diese Dinge verstand ich trotz meiner Jugend ganz genau. Und er selber gab mir damals die Versicherung daß er niemals an seinem Familienleben würde rütteln lassen. Daß dieses von der andern Seite versucht wurde, steht nun fest, obgleich Du es bestreitest. Ich will hinzufügen, daß ich es nicht zart und edel, aber menschlich und bei dieser Sachlage auch entschuldbar finde. Es tröstet mich sogar und erweckt mir ein dankbares Gefühl, daß er dort wie Du schriebst begeisterte Aufnahme für sein literarisches Schaffen fand und verständnisvollen Austausch der Ansichten mit einem vernünftigen gebildeten Mann.

®23. 11. 1917®

Die Gründe warum er die Erziehung ganz in den Händen der Mutter ließ hast Du richtig gesehen. Dazu kommt aber noch ein Hauptpunkt: ihr unbewußtes biologisches Übergewicht durch die Jugend und das Geschlecht (das das heimlich stärkere ist) und etwas seltsam Irrationales, ich möchte sagen ®Dämonisches¬ das oft ®hemmungslos¬ hervorbrach, ganz ohne Rücksicht auf die Folgen dem von Lebens- kämpfen zermürbten Mann gegenüber. Daß sie die Kinder ganz im Banne hielt ist auch richtig; die Söhne die im übrigen ihre Wege gingen durch die Gleichheit der Anschauungen, mich über die sie keine geistige Macht hatte und die von ihr ganz falsch gekannt war durch die ®ständige Todesangst¬ sie zu verlieren. Diese Angst die von ihr unbewußt genährt wurde, weil sie ®ihr einziges Mittel¬ war mich zu ®zwingen,¬ hat mir meine Jugend und eigentlich ®mein ganzes Leben¬ ®vergällt.¬ Sie machte mich auch blind für den viel gefährlicheren Zustand des Vaters, denn zwei solche Sorgen kann ein junges Herz nicht tragen. ®Sie¬ sah ich bleich und abgehärmt, sich in Mühen und Kummer verzehrend (denke nur an Baldes schwere Krankheit) und sich oft selbst das Nötigste versagend im Liebesfanatismus für die Kinder. ®Er¬ stand scheinbar in alter Kraft und sprach niemals von sich selber. So sah ich nicht, daß der schweigende Mann der noch größere Märtyrer war. ®Zwei große Menschen¬ von denen jeder viel- leicht einen minder großen Lebensgefährten gebraucht hätte. Ihr konnte wenigstens ein goldener Abend, ihre letzten Jahre in Forte bei eigener unverwüstlicher Frische und der schirmenden Sohnesliebe des italienischen Freundes noch viel vergüten. Aber was hat das Leben Ihm gegeben?....

Es gäbe noch vieles zu sagen und ebenso zu fragen, aber schreiben läßt sichs nicht. Ich hoffe auf ein nicht gestörtes, nicht gehetz- tes Zusammensein im Juni. Leid tut es mir, daß Du Sie in ihren letzten Lebensjahren so wenig gesehen hast um ganz zu erkennen welch edlen wunderbaren Wein der so lange brausende Most spät noch ergeben hat.

Ich schicke Dir gleichzeitig ein Bändchen schwäbischer Erzähler mit dem Du Dich vielleicht ein paar Stunden unterhälst. Es ist auch ein Beitrag von mir dabei doch will ich keine Widmung schreiben, damit Du das Buch wenn es ausgelesen ist allenfalls als Weihnachts- geschenk benützen kannst. Es erspart Dir dann einen Gang und Mühe! Ich bin nur froh, daß ich mir Dich im gutgeheizten Stübchen denken darf bei Deiner prächtigen Lampe. Ich mußte eine Zeitlang arg frieren, jetzt ist Abhilfe geschafft.

Bleib mir gesund und laß gelegentlich Gutes von Dir hören.
In inniger Liebe, Deine Isolde
Ihr habt doch hoffentlich keine so schlimmen Abendbesuche mehr in Stuttgart wie am 1. und 2. Oktober gehabt?

Eine Frage kannst Du mir vielleicht noch beantworten. In einem ihrer frühen Briefe aus Tübingen schreibt die Mama, wegen Eckard könne sie Dir nicht recht geben. Unmittelbar fährt sie fort, nun habe sie einen Vortrag von ihm über Hermann und Dorothea gehört und sei ganz hingerissen gewesen. Die mitanwesende Frau Kurz habe bei seinem Erscheinen enttäuscht gerufen: Der Taschenkrebs! Aber hernach habe der Vortrag sie gleichfalls sehr ergriffen. Nun weiß ich, daß um diese Zeit ®Vischer¬ über Hermann und Dorothea sprach. Auf ihn würde auch die körperliche Kleinheit passen. Aber warum nennt sie ihn Eckard? Und noch eine Frage: Weißt Du vielleicht, was von jener andern Seite für später über seine Briefe bestimmt ist? ®Karte vom 23.7.1918¬ 534 ....gut erholt in Buoch...Der totgesagte Freund (Dr. Vanzetti) lebt! Ich erhielt einen langen Brief von ihm. Mein Haus (in Forte) ist noch mein, nur von Flüchtlingen bewohnt, die er aber unter Aufsicht hat. Bei diesem Auferstungswunder wurde auch mir das Wiederaufleben leicht. Nun kann ich wieder hoffen auch das geliebte Land einmal wieder zu sehen....

