Klaus Mohr
Gerhard Steiff
Beerdigungspredigt
über Jes 49, 14-16 (Friedhof Kilchberg, 27.10.2011)
Beerdigung von Gerhard Steiff
Es gibt Bibelworte, die sich, wenn wir sie lesen, mit Musik verbinden. Weil wir
sie schon oft ge-sungen haben, zum Beispiel. Oder weil wir sie uns in langen
Probenwochen erarbeitet und dann aufgeführt haben. Wir hören mit dem inneren
Ohr die Klänge – und wir spüren in uns die Gefühle und die Schwingungen der
Seele, die sie damals ausgelöst haben. Die Verse, die über dem Abschied von
Gerhard Steiff stehen sollen, haben für mich und für viele hier auf dem
Friedhof so eine Wir-kung. Ich lese uns Jesaja 49,14-16:
Zion spricht: Der HERR hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen. Kann
auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den
Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht
vergessen. Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; dei-ne Mauern sind
immerdar vor mir.
Liebe Susanne, liebe Mirjam, lieber Simon, liebe Hagar mit euren Familien,
liebe Angehörige, liebe große Trauergemeinde!
„Siehe, in meine Hände habe ich dich gezeichnet...“ – dieses Bild ist euch
eingefallen zum Ehe-mann und Vater, es war tatsächlich „mit Händen zu greifen“
in all den Geschichten und Erinnerun-gen, in denen es immer wieder auch um die
Hände von Gerhard Steiff ging. Er hat gern mit diesen Händen geschafft, am Haus
und im Garten, er hat gern etwas bearbeitet, ein Stück Holz zum Bei-spiel oder
einen Flecken Linoleum, der sich unter seinen Händen in einen Druckstock
verwandelte, und dann konnte er davon Abzüge machen, Bilder und Karten für die,
die an Weihnachten mit ihm Musik gemacht haben. Es waren schöne Hände mit
geübten Fingern, selbstverständlich, ob am Flü-gel, an den Manualen der Orgel
oder am Griffbrett seines Kontrabasses, und schön war auch die Handschrift, mit
der er den Text für die einzelnen Stimmen unter den Noten verteilte oder ein
erklä-rendes Vorwort auf eine Partitur schrieb. Er wusste um die Wirkung seiner
Hände, hat das auch gepflegt und geübt, die vielen großen und kleinen Gesten,
mit denen der Dirigent musiziert und mit denen er „Riesenapparate“ von 200
Leuten bewegen konnte: die eine Hand fürs Orchester, die an-dere für den Chor –
und wenn das, was die Hände zeichneten, nicht reichte, dann gab es noch einen
scharfen Blick, eine stumme Aufforderung zum pointierten Sprechen oder zum
fortissimo, je nach-dem.... – und am Ende dann ein zufriedenes Lächeln, oder auch
ein knitzes, dann nämlich, wenn die Musik für ihn nicht nur schön anzuhören
gewesen ist, sondern auch etwas zu sagen hatte, wenn er wußte: „Jetzt habe ich
ein Ausrufezeichen setzen können, habe meinen Teil beigetragen zur
Ver-kündigung, habe das ausgerichtet, was jetzt dran ist in der Kirche“ – wie
ein Prophet, wie jener Je-saja, der ein scharfer Analytiker seiner Zeit und
ihres Glaubens gewesen ist, und Gottes Wort dazu gesagt hat.
Es gibt in unserer Landeskirche einige, die mit einer soliden
kirchenmusikalischen Ausbildung Pfarrer werden. Ungewöhnlich ist dagegen der
umgekehrte Weg: Dass ein Theologe die klassische Laufbahn mit Seminar und
Stift, Vikariat und unständigem Dienst abbricht, um – nach einem
re-kordverdächtig kurzen Studium – seiner Begabung zu folgen und Kantor zu
werden. Aber Gerhard spürte, daß er mit Musik mehr Menschen erreichen und mehr
in der Kirche bewegen konnte als im Talar. Ich bin nicht die Einzige, die in
ihm mindestens so sehr einen theologischen Lehrer hatte wie einen
musikalischen, und es gefiel ihm durchaus, wenn er in einem Atemzug mit den
Großen der Evangelischen Theologie genannt wurde. Es war ja immer sein
Anliegen, den Weg der Kirche auf seine Weise kritisch-konstruktiv zu begleiten;
bis hin zu den Impulsen bei der Einführung des Evangelischen Gesangbuchs vor 15
Jahren.