Karte ®August 1918¬

aus Wörishofen
...Jetzt da es in der Welt immer gräßlicher zugeht und man aus jedem Zeitungsblatt sich Herzweh holt, sollte man sich wenigstens die Freude an der Natur gestatten die still in ihrer Schönheit weitergeht. Mohl hat ein botanisches Werklein mitgebracht.... Weißt Du ich überzeuge mich immer mehr, daß die alten Perser recht hatten mit ihrem doppelten Gottesbegriff: es gibt einen guten und einen bösen Gott, Ormuzd und Ahriman die um die Schöpfung ringen....Das Essen ist ja großartig und noch ganz friedensmäßig.... Daß Rußland innerlich ausbrennt und daß ihm Pension und Kapitalien verloren sind und bleiben hat er sich klaglos abgefunden. Seine Altersgenossen setzen sich jetzt einer um den andern zur Ruhe, er sieht keinen Feierabend vor sich sondern muß sich immer weiter mühen aber im Gemüth ist er heiter und freier als alle andern und das ist ja auch etwas, sogar recht viel.... Im September erscheint mein Buch.....(Hermann Kurz)

®12.11.1918¬

...Wie Du die schwere Erschütterung der Lage überstehen wirst?...Dein Stüblein ist so eine von den Oasen, von denen ich vorhin gesprochen habe...Auch der Anblick Deiner Handschrift tut mir gut...Du hast ja die Macht Dich von äußeren Ereignissen......

®2.12.1918¬

....Verleger Georg Müller 40jährig gestorben...betr. Herausgabe von H.K. vollständigen Werken einschl.Briefe..."Zu verdienen ist nichts dabei, so etwas macht ein Verleger nur aus Ehrgeiz oder aus Freude an der Sache, und darin war Georg Müller einzig. Er fragte nicht nach den Kosten, sondern tats, wenn ihm ein Plan gefiel oder ein Name Gewähr gab. Mama würde wieder sagen, es sei das Walten seines besonderen Ursterns. Und jener kindische Kindernarr tüftelt unter- dessen weiter um mit seinem labos inserobus das Bild des Dichters von allen Seiten anzubahnen und zu beschnitzeln! Himmel hilf!... Du bist der beste Lehrer den ich kenne....Du liesest mit Dichter- augen.... Dank für Deine Mitteilung wegen Eckard. Da hätte for- schende Gelehrsamkeit mit fast mathematischer Sicherheit eine fal- sche Hypothese zu Tage gefördert, denn um dieselbe Zeit sprach, wie historisch feststeht, auch Fr. Vischer über Herm.und Dorothea... Also das wußtest Du nicht, daß ich von klein auf (schon von meinem 2. Jahr an!) für mein Mütterlein gezittert habe und daß diese zitternde Liebesangst mich fast um allen Genuß des Lebens und einen großen Teil der Schaffenskraft gebracht hat? Es gab kaum einen Tag, wo ich sie nicht verlor! Wenn Du einmal meine Erinnerungen in der Hand hast, wirst Du manches davon finden und noch mehr zwischen den Zeilen lesen...

®2. 12. 1918¬

.... ®Erwin¬ hat uns einen großen Schrecken eingejagt, durch einen ®Sturz aus der Straßenbahn,¬ wobei er sich den Bruch des rechten Daumenknochens zuzog. Da er sich nicht hält und immer mit der Hand arbeitet, heilt es äußerst langsam. Wir sehen uns selten, weil beide beschäftigt sind... Deine Isolde Ergänzung: Das wollen wir nie vergessen, daß ®meine¬ Mutter für ®fünf¬ solche Wildfänge zu sorgen, sie zu waschen und zu striegeln, zu unterrichten hatte, ganz ohne Hilfe daneben alle die Höschen zu flicken und die harte harte Not! Und nicht nur zu sparen, sondern gelegentlich noch mitzuerwerben! Wer kanns ihr verdenken, wenn es schließlich ein Amt gab dem auch sie nicht mehr voll gerecht werden konnte. Daß in all dem Wirrwarr von dem Fünferkreis keines auf Ab- wege kam, auch nur vorübergehend, sondern jedes lebenslang einem höheren Ideal nachging, immer wie von ihr geführt und gezogen, das ist doch wahrlich nichts kleines. Daneben verschwindet auch das platonischte Tun anderer Frauen und Mütter. Nein, sie gab uns viel viel mehr als bloß das Lernen, sie gab uns das ganze seelische Leben, und die Wärme die sie zurückließ hält auch jetzt noch vor... Für schaffende Künstler aber muß notwendig den Kindern gegenüber der Vater als Erzieher versagen und seinen Platz der Mutter lassen. Ich glaube man darf keinem Teil einen Vorwurf machen..... Daß dann wiederum die Kinder sich feuriger an die Mutter anschlies- sen, ergibt sich daraus von selbst. Ich glaube man darf keinem Teil

®18.11.1918¬

....Es ist alles so ganz anders gekommen als wir dachten; aber ob schlimmer? Ich glaube nicht. Ich habe angenommen (mehr aus metaphysischen als aus sachlichen Gründen) daß wir siegen müßten, daß aber als dann das geschlagene Frankreich eine Revolu- tion gegen den Imperiallismus seiner Machthaber nachte und ®wir¬ die Vorteile davon mitgenießen würden. Das wäre der herkömmlichste der Weltgeschichte gewesen. Es sollte anders geben, aber wie stehen wir jetzt da? Deutschland hat fünfthalb Jahre übermenschliches geleistet und wahrscheinlich schwer genug geduldet. Endlich erliegt es weniger dem weltweiten Ansturm fast des ganzen Planeten als dem Hunger. Und im Niedersinken macht es eine Umwälzung, so würdig, so unblutig wie die Welt noch keine gesehen hat, und hebt damit die alte Welt aus den Angeln. Ich teile keineswegs die Hoffnung schwär- mender Sachen, daß die Friedensvölker unmittelbar unserem Beispiel folgen werden. Die müssen erst ihre Siegesrausch ausschlafen, aber dem Imperialismus ist der Wind aus den Segeln genommen. Und mit der Zeit muß ja der neue Geist sich nach Westen fortbewegen. Das wird gewiß noch zu einem Ausgleich kommen mit dem auch wir zufrieden sein können. Es fällt mir eine Stelle aus Papas Vaterlandslied ein:
Der um Recht mit Dir gerungen
Ist vom gleichen Blut wie du,
nur daß es dann heißen muß: vom gleichen ®Geist¬, was noch schöner ist. Und wie gern wollen wir wieder bescheiden leben und arm sein wie wirs zur Väterzeit waren, wenn wir den Kampf ums goldene Kalb nicht mehr sehen und die Anpassung des reichen Pöbels nicht mehr dulden müssen. Das ist für mich das A und O. Meine Generation hatte von der Deinen den Idealismus geerbt und treu bewahrt aber wir konnten ihn auf die Hungernden nicht übertragen, sondern standen weltfremd und als Phantasten belächelt unter ihnen. ®Wir¬ dachten an unsere Pflichten gegen unsere Sache und gegen das Ganze; sie dachten an ihre Pflichten gegen sich selbst. Auf einmal weht eine andere Luft. Man hört jetzt Stimmen die sagen. Wir wollen uns den Riemen fester schnallen und arbeiten wie wir noch nie gearbeitet haben und Deutschland wieder in die Höhe bringen. Ich glaube es wird ihnen gelingen.

Und so sollst Du, mein geliebtes Waldfegerlein erhobenen Hauptes in Dein neues Lebensjahr mit der Fahne Deiner freudigen Lebensbejahung in der Hand nicht denken, Du seist zerschmettert mit einem zerschmet- terten Volk. Und im Januar feiern wir ein frohes Wiedersehn.....Sei gesegnet und bedankt daß Du da bist uns so bist.
Deine Isolde
>s20

®28.11.1918¬

(zum Tod von ...?... geht nicht aus dem Brief hervor)
....Vorgestern waren es 25 Jahre, daß unsere treue Josephine schied. Sie hatte sich für uns aufgezehrt. So was versteht man erst in späteren Jahren.... Wer soll Dir den Sonnenschein Deines Stüb- chens ersetzen. Sie hing so innig an Dir, sponn immer heimlich Pläne zu Deinem Wohl...Wer wird mir von Dir berichten? ...Ich soll jetzt in deiner Herzensnot den Festgruß für die heimkehrenden Krieger dichten im Namen der Frauen. Ich konnte es nicht abschla- gen, denn die Heimat lohnt ihnen mit Undank und sind doch vom Kriegsjammer unschuldig....Habe das Leben lieb und auch ein wenig mich. In tiefem Schmerz,
Deine Isolde

®Karte vom Dezember 1918¬

...Schwaben ist eine Welt für sich, Du kriegst nichts heraus. Könntests mir wohl mitteilen.....®Hermann Kurz¬ Bücher gibts jetzt verschiedene, eines der besten ist im bayrischen Schulbuch mit vortrefflichen Anmerkungen, die bemüht sind den Schatz seiner Sprache für die Schulen zu heben....

®2.12.1918¬ (Datum?)

(siehe Brief v.2.10.1918) (Brief 4 Seiten)
Liebste Marie! Ein gutes neues Jahr zuvor!...Ich leide noch immer an einem Influenzarest der sich mir wie üblich aufs Gemüt geworfen hat und mich das Leben schwerer leben schwerer nehmen läßt als es meine Art ist. An äußerem Grund dazu fehlt es allerdings auch nicht. In diesen Tagen ist ®mein hiesiger Verleger¬ erst 40jährig ®gestorben.¬ Er hat mir durch geschichtliche Unordnung viel Unruhe bereitet, war aber doch ein großdenkender Mensch dem ich viel verdanke und der auch sehr fest an mir hielt. Vor allem aber hatte er die Absicht nach dem Krieg Papas Werke in höchster Vollständigkeit und Vollkom- menheit herausgegeben, auch die wissenschaftlichen Arbeiten, Frag- mente, Briefe, alles. Dabei wäre erst sein künstlerisches Gesicht vollkommen zu Tage getreten. Ich habe manches dafür vorgearbeitet, und es war mir ein Herzenstrost ihm diese Liebschuld abtragen zu können als Verzeihung für das was wir ihm im Leben schuldig geblie- ben. Nun ist jede Aussicht zerstört; welcher andere Verleger wird sich dafür bereit finden lassen? Zu verdienen ist nichts dabei, so etwas macht ein Verleger nur aus Ehrgeitz oder aus Freude an der Sache, und darin war ®Georg Müller¬ einzig. Er fragte nicht nach den Kosten, sondern tats, wenn ihm ein Plan gefiel oder ein Name Gewähr gab. Mama würde wieder sagen, es sei das Walten eines be- sonderen Unsterns. Und jener kindische Kindermann tüftelt unter- dessen weiter um mit seinem laro insvorbus (?) das Bild des Dich- ters von allen Seiten anzubahnen und zu beschnitzeln. Himmel hilf! Ich umarme Dich in Liebe und Treue
Deine Isolde
Das wollen wir nie vergessen, daß meine Mutter für fünf solche Wildfänge zu sorgen, sie zu waschen, zu striegeln, zu unterrichten hatte, ganz ohne Hilfe, daneben alle die Höschen zu flicken und die harte, harte Not! Und nicht nur zu sparen, sondern gelegentlich noch mitzuerwerben! Wer kanns ihr verdenken, wenn es schließlich ein Amt gab, dem auch sie nicht mehr voll gerecht werden konnte. Daß in all dem Wirrwarr von dem Fünferkreis keines auf Abwege kam, auch nur vorrübergehend, sondern jedes lebenslang einem höheren Ideal nachging, immer wie von ihr geführt und gezogen, das ist doch wahr- lich nichts kleines. Daneben verschwindet auch das gewissenhafteste Tun anderer Frauen und Mütter. Nein, sie gab uns viel, viel mehr als bloß das Lernen, sie gab uns das ganze seelische Leben, und die Wärme die sie zurückließ hält auch jetzt noch vor.- Für schaffende Künstler aber muß notwendig den Kindern gegenüber, der... als Erzieher versagen und seinen Platz der Mutter lassen. Daß dann wiederum die Kinder sich feuriger an die Mutter anschließen, ergibt sich daraus von selbst. Ich glaube man darf keinem Teil einen Vorwurf machen...