Dabei war er selbst ein sehr guter und der wissenschaftlichen Theologie stets
verpflichteter Predi-ger, dem das Spiel mit der Sprache lag, der gewissenhaft
Form und Inhalt des Gottesdienstes be-dachte und von der Liturgie her seine
Motetten-Programme plante, am Kirchenjahr ausgerichtet und dem gemeinsamen
Auftrag verpflichtet, so, wie er ihn verstand. Wer ein Ohr dafür hatte (und
davon
gibt es ja in Tübingen nicht wenige), der bekam freilich auch die Kommentare
mit, die von der Or-gel kamen, wenn dem Kantor in der Predigt etwas
Wesentliches gefehlt hatte. Wenn er aber in den Theologen, mit denen er zu tun
bekam, ein kongeniales Gegenüber fand, Gesprächspartner auf Au-genhöhe, dann
konnten in der Zusammenarbeit wunderbar wegweisende Werke entstehen, so wie das
Blumhardt-Oratorium von 1999, „Salz für die Erde“, eine Komposition für den
letzten Stuttgar-ter Kirchentag.
Das war freilich schon im „zweiten Leben“ des Gerhard Steiff, nach dem
Aneurysma 1984. In vie-lem, was wir beim Gespräch am letzten Sonntag gestreift
haben, spielte es eine Rolle, dieses „Davor – Danach“. Davor: Da drehte sich
alles um seinen Beruf, die vielen Termine, die der Dienstauftrag als
Stiftskirchen-Kantor vorgab, die intensiven Probenphasen, die Konzerte. Danach:
25 Jahre, in denen ihr alle mit seiner Krankheit gelebt habt, irgendwie, mit
der Angst um ihn und am Ende auch mit der Hilflosigkeit gegenüber den
Spätfolgen. Davor: Pflichten und Kompromisse – danach: Die Freiheit, „seine“
Musik zu machen zusammen mit anderen, die ihn inspirierten und von denen er
sich verstanden fühlte. Aber egal, ob davor oder danach – immer war die Musik
wichtig, nein, am wichtigsten, denn durch sie konnte er ausdrücken, was ihm zu
sagen schwer fiel, durch sie konnte er verständlich machen, was ihm wichtig
war. Es war das gemeinsame Musizieren, über dem ihr beide euch gefunden habt,
und daß du, liebe Suse, bei allen seinen Projekten erste und wichtigste
Ratge-berin warst, wurde allen anderen spätestens dann klar, wenn beim Fest
nach einem Konzert die höchst-persönliche Aufarbeitung auf die Bühne kam.
„Natürlich“ haben alle Kinder nicht ein, son-dern mehrere Instrumente spielen
gelernt; früh musste man Noten lesen können, um registrieren zu dürfen,
gemeinsam wurde musiziert und gesungen, und wenn es nötig war, dann schrieb der
Vater für Hagar einfach eine Paukenstimme dazu, damit jedes Kind etwas zu tun
hatte beim Probenwo-chenende. „Alle Knöpfe drücken“ durfte Simon beim
Orgelnachspiel im Taufgottesdienst, „bis des Kindle wach wird“, später dann
Oboe spielen in den in den Orchestern des Vaters und über Barocke
Aufführungspraxis diskutieren. Die Studentin hört Hindemiths „Flieder-Requiem“
und sagt dem Vater hinterher: „Das ist ein Stück für dich, das musst du
unbedingt mal machen.“ Und Gerhard Steiff organisiert sich die Noten, plant und
probt und erzählt stolz dem Chor, daß seine Mirjam da ganz recht gehabt habe.
Selten fand er Zeit für gemeinsame Unternehmungen, und es geschah auch nicht
oft, daß er einem mit der Hand über den Kopf strich – aber wenn er es doch tat,
dann so, daß man es nicht mehr ver-gessen würde. Wenn, dann richtig. Mit ganzer
Aufmerksamkeit, mit liebevollem Stolz, ja, und auch mit Dankbarkeit für die
Zeit, die ihm „danach“ geschenkt worden war. Er habe, so sagt ihr, den Tod
nicht gefürchtet. Aber er war gern bei seiner Familie, freute sich an seinen
Enkelkindern und ging auf in seiner Musik.
– Die „Kilchberger Totenlieder“ und das „Kilchberger Liederbuch“, aus denen
heute gesungen wird, entstanden überhaupt erst seiner Frau zuliebe: „Wenn ihr,
die ihrs könnt, uns keine schönen Sätze schreibt, dann dürft ihr auch nicht
schimpfen, wenns euch nicht gefällt.“ Hatte die gesagt. Und er hat die Sache in
die Hand genommen, wie sonst auch: Der Musikpädagoge und theologisch geschulte
Komponist besorgte singbare Sätze der in seinen Augen wichtigsten Lieder „im
alten Stil“ für den Kilchberger Frauenchor und widmete die Sammlungen der
Chorleiterin Susanne Steiff. Wenn du im „Café Dobler“ mit den
Untersuchungshäftlingen Gottesdienste gefeiert hast, saß er am wenig
geschätzten E-Piano und erzählte hinterher so begeistert-bewundernd und voller
Hochach-tung von deiner Arbeit dort, daß ich als Vikarin unbedingt bei dir in
der Gefängnisseelsorge hospi-tieren musste. Auch da hatte er also seine Hände
im Spiel...