Von Irene soll ich Dir erzählen die Kleine (Eva-Maria) sei so ge- sund wie ein Bauernmädel, nicht hübsch, dafür schlägt sie zu sehr und ausschließlich ins Beckersche Geschlecht, aber das kann sich ja noch ändern. Sie ist von Natur ein herziges Ding, nur daß sich neuerdings aus ihrem Kraftüberschuß eine unbändige Unart entwickelt hat die sie zum Schrecken des Hauses macht. Weder die Mutter, die gerne steng sein möchte, noch die Großeltern die sie stark verzogen haben werden mehr mit ihr fertig, so daß man sie jetzt in einen Kindergarten bringen will. Es ist das Natürlichste, der Umgang mit andern Kindern erzieht am besten. Irene geht ganz in ihren Mutter- pflichten auf....Lili ist recht elend, die viele Arbeit wächst ihr über den Kopf, da sie jetzt auch noch den Schwiegersohn im Hause hat.....Erwin ....Straßenbahnunfall...alle erschraken... Soll ich noch einmal auf unser Kontroverse zurückkehren, bei der wir uns immer viel näher sind als es den Anschein hat? Da möchte ich eine Gegenfrage tun. Wenn eine Frau das Glück hatte sich an Geist und Seele eines großen Menschen mit vollen Zügen satt zu stärken und sie dies mit wahrem Verstehen tat, wie ist es möglich daß ihr späteres Leben davon gar keine Spuren zeigt? Daß es in lauter ungut- persönlichen, in Mägdezank und verletzen treuer Freundesherzen, wie Du selber andeutest, hingehen mußte? Als ich sie jenes mal nach so langen Jahren bei Dir wiedersah, da stieg es ganz warm in mir auf ihr spät noch etwas zu sein zum Dank für das was sie ihm- und wär es auch nur in seiner Vorstellung - gewesen. Aber das erste was ich aus ihrem Mund vernahm war einer der mir wohlbekannten Sarkasmen über irgend ein abwesendes armes Hascherl, wie ich glaube, denn ich hörte nur halb zu, und es tat mir zu weh. Und dazu noch ganz das Glitzern der Augen wie ehedem. Ich begriff es nicht, daß unter so schneeweißem Haar Augen noch so schadenfroh glitzern können. Es scheint mir als müßte man in späten Jahren mit ®Allem¬ Erbarmen und Nachsicht haben. Ich hab es auch mit ihr, ganz gewiß, und glaube zudem, daß Du sie besser kennst als ich, nur verlor ich die Hoffnung einen Weg zu ihr zu finden. (Anm.Mo.: wer?) Dank für Deine Mitteilung betreff des Eckard. Da hätte forschende Gelehrsamkeit mit fest mathematischer Sicherheit eine falsche Hypothese zu Tage gefördert, denn um diesselbe Zeit sprach, wie historisch feststeht, auch Fr.Vischer über Hermann und Dorothea. -

Also das wußtest Du nicht, daß ich von klein auf (schon von meinem zweiten Jahr an!) für mein Mütterlein gezittert habe, und daß diese zitternde Liebesangst mich fast um allen Genuß des Lebens und einen großen Teil der Schaffenskraft gebracht hat? Es gab kaum einen Tag wo ich sie nicht verlor! Wenn Du einmal meine Erinnerungen in der Hand hast, wirst Du manches davon finden und noch mehr zwischen den Zeilen lesen....

®Karte von 28.1.1819¬

535
Liebste, sei unbesorgt, es fehlt mir nichts als Zeit. Tag um Tag wollte ich Dir schreiben, es gelang mir nie, und doch wirds Mitter- nacht, gelegentlich 2 Uhr bis ich zur Ruhe komme und morgens zeitig heraus. Bin oft recht müde, Arbeit, Geschichten, Besuche, Anfragungen ohne Ende, doch ihr Nachglanz freut mich noch.

Denke Dir, da ist Alfreds Witwe im Schmerz, eine Italienerin, viel älter als er (fast 80jährig), die ihre Töchter erster Ehe nicht länger bei sich haben will, und die sich nun in den Kopf gesetzt hat, oder vielleicht von der edlen Tochter dazu angetrieben wird nach München zu kommen und auf meine Kosten zu leben. Die Sache ist ganz unmöglich bei den enormen Preisen der Großstadt, würde zu meinem vollkommenen Untergang führen, denn ich würde ja niemals wieder von ihr frei. Schon seit Monaten kämpfe ich dagegen, Erwin desgleichen. Wir haben ihr das Äußerste vorgestellt. Ihre letzte Antwort war, daß sie nun den Paß eingekommen sei und doch kommen werde. Es bleibt mir nichts übrig als die Hilfe des Magistrats anzurufen, wenn sie keine Vernunft annimmt. Die Unselige hat vier Kinder, wovon drei Vermögen besitzen und sämtliche wehren sich dagegen sie zu ernähren und aufzunehmen. Es ist schauderhaft. -

In Stuttgart vergaß ich eine alte Frage, die ich seit lange auf dem Herzen hatte wegen des Waldfegerleins. Hat er mit dem Eremiten und seiner Wiederverkörperung sich selbst gemeint? Und warum heißt die Mutter Frau Adelheid?

Auch wüßte ich gerne worauf Papas Gedicht: "Senkt die Gefallenen hinab" sich bezieht? Hast Du nie was darüber gehört? Es klingt ja schauerlich zeitgemäß. Ich mußte in den letzten Tagen die ganze Hermann Kurz - Biographie durcharbeiten und erweitern, das brachte mich auf die Beschäftigung mit seinen Sachen zurück. Und so ent- stand mir noch eine Frage über dem ®Bundschuh¬.(?) Was ist das für eine Sache vom ®Schwanenberg¬? Der Mittelpunkt des Reiches der seine Lager in den freien Schweizbergen (?) wurde? Hast Du je da- von gehört? Am Abend des 15. lese ich in München. Sei herzinnig umarmt
Deine Isolde

Karte ®1. Januar 1919¬

.......heute schrieb der ital. Freund die Beschlagnahmung des Hauses sei nur zur Unterbringung von Flüchtlingen erfolgt und schon wieder aufgehoben...Die ital. Regierung scheints nicht so schlimm zu meinen...

®Karte 6.5.1919¬

aus München 236
Geliebtes Waldfegerlein
Dir gilt der erste Gruß der Befreiten. Wir leben und sind alle heil. Das waren Tage und Wochen! Heute erhielt ich die erste Post, sie ist genau 4 Wochen alt. So lange wußten wir nichts von draußen. Kein Brief, keine Zeitung kam herein. Wie geht es Dir?
Deine Isolde

Karte ®25.6.1919¬

Kyrius 70 Geburtsag, der Getreue....."Er hat jetzt lauter junge Mädchen zu unterichten die an seinem Munde hängen und ihn sehr verehren.... Die Verlagsanstalt hat mir Dr.Th.Klaiber als Mitherausgeber der Briefe vorgeschlagen.... Er soll den Commentar übernehmen. Ich habe ihn natürlich gleich an Dich verwiesen...

®Brief 6.8.1919¬

....Jedes Jahr an Mutters Geburtstag Dir geschrieben. Du bist immer mehr als Erbin in mein Herz gewachsen....... ...München ist eine traurige Stadt geworden....An eine dauernde Beruhigung hab ich von Anfang an nicht geglaubt. Damals brachten mich die Optimisten auf, jetzt gehen ihnen aber allmählich auch die Augen auf. Warmherzige Frauen und Mämmer suchen eine Vermittler- stelle zwischen den Parteien zu gründen, ich tue aus Gewissenhaf- tigkeit mit glaube aber kein bisschen daran. Es ist so viel Recht und so viel Unrecht auf beiden Seiten.

Nun muß ich dir noch erzählen daß unser ®König,¬ der liebe prächtige Mann, einen langen wahrhaft ergreifenden Brief geschrieben hat, der mir so wert ist, daß ich ihn der Post nicht anvertrauen mag, sonst würd ich ihn dir schicken. Anlaß dazu gab mein Vortrag von dem ich ihm ein Exemplar sandte Natürlich ist er ganz einer Meinung mit mir. Er schreibt nach einen unendlich lieben und herzlichen Eingang: "....wie vollkommen ich mit Ihnen übereinstimme in Feststellung der Gründe, weshalb wir im Ausland so unbeliebt sind. Die Tatsache war und ist ja leider nicht wegzuleugnen. Bei meinen verschiedenen Auf- enthalten im Süden sagte ich mir zunächst, wir sind doch wahrhaftig keine so "böse Menschen" um eine derartige Mißachtung zu verdienen. Das aber empfand ich fast wie einen körperlichen Schmerz, das Auftreten der lieben Landsleute, das vom äußeren bis zum ungeeig- neten Benehmen geradezu herausfordernd wirkte. Das Schlimmste ist, daß bei gutem Gewissen und dem Bewußtsein eigener Süchtigkeit nicht einmal erkannt wird, warum man so oft der höhnischen Bemerkung be- gegnet: Ach, das muß ein Deutscher sein!" - "Und glaubt ein Selbst- gefühl der Überlegenheit sich über abfällige Urteile wegsetzen zu dürfen, ja zu müssen das auf Äußerlichkeiten beruht. Vom höheren Standpunkt aus sind das gar nicht nur Kleinigkeiten, aber die Welt geht nach dem Schein die Wirkung hat, und das hat der furchtbar blutige Ernst der Zeiten gezeigt..-" Ich bitte Dich, liebe Marie, diesen Passus Freund Dorn vorzulesen......
Deine Isolde (Kurz)