„Siehe, in meine Hände habe ich dich gezeichnet.“ Yad Vashem, die israelische
Gedenkstätte für die Opfer des Holocausts, hat ihren Namen von diesem
Prophetenwort: „Hand und Name“: Das Zeichen, daß etwas bleibt von einem Leben,
dass einer nicht vergessen sein wird und aufgehoben ist in der Hand Gottes,
ganz gleich, wie verlassen er selbst sich fühlt von Gott und der Welt.– Gerhard
Steiff hatte ein starkes Gespür für Zeichenhaftes, vielleicht, weil er selbst
gezeichnet war von den großen Operationen und den vielen Kämpfen.
Konzertprogramme setzten Ausrufezeichen, wenn sie der Versuchung widerstanden,
nur „schöne Töne“ aneinanderzureihen. Ungewöhnliche Auffüh-
rungsorte wurden zu Zeichen der Versöhnung und der Verständigung. Kompositionen
zu biblischen Themen wirkten zeichenhaft wie Warnschilder an einer gefährlichen
Kreuzung. (War es Zufall, daß am Tag nach seinem Tod landauf, landab in den
Kirchen über Mk 10, 17-27 gepredigt wurde, dem Text, der den „Kamelen“ zugrunde
lag?) Wir finden Zeichen, die er in die Noten schrieb, die Clus-ter zB, die die
reinen Koloraturen aufbrachen und den SängerInnen zeigten, daß Freiheit auch
eine Zumutung sein kann, harte Arbeit, anstrengend und schwer erkämpft. – Und
schließlich setzte er gerne sichtbare Zeichen, auch mit seinen Händen: Was
Segen bedeutet, hat er euch in ein Stück Holz geschnitzt, und es war das Kreuz,
das er mit wenigen Handgriffen formte.
„Siehe, in meine Hände habe ich dich gezeichnet“. Dieses Propheten-Wort ist oft
vertont worden, u.a. von Heinrich Schütz und Andreas Hammerschmidt:
Chorrepertoire. Auch von Johann Hermann Schein gibt es eine Motette dazu, im
„Israel's-Brünnlein“. Gerhard Steiff hat sie sehr geliebt; zu-mindest hat er
sie öfter aufgeführt. So, wie er einer Welt, die sich von Gott abgewendet hat,
den Anspruch eines gottgemäßen Lebens auch zornig entgegenhalten konnte, so
wichtig war es ihm umgekehrt, der Klage derer, die sich von Gott ganz und gar
verlassen fühlten, die Zusage des auf immer liebenden Gottes entgegenzusetzen.
„Zion spricht: Der Herr hat mich verlassen...“ – die Musik zu den Worten fängt
den Kummer ein und das Vergessen, das ja auch ein Segen sein kann.
Es ist gut, wenn wir etwas auch aus dem Gedächtnis verlieren können – daß wir
die Tage vergessen können, an denen wir uns von Gott verlassen fühlten. Daß ihr
vergessen könnt, wie aufreibend der Alltag in der letzten Zeit gewesen ist und
wie kräftezehrend die Jahrzehnte der Sorge. Daß eure Erinnerung nicht bei dem
stehenbleibt, was belastend war, auch nicht an den Bildern der letzten Tage vor
seinem Tod. Daß ihr wieder zu Kräften kommen könnt, in aller Ruhe.
Dafür steht die Verheißung am Ende. Gott sagt: „Die Namen, die ich mir in die
Hände geschrieben habe, die halte ich mir vor Augen, die vergesse ich auch im
Tode nicht, die sind auch ins Buch des Lebens geschrieben, durch die Taufe
haben sie Heimatrecht in der neuen Welt, die ich schaffen werde.“ Das ist das
Zeichen, das Gott setzt mit seinen Händen, die große Zusage für seine
Geschöp-fe, die Kinder, die er nicht vergisst, auch wenn sich niemand mehr an
sie erinnert, wenn niemand mehr erzählen kann, wie es früher war und wie euer
Großvater gewesen ist, der auf andere oft streng und ernst wirkte, obwohl ihm
doch oft der Schalk im Nacken saß. - In Gottes Hände wurden unsere Namen
geschrieben, er wird sich an uns erinnern, wenn alles, was wir waren und
geschaffen haben, längst vergessen sein wird.
Wer im Biblischen Sprechen zuhause ist, der weiß: Gottes Hände sind die Hände
des Auferstande-nen. Sie tragen die Wundmale, an denen die Jünger ihn nach
Ostern erkannt haben und wußten: „Der Tod ist besiegt.“ Christus ist
auferstanden. Nachher werden wir das singen. „Siehe, ich bin bei euch alle Tage
bis an das Ende der Welt.“ So sagt es euer Trauspruch. Und: „Siehe, in meine
Hände habe ich dich gezeichnet.“, spricht Gott, der Herr. In seinen Händen ist
Gerhard Steiff in Ewigkeit geborgen. Amen.
Pfarrerin Gerlinde Feine