Brief vom ®12.7.1920¬

Vielgeliebtes Waldfegerlein!
Durch Freund Dorn hörte ich endlich heute wieder von Dir. Es ist lange her, daß ich die letzte Nachricht erhielt, und ich sehne mich sehr zu erfahren wie es Dir geht? Ich selber bin vor wenigen Tagen vom Rheinland zurückgekehrt, habe mich dort gut erholt im Garten und Wald und liebevoller Pflege. Nur der verstauchte Arm läßt zu wünschen übrig. Und nun stecke ich schon wieder tief in der Arbeit. Aber ich hoffe bestimmt Dich im Laufe des Herbstes zu sehen Laß Dir die einliegende Schokolade schmecken, hoffentlich kommt sie gut in Deine Hände. Und schicke mir doch gelegentlich Nachricht. Gewiß ist auch Frl. Herwig so gütig mir in Deinem Auftrag zu schrei- ben. Leb wohl und behalte mich lieb, wie ich Dich.
Sei innigst umarmt von
Deiner Isolde
12. Juli 1920 Der Kryrios sendet herzlichen Gruß.

Karte ®10.8.1920¬

...Ich bin nun wieder in München....Ob mein langer Besuch Dir nicht geschadet?...Grüße mir Frl. Herwig, der ich gleichfalls schreiben werde... Sei innigst umarmt von D.Isolde

®Zettel von 1920¬

536
"Meine Vielgeliebte!
Durch Frl. Herwig höre ich soeben mit unbeschreiblicher Freude, daß Dir meine vielen und langen Besuche nicht geschadet haben. Bleib mir so tapfer, schlafe und iß und laß Dich pflegen, damit ich Dich munter wie diesmal bei den Blumen Deines Fensters finde.
Mit innigem Kuß
Deine Isolde

®Karte¬ aus Firenze vom ®11.12.1923¬

Liebe Marie!
Das war mir eine Freude gestern abend beim Einzug gleich Dein Brieflein hier vorzufinden, gerade als ob ®Sie¬ es Dir eingeben hätte mich bei der Ankunft zu erwarten. Lachen mußte ich ja über Deine Schilderung von Mohls Besuch. Ich kann es mir lebhaft vorstellen, wie der gute beleibte Freund bei der Kaffeevisite den Raum verengt hat. Das leise Sprechen ist eine arge Untugend, gegen die ich ihm wiederholt gepredigt habe. Da er sich in vielen Dingen folgsam hat erziehen lassen, hoffe ich ihm das auch noch abzuge- wöhnen. Was seinen Eindruck betrifft, brauchst Du Dir keine Sorgen zu machen, der hätte gar nicht besser sein können. Er schrieb mir gleich danach einen entzückten Bericht und pries sich ®glücklich¬, die feine bezaubernde Erscheinung des alten Waldfegerleins gese- hen zu haben, und auf der Kaffeevisite ist ihm lange nicht so fatal gewesen wie sie mir gewesen wäre. Gewiß wird er Dich, so oft er nach Stuttgart kommt ganz von selber aufsuchen, auch ohne daß ich ihn schicke... Ich habe es diesmal hier nicht so gut getroffen, wie ich hoffte, weil mein sonniges Zimmerchen vom Vorjahr vergeben ist, und ich würde unter solchen Umständen lieber gleich weiter reisen, wäre es nicht um die treuen geliebten Freunde die ich hier habe und mit denen ich jedes Jahr ein paar Wochen verleben möchte. Den Sprun nach Stuttgart mache ich aber jedenfalls, wenn nicht in den letzten Tagen des alten, so in den ersten des neuen Jahres. Was Du vom Ein- tritt in den Winter schreibst, fühle ich Dir vollkommen nach, mir ists auch immer als würde ich wider Willen vorwärts geschleift, wenns in die kalten dunklen Tage hinein geht.

Schreib mir tapfer drauf los in Deinen Erinnerungen. Wie Dus machst so ists unter allen Umständen recht weil es natürlich ist wie alles was Du sagst und schreibst.
Sei herzlich umarmt von
Deiner Isolde

Karte ®27.Mai ohne Jahr¬

aus München (siehe s.1.1.1919) Liebe Marie!
Ich danke Dir für Deine lieben Zeilen....Jedenfalls halte ich mich vom Rückweg aus Buoch etwas länger in Deiner Nähe auf. Sollte es Dein Samstagsputztag sein so schreib mir schnell eine Zeile ich bin tieftraurig. Mein ®italienischer Freund,¬ der Schutzgeist meines Lebens ®ist tot.¬(Anm.Mo.:Dr.Vanzetti) Er war Mütterleins Abgott, hat sie und mich auf Händen getragen. Nun mußte er sterben ohne daß wir uns wiedergesehen haben. Der wahnsinnige Krieg, der ihm das Herz gebrochen. Mein Haus und Garten die er beschützte sollen mir dieser Tage genommen werden. Es ist ein Leid ohne Trost und Lin- derung, denn es zerschneidet das Leben.

Soeben macht mich mein Kyrios darauf aufmerksam, daß bei der ungewissen Aussicht der Züge und der weiten Entfernung die Zeit jeden- falls zu knapp bemessen sei, und daß nur ein jeweiliges Warten von der einen Seite, von der andern ein aufreibendes Gehetze entstehen würde. Also gebe ich nach und sage lieber: Auf Wiedersehen nach Buoch.
Deine Isolde

10 Briefe

Von Caspart, Marie an Kurz, Marie

Zwischen 1904 und 1911
(weitere Briefe von Caspart, Marie sind nicht im DLA)

(Trauerbrief)

Stuttgart, ®8.Mai 1904¬ 541
Meine liebe Marie!
"Liebende haben Thränen und Dichter Rhythmen zur Ehre der Todten, das ist alles was wir ihnen zu geben vermögen." Dies hat Hermann im Jahre 1837 als Motto über sein schönes tiefempfundenes Gedicht auf meiner lieben Großmutter Tod gesetzt. Und noch heute haben wir nichts mehr als Thränen und Klagen zur Ehre unserer Todten. Darin ®leben¬ sie fort mit uns in unserem tiefen Leid. Wie ein leiser warmer Ton dringt das Mitgefühl der Freunde in unseren Schmerz, wie ein weicher Schleier hüllt es das Grauen des Todes ein. Wir brauchen Mitgefühl. Wir müßten sonst erstarren, nicht wahr?

Ich traure und fühle von ganzem Herzen mit Dir, meine liebe arme Marie. Daß Du diesen Schmerz noch erleben mußtest! Aber Dein ganzes Sinnen und Denken wird doch mit dem Geschiedenen weiterleben, er wird immer bei Dir sein, wo Du auch bist. Je wertvoller ein Leben war desto mehr bleibt uns ja von ihm. Alles gewinnt neue Bedeutung der Erinnerung. Wenn auch im Alter das Gedächtnis schwächer wird - es läßt doch nur äußerlich Gleichgültiges achtlos wieder fallen, aber mit der Kraft der Liebe, die nicht schwächer wird hält das Herz an seinen Lieben fest. Bei all unserem Thun und Lassen hören wir noch die Worte, fühlen ihre Meinung. Die Zeit spielt nur die Äußerlichkeiten, die sie bringt und verschuldet - die Erregungen, die Müdigkeit, alles was uns die Schwere des Lebens, des Berufes zeigt, das schwemmt sie fort, den Kern berührt sie nicht, das reine Gold des Menschen leuchtet desto klarer wieder. Wir können nur äußerlich verarmen, im Innern nicht.

Du glaubst und denkst wohl nicht, wie ich im Herzen mit Euch weiter- gelebt habe. Alles hat mich bewegt was Bedeutendes bei Euch vorging. Von überall her kam mir Kunde von Euch von Freud und Leid. Von Edgars Ruhm als aufpopferndster bewährter Arzt. Von Isoldes Dichterruhm,- da habe ich immer aus eigener, freudig begeisterter Antheil- nahme miteingestimmt. Von Alfred, von Erwin, von jedem auf anderem Wege hörte ich immer wieder Liebes und Gutes. Von Eurer großen Sorge um Edgars Tochter. Von Rosas mancherlei Verlusten und Kummer, alles habe ich mitgefühlt und in mir bewegt.- Nur nicht mit der Feder in der Hand. - Wie freute ich mich auf Isoldes Kommen - von dem mir Luise Kurz sagte - und im Stillen hoffte ich Du kommst mit! Und wie nur? Ist die Reise nun aufgegeben oder werdet Ihr gerade nun die alte Heimat aufsuchen? Ich will Isolde alles was ich weiß von Hermann mittheilen, sie soll nur fragen wie und was?

Schon nach Helenes Tod wollte ich Dir schreiben, wie hat uns dieser erschüttert! Da war Edgar der treusorgende Freund. Das alles habe ich mit durchempfunden. Wir Alten sehen das noch blühende Leben scheiden!- Wie traurig!

Jedes von Euch wird besonders um Edgar trauern, jedes hat in ihm gewiß Unendliches verloren, er war so vielseitig, so beliebt, be- gabt, mitfühlend.-

Bitte sage auch der armen lieben Rosa meine innigste Theilnahme. Ihr ist es, glaube ich, nicht gegeben sich zu äußern, zu geben wie sie fühlt. Solche Naturen leiden darum nicht weniger, oft desto mehr, "wenn ein Gott ihnen nicht gibt zu sagen, was sie leiden."- Wie nahe rücken mir nun alte Zeiten, wo Du und Hermann so treulich mit mir litten. Komm, meine Liebe, daß wir Dir Deinen schweren Schmerz mittragen helfen.

In alter treuer Liebe, Dich mit Deinen Lieben treulich grüßend, in inniger Theilnahme
Dein Waldfegerlein
Stuttgart, ®26.3.1911¬ 553
Meine liebe Marie!
Schon lange wollte ich Dir sagen wie michs freute von Deiner Luise gehört zu haben, daß Ihr Euch in München ein eigenes Nest- chen bauen werdet. Wenn Du auch immer noch und wieder nach Deinem Sonnenlande strebst und ziehst, so ist es doch gut auch ein war- mes Winternest zu haben mit einem guten Ofen. Ich wünschte Dir eine so gut durchheitzte Wohnung wie ich sie habe. Heute konnte man sie wieder besonders gut brauchen, denn der Schnee fiel in großen dichten Flocken stundenlang vom Himmel nach den schönsten Frühlingstagen. Aber es war doch ein köstlicher Sonntag den ich ganz und gar durchlesen habe, was mir selten so anhaltend vergönnt ist. Ich habe den "Lazarus" nun ganz durchgegangen, war also in großer Gesellschaft, wobei einem jeder Einzelne, nach seinen inneren Werte vorgestellt wird, was einem die bunte Gesellschaft besonders interessant macht. Ja, Lazarus war sehr befreundet mit Heyse dem er viele gute Dienste leistete. Weißt Du was sie später getrennt hat? Es scheint ein Mißverständnis und Mißtrauen von Heyse? -

Nun soll ich ein geliehenes Buch schnell lesen: "Im Schatten der Titanen" von Lilly Braun. So gedrängt mag ich es gar nicht lesen, kann auch nicht, es läuft ja vieles dazwischen. Manchmal bin ich auch müde und unlustig und habe Rückenschmerzen.

Wie ist´s denn nun bei Euch? Sind die jungen Leute nach Dresden übergesiedelt? Oder Du zu Isolde? - Ich kann nicht zu Isolde adressieren, ich weiß ihre Adresse nicht.-

So oft ich den Namen des Schweizer Hermann Kurz lese ärgere ich mich. ®Von¬ ihm habe ich nichts gelesen.

Marie Flattich hat eine Fastnachtsgesellschaft mitgemacht bei ihrer Tochter Maja bis morgens 3 Uhr in einem weißen Batistkleid mit einem holländischen Häubchen und mit langen Locken. Ein alter Herr, Musikschriftsteller habe gerufen als sie ins Zimmer kam: "Freude schöner Götterfunke, Tochter aus Elysium." Das heißt noch lebensvoll sein, da sind wir lahme Schildkröten daneben.- Hoffentlich seid Ihr beide wieder gesund, der April ist ja nahe. Was ich diesen Sommer tue weiß ich nicht. Er ist auch noch weit weg. Ernst Meinicke will, ich soll ihn besuchen in Hagen in West- falen. Ist das nicht lieb von ihm, daß er die alte Tante bei sich haben will? Er ist ein treuer Junge.

Wenn Ihr zu Eurer Behausung noch ein gute verständige Dienerin hättet, wie wollte ich mich freuen! Luise meint ja eine solche zu wissen. Josephinen gibts kaum noch. Nun, meine Liebe, sei innigst mit Isolde umarmt von
Deinem Waldfegerlein
(letzter Brief mit Datum) Ende der Mappe >s13 >s101 Stuttgart, den ®4. Januar 1911¬ 552a Meine liebe Marie! (betr. Maria Casparts 80. Geb.) Endlich, endlich. Ja ich muß weit ausholen, wenn ich Dir sagen will wie oft ich Dir schreiben wollte, und wie der Wille immer wieder verschlungen wurde vom Tage und vom Unwohlsein. Ich wollte Dir schreiben, wie ich Deine Luise in ihrem ersten Schmerze, nach dem Tode des Bruders sah, und wie sie da- trotz dem Jammer - wieder ganz die alte, liebevolle war, nicht mehr die starre Jungfer? Der Schmerz hatte sie wieder wachgerüttelt. Seither sah ich sie nicht wieder.- Dann wollte ich Dir schreiben nach meinem 80. Geburtstag, der ge- feiert und gefestet wurde. Unsere Vorsteherin hat schon Tags zuvor das ganze Frauenheim zu sich eingeladen, und ihre schönen Räume zur Verfügung gestellt in der Stadt; weil die Jüngeren des Hauses allerlei Aufführungen machen wollten. Zuerst gabs Musik (Klavierspiel), dann las Frl. Härrig das Wald- fegerlein und einen Teil noch vom Gassenfegerlein vor, dann einen Übergang zur Gegenwart und wieder den richtigen Schluß. Das war hübsch. Dann kamen Bilder zu sehen, d.h. voran ich und dann noch verschiedene andere vom Heim, wurden in einen langen leeren Rahmen gestellt und mit humoristischen Versen, als Bilder gezeigt. Ein "Wassermännlein" kam dann, das mir frisches Wasser vom Schwarzwald brachte, zur Erhaltung der Jugend. Und zuletzt bekam ich noch einen wunderschönen Kranz von Pensées, die bei uns "Jelänger je lieber" heißen, mit Versen, deren Refrain immer "Jelänger jelieber" hieß. Andern Tags kamen dann noch nach und nach etliche 20 Gratulanten und meine kleine Stube sah wie ein Gewächshaus aus mit Blumen, Briefe, Karten, Verse die Menge. Bille Tafel machte auch humoris- tische Verse auf`s Waldfegerlein. Aber am Abend war ich dann ganz "fertig", und konnte andern Tags nicht aufstehen vor Kopfweh und Schwindel mit Herzstörungen. Das dauerte etwa 10 Tage, und war mir dann immer noch nicht wohl. Daneben breitete sich ein tragisches Leiden und Sterben von Julie Springer vor, meiner nächsten Zimmer- nachbarin, mit der ich nun 15 Jahre Türe an Türe gewohnt habe, in guter Freundschaft. Das hat natürlich alles andere ausgelöscht, und ich habe seit vielen Wochen hauptsächlich dieses Absterben vor Augen und im Herzen gehabt. Zwischen Weihnachten und Neujahr ist sie ge- storben und sie fehlt mir sehr. Es gab keinen Tag im Hause wo wir nicht zusammenkamen.- Und nun hat sich der Schwindel wieder einge- >s102 stellt, was ein unsicherer unguter Zustand ist. - Ist aber nun wieder besser.- Das waren starke Störungen in meinem gewohnten Leben, kein Wunder, daß ich ins Schwanken kam. - Den "Isolde-Lebkuchen" habe ich geschickt, auch ein kleines Wald- fegerlein als "Springerle" war dabei, daß Ihr ein Lebenszeichen von mir haben sollt, bis ich ans Schreiben käme. Nicht wahr, nun verstehst Du, warum ich so stumm war? - Heute kam eine Karte von Irma. In Liebe und Treue Dein Waldfegerlein aus Mainz. Es ist so lieb, daß sie immer wieder an mich denkt. Seid nun alle herzlich gegrüßt und Euch alles Gute angewünscht fürs Neue Jahr, vor allem gute Gesundheit